Türchen 6: Liverpool – Roma 1984
Die für lange Zeit letzte große Liverpooler Sternstunde im Jahr von der Heysel-Tragödie.
Fünf Finals innerhalb von neuen Saisons (davon vier Siege) – das ist eine der historisch besten Bilanzen der Champions-League-Geschichte. Aufgestellt wurde sie von den legendären Liverpool-Teams zwischen 1977 und 1985. Ihr Ende fand diese internationale Erfolgsphase mit der Niederlage gegen Juve 1985, die von der Stadionkatastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion mit zahlreichen Toten und Verletzten überschattet wurde. Im Jahr zuvor hatte Liverpool noch geglänzt beim Titelgewinn gegen die AS Roma und viele der eigenen Erfolgsrezepte klar gemacht. Auch wenn die „Reds“ 1984 das Elfmeterschießen zum Sieg brauchten, trat das Team von Trainer Joe Fagan eindrucksvoll und mit viel Spielkontrolle auf.
Liverpools asymmetrische 4-3-3/4-4-2-Mischung gegen di-Bartolomei-Fokus
Entscheidend dafür war die Grundstruktur der Mannschaft, eine asymmetrische Mischformation aus 4-4-2 und 4-3-3. Der linke Flügel wurde gegen den Ball von wechselnden Spielern besetzt. Prinzipiell teilten sich Dalglish und Rush diese Aufgabe auf, aber situativ stopfte auch Whelan aus dem defensiven Mittelfeldzentrum dort Räume. Typischerweise positionierten sich Dalglish bzw. Rush nicht wie klassische Außenstürmer, sondern höher, aber doch mit Kontakt zum gegnerischen Rechtsverteidiger. Häufig standen sie bei Ballbesitz der Innenverteidiger vor ihm, machten ihn also zu, während den Innenverteidigern selbst mehr Raum verblieb. Diese linksseitige Stürmerposition bei Liverpool vor zwei zentralen Zehnern bot der Roma tendenziell die andere Seite an.
Allerdings gestaltete sich der Spielaufbau der Römer nicht allzu rational, auch wenn er vielversprechend strukturiert war. Zunächst einmal passten besonders die Rollen der beiden brasilianischen Achter von der Grundidee gut zu den Spielertypen. Der unter Druck unsaubere und wenig spielmachende Cerezo durfte halbrechts frühzeitig in die Offensivzonen vorschieben, um dort seine physischen Qualitäten, sein Bewegungsspiel und seine technischen Kabinettstückchen einzubringen. Demgegenüber versuchte sich der äußerst komplette Falcão von halblinks vielfältig im Aufbau- und Übergangsspiel einzubinden. Er lief sich oft nach außen frei und besetzte mehrfach in flachen Positionen den Linksverteidiger-Raum.

Aufbauszene der Roma: di Bartolomei abgekippt, Falcão nach links gewichen. Auch Liverpools verschobene 4-4-2/4-3-3-Defensivlogik ist angedeutet. Obwohl Rush vor und ziemlich nah an Nappi spielt, sucht di Bartolomei ihn mit einem Chipball, auf den Rush gut nachjagt. Am Ende gewinnt Souness den Ball durch (verrückt weites) Nachschieben gegen Cerezo.
Gerade diese interessanten Ansätze eines Herauskippens wurden aber nicht systematisch zu Ende geführt. Primär liefen sie als reine Positionswechsel ab, da der Linksverteidiger nicht hochschob, sondern den linken Sechserraum übernahm. Aber vor allem wurde Falcão in seiner angepassten Position schlichtweg fast nie angespielt. Überhaupt lag darin ein Problem bei den Römern: Die Aufbauspieler übergingen zu oft die verschiedenen Freilaufbewegungen Falcãos und waren sehr stark auf Kapitän und Sechser di Bartolomei fokussiert. Dieser zog das Spiel an sich, indem er abkippte und sich oft direkt vor den Innenverteidigern den Ball abholte.
