Das Timingspiel – MH

Das Timingspiel beschreibt eine Spielphilosophie, bei der der richtige Moment einer Aktion entscheidend ist. Pressingfallen lassen sich damit nicht nur umkehren, sondern auch tief stehende Gegner gezielt ausspielen. In der Premier League brachte der damalige Trainer Brightons, Roberto De Zerbi, diese taktische Herangehensweise auf ein neues Level.

“Brighton is a master of passing the ball to the free man but recognising when to pass the ball to the free man and moving at the right time.” – Pep Guardiola

Die Grundidee des Timingspiels besteht darin, im richtigen Moment auf gegnerische Bewegung zu reagieren. Es besteht die Möglichkeit, Pressingfallen umzukehren, indem im ersten Schritt das gegnerische Pressing ausgelöst sowie manipuliert und im zweiten Schritt das Pressing mithilfe von Dynamik- und Richtungswechseln überspielt wird. Da im gegnerischen Angriffspressing die Dynamik hoch ist, lässt es sich hier besonders gut einsetzen. Folglich lassen sich durch das Timingspiel gegnerische Pressingmomente im eigenen Spielaufbau dominieren. Dadurch, dass Bewegungen des Gegners spielphasenunabhängig getriggert werden können, kann das Timingspiel auch gegen einen tief stehenden Gegner verwendet werden.

Bezüglich der Rolle des Timings im Spielaufbau De Zerbis erklärte René Maric (RM) in einem im Jahr 2023 veröffentlichten Interview gegenüber SkySports:

„The biggest thing in the build-up is the control of rhythm. If you look at Guardiola, he does it with the speed of the passes and then they carry the ball when they don’t have pressure. De Zerbi does it more with the moment of the pass, the lure, the sole on the ball, opening space with the pass rather than the carry. How you control the rhythm and progress through space will be big in the future. That development has already started.“

Im Rahmen dieses Artikels werden die Dimensionen und die Funktionsweise des Timingspiels untersucht. Außerdem wird der Einfluss der eigenen Staffelung sowie die Manipulation bzw. das Antizipieren und Triggern des gegnerischen Pressings (/gegnerischer Bewegung) analysiert. Im Anschluss wird auf die Aktion des Überspielens des Gegners eingegangen und auf entstehende Probleme des Timingspiels sowie mögliche Lösungsansätze hierfür.

Die verschiedenen Dimensionen des Timingspiels

Dieser Abschnitt ist ein Versuch, die verschiedenen Facetten des Timingspiels und des Fußballspiels im Allgemeinen aufzuzeigen. In verschiedenen Spielphilosophien geht es um eine unterschiedliche Priorisierung verschiedener Dimensionen. Im hier beschriebenen Timingspiel wird ein besonderer Fokus auf das Timing der Dynamik in Bezug auf den Gegner gelegt.

Um ein besseres Verständnis für die Prinzipien des Timingspiels zu erhalten, werden im Folgenden verschiedene Dimensionen des Timingspiels aufgezeigt und erklärt. Hier wird deutlich, wie sich das Timingspiel von dem Fokus des Positionsspiels und dem des Relationismus abgrenzt, aber auch kombiniert werden kann. Zwar sind die Spieldimensionen für die praktische Umsetzung des Timingspiels weniger wichtig, sie können allerdings zur Weiterentwicklung dieses Konzepts oder anderer Trainerphilosophien genutzt werden.

Die wichtigste Dimension des Timingspiels ist die zeitliche bzw. temporale Dimension. Entscheidend sind die Schnelligkeit und der Zeitpunkt einer Entscheidungsfindung. Das Timing einer progressiven Aktion sollte grundsätzlich in die Bewegung des Gegners fallen. Im Fokus steht somit vorrangig der Zeitpunkt einer Aktion.

Eine zweite wichtige Dimension ist die der Dynamik. Bei der dynamischen Dimension des Timingspiels geht es um Explosivität und Rhythmusveränderung. Dabei können Dynamikwechsel im Verhältnis zum eigenen Spiel, als auch Richtungswechsel der Dynamik im Verhältnis zum Gegner entscheidend sein. Letztendlich ist das Ziel, beim Gegner eine möglichst starke wechselseitige Beschleunigung zu verursachen.

In der Dimension der individuellen Leistungsfaktoren geht es um fußballerische Kompetenzen, wie technische und athletische Fähigkeiten. Im Timingspiel entscheidend ist der Faktor Ballkontrolle, welcher sich auf die Pressingresistenz des einzelnen Spielers maßgeblich auswirkt. Bei der Ballkontrolle geht es sowohl darum, eine Situation erkennen zu können, als auch den Ball jederzeit unter Druck technisch verarbeiten zu können. Im Timingspiel ist diese Fähigkeit besonders entscheidend, da sie für einen Vorteil innerhalb der gegnerischen Pressingphase sorgt.

In der kausal-relationalen Dimension geht es um das Ursache-Wirkungs-Prinzip bei Interaktionen zwischen Mit- und Gegenspielern. Es besteht sowohl ein kausaler Zusammenhang zwischen der gegnerischen Art des Verteidigens und der Art des Überspielens als auch zwischen der Aktion eines Mitspielers und der daraus resultierenden Ballaktion. Zur Verdeutlichung folgt jeweils ein Beispiel:

Im Timingspiel erfordert eine gegnerische Manndeckung im Gegensatz zur gegnerischen Raumdeckung (Ursache) andere offensive Bewegungen (Wirkung). Außerdem erfordert das Entgegenkommen eines Mitspielers (Ursache) einen Pass in den Fuß (Wirkung). Im Relationismus stehen insbesondere Interaktionen zwischen den Mitspielern im Fokus, um ein bestmögliches Zusammenspiel zu ermöglichen. Aufgrund der Komplexität dieser Dimension habe ich hier die Seminare von MR über das Relationsspiel verlinkt.

In der Dimension des Raumes steht die Kontrolle über bestimmte Zonen des Spielfeldes im Vordergrund. Insbesondere im Positionsspiel ist diese Dimension entscheidend, indem das Spiel durch Ball- und Raumbesitz kontrolliert werden soll. Im Timingspiel geht es allerdings darum, in den Raum im Rücken des Gegenspielers zu kommen. Da es ein veränderlicher Raum ist, kann hier eigentlich nicht von einer Spielfeldzone gesprochen werden. Allerdings kommt die Dimension des Raumes im Timingspiel in der vorbereitende Staffelung vor. Zum Thema der optimalen Staffelung in Vorbereitung des Timingspiels gibt es in diesem Artikel noch einen eigenen Abschnitt.