Die Roma sucht den zugestellten Rechtsverteidiger
Aus den abgekippten Positionen versuchte di Bartolomei das Spiel zu lenken und die Angriffe zu organisieren. Zumeist operierte er mit weiträumigen, präzise gespielten Diagonalbällen, die das Spiel seines Teams stark prägten. Allerdings neigte er – und ebenso sein rechter Innenverteidiger Bonetti zu manch willkürlicher Entscheidung. Dies machte sich gerade gegenüber der asymmetrischen Dalglish- bzw. Rush-Rolle bemerkbar. Mehrmals spielten die freien Aufbauspieler der Roma Rechtsverteidiger Nappi an der Seitenlinie mit einem Chip-Ball an, obwohl der flache Passweg auf diesen zugestellt war.
So lange wie die Zuspiele in der Luft waren, konnte Liverpools asymmetrischer Stürmer nachjagen und Druck machen. Vor allem Rush ging immer wieder mit hoher Intensität in die Duelle und eroberte einige Bälle. Durch die unbedachten Zuspiele auf blockierte Optionen am Flügel gab die Roma viele Ballbesitzmomente leichtfertig weg. Durch das Zentrum lief gegen Liverpools anpassungsfähiges 4-4-2/4-3-3 noch weniger. Da erste und zweite Defensivlinie versetzt voreinander standen, sicherten sie sich dadurch gegenseitig die Schnittstellen. Liverpool eroberte fast jeden Ball, den der Gegner in die Formation hineinspielte – zumal der Roma dort angesichts der breite Flügelstürmern, des Abkippens von di Bartolomei und des häufigen Ausweichens oder Herauskippens von Falcão dort ohnehin nicht mehr viele Optionen hatte.
Ballferne 2gegen1-Überzahlen mit Überraschungseffekt
Eine Geheimwaffe brachte der Roma aber gerade in der Anfangsphase zwischendurch einzelne Angriffe ein, die direkt zu großen Chancen führten – die ballfernen Vorstöße von Linksverteidiger Nela. Bei Ballbesitz Bonettis oder di Bartolomeis im rechten Halbraum traute sich Nela einige Male, auf dem anderen Flügel hochzuschieben, um Lee zu überraschen und ein 2gegen1 mit Graziani gegen Neal herzustellen. Weil er diese Läufe, wenn er sie unternahm, enorm explosiv startete, konnte er damit ihren potentiellen Überraschungseffekt sehr weit ausschöpfen.

Nach einem weiteren Chip-Ball auf Nappi, den dieser sehr gut hatte sichern können, und einem Rückpass auf Bonetti (weil Dalglish den Diagonalball ins Zentrum schließen wollte und dafür den Rückpass zuließ) kann di Bartolomei wieder aus dem Zentrum heraus verteilen. Rush versucht noch nachzuschieben, aber trotz des zweiten intensiven Laufes ist der Weg zu lang. Nela erkennt die Situation super aktiv und startet ballfern brachial hoch, um 2gegen1 gegen Neal herzustellen. Graziani zieht gut in die Schnittstelle und erhält den Ball nach starkem Dropkick-Kontakt von Nela.
Besonders vielversprechend waren diese Aktionen ausrechnet im Anschluss an die eigentlich problematischen Anspiele auf den blockierten Rechtsverteidiger sobald dieser sich durch eine gelungene Einzelaktion hatte befreien und den Ball per Rückpass hatte sichern können – was Nappi mit der Zeit zwei oder drei Mal gelang. Schlugen Bonetti oder di Bartolomei den Diagonalball unter diesen Umständen also klar gegen die Verschieberichtung Liverpools, wurde das Muster nochmals gefährlicher. Graziani attackierte in dem 2gegen1 schnell die große Schnittstelle zwischen Neal und Lawrenson, der lange innen blieb, dann allerdings spät mit heftiger Beschleunigung noch durchschob. Angesichts der entstehenden (aber allesamt vergebenen) Torchancen war es überraschend, dass Graziani und Conti schon recht früh in Halbzeit eins die Seiten tauschten.
Liverpools gefälliges Mittelfeldspiel mit wenig Durchschlagskraft
Trotz der Durchbrüche ging der Roma im Gesamtbild mit den vielen Diagonalbällen aber doch zu viel Ruhe aus dem Ballbesitz ab. Davon brachte Liverpool deutlich mehr auf den Platz – ein weiterer wichtiger Baustein für die ausgeprägte Spielkontrolle zusätzlich zur anpassungsfähigen Defensivanlage. Gegen die 4-3-3-Grundordnung der Roma profitierte Liverpool zudem davon, dass der eigene Sechserraum vom Gegner offen gelassen wurde. Weil die Flügelstürmer etwas höher blieben als die drei Mittelfeldakteure und dadurch größere vertikale Abstände ließen, verstärkte sich der Effekt. Vor allem der emsige Souness durfte sich im Raum hinter der Sturmreihe austoben und kurbelte mit einigen attackieren Dribblings an.
Überhaupt konnte Liverpool die zentralen Bereiche direkt vor dem gegnerischen Block von fast allen Positionen aus besetzen. Beide Außenverteidiger unternahmen gelegentlich, typischerweise ballfern startend in Verlagerungsszenen, diagonale Läufe nach innen in die Halbräume. Neal verkürzte ein paar Mal geschickt die Abstände zu den ersten Gegenspielern, die dadurch länger gebunden werden konnten. Darüber hinaus ließen sich abwechselnd Dalglish, Johnston und Lee in unterschiedlichen Konstellationen zu Souness zurückfallen, um Kombinationsmöglichkeiten in Ballnähe zu schaffen.
So spielstark und flexibel Liverpool damit wirkte, so viel Luft blieb letztlich im Ausspielen zum letzten Drittel – und die Fluidität damit oft ein Muster ohne Wert. Bereits der grundlegenden Entscheidungsfindung ging oft die Tororientierung ab. Bei den zahlreichen Dribblings steuerten die Spieler oft sehr willkürliche Zonen an und ließen sich vom recht kompakten Römer Rückzug ins Abwehrpressing nach außen leiten. Auch etwaige Tiefenläufe waren nicht immer klug gewählt und attackierten mehrfach genau jene Räume, in denen der Gegner gerade über eine stabile Absicherung durch nah anschließende Verteidiger verfügte.
Aus der spielerisch gefälligen Anlage strahlte Liverpool daher nicht die übermäßige Torgefahr aus. Nach eine frühen Führungstor war dies zumindest über die erste Halbzeit auch nicht mehr nötig. Beim Treffer selbst kamen die Überladungsmöglichkeiten der Mischformation in Ansätzen zum Zuge, zunächst bei einer Rotation von Lee und Johnston für das Aufrücken am Flügel und dann durch die Doppelbesetzung des zweiten Pfostens durch Dalglish und Rush. Torschütze war Rechtsverteidiger Neal, der das Sturmzentrum übernahm und den Abpraller verwertete. Unmittelbar vor der Pause glich die Roma durch einen glücklichen Flügelangriff aus, der gegen Liverpools klare Überzahl nur deshalb nicht scheiterte, weil ein zweiter Ball zu Conti zurücksprang.
Hansen und Lawrenson brechen Cerezos 4-4-2-Übergang
In jedem Fall liefen die „Reds“ fast nie die Gefahr von unangenehmen Ballverlusten und erlaubten dem Gegner kaum Zugriff. Die zwischenzeitlichen Versuche der Roma, die gegnerischen Freiheiten im Sechserraum zu unterbinden und mehr Druck auf den Aufbau auszuüben, liefen stets ins Leere, auch wenn sie nicht schlecht gedacht waren. Aus dem 4-3-3 heraus sorgte Cerezo für dynamische Übergänge in ein 4-4-2, indem er von der rechten Achterposition in eine rechte Stürmerposition aufrückte – ein Move, der sich Anfang der 2010er-Jahre einmal weiter Verbreitung erfreute. Die Orientierung Cerezos galt also erst einmal weniger den gegnerischen Sechsern und mehr den Innenverteidigern.
Das hätte – selbst mit den nicht optimalen Abständen, die die Wege weit werden ließen – gegen damalige Gegner gut und gerne funktionieren können. Es scheiterte aber am strategischen Geschick des Abwehrduos von Liverpool. Lawrenson und vor allem Hansen agierten sehr aufmerksam, antizipierten Cerezos Sprungposition und erkannten klug, wann sie Querpässe bedenkenlos spielen konnten und wann sie sie unterlassen bzw. damit warten mussten. Wenn sie die Situation über den Torwart beruhigen mussten, griffen die zielsicher zum Rückpass.

Dieses gute Timing ermöglichte Hansen, einige Herausrückbewegungen direkt nach vorne zu überspielen, wenn Cerezos Pressingversuch nicht rechtzeitig erfolgte. Dafür besetzten wiederum Liverpools Mittelfeldspieler gut die Schnittstellen zwischen den verbleibenden Mittelfeldspielern und den Flügelstürmern. Obwohl Graziani und Conti als Reaktion auf Cerezo diszipliniert nach hinten arbeiteten und sich im Verbund mit Falcão und di Bartolomei zusammenzogen, mussten sie sich gegen die gelungenen Offensivstaffelungen damit begnügen, Aufdrehen zu verhindern, und die Kompaktheit nach hinten wieder aufrecht zu erhalten. Die „Reds“ hatten daraufhin die Chance auf öffnende Anschlusspässe – nur, dass sie diese strategisch wiederum nicht optimal nutzten. Damit ergab sich erneut das typische Bild: Liverpool blieb sicher am Ball, konnte den Gegner laufen lassen, der aber zumindest zum eigenen Drittel hin weitgehend seine Stabilität rettete.

Fortsetzung der obigen Szene: Die Mittelfeldreihe der Roma zieht sich aber gut zusammen und zwingt Johnston zusammen, der den Ball sichert und sofort auf Souness ablegt, so dass Liverpool zumindest den geöffneten Flügel attackieren kann, wenn auch mit einem sehr steil gespielten long-line-Ball von Neal.
Kleinere Umstellungen bei der Roma
Im Laufe der Partie war der geringe Zugriff der Roma auf die gegnerischen Ballbesitzmomente nicht mehr ganz so gravierend, weil die eigenen Ballbesitzphasen sich intensivierten. Liverpool war mit der frühen Führung zwischenzeitlich bis zum Ausgleich passiver geworden und hatte danach nicht mehr ganz die Intensität, um die eigene Defensivformation auf Zweidrittelhöhe aufzubauen. Die „Reds“ mussten eher rund um die Mittellinie verteidigen, wo die asymmetrische Position von Dalglish bzw. Rush nicht mehr ganz so zum Zuge kam.
Dass die Roma weiterhin viel über die eigene rechte Seite anschieben wollte, passte daher fortan etwas besser. Zudem brachte das Team zusätzliche Unterstützung in jenen Bereich, da Falcão sich nach der Halbzeitpause verstärkt rechtsseitig, quasi von einer rechten Sechstposition (mit Cerezo weiterhin in höheren Zonen, teilweise im selben Halbraum davor), einband und für Überladungsansätze sorgte. Klare Überzahlen oder gruppentaktische Überlegenheit, um zu größeren Chancen zu gelangen, erzielte die Roma nicht, aber zumindest hatte sie mehr vom Spiel als zuvor. Mit Liverpools abnehmender Dominanz war es letztlich nicht ganz ungerechtfertigt, dass es über die zweite Halbzeit hinweg beim Remis blieb, auch wenn Liverpools Ansätze stets ausgereifter wirkten.
Fazit
Einem strukturell sehenswerten und fußballerisch ansprechenden Finale fehlte nur die letzte Qualität im Ausspielen in den Offensivzonen. Wer Beispiele sucht, um das Bild der oftmals für schleppenden Standfußball bekannten 80er-Jahre aufzupolieren, könnte hier fündig werden. Vor allem Liverpool konnte zum Abschluss einer starken Generation, aus der beispielsweise die schottischen Spieler um Souness auf Nationalmannschaftsebene nie ihr nur angedeutetes Potential mit Ergebnissen einlösten, nochmals das Können der zwischen 1977 und 1984 so erfolgreichen Teams präsentieren.

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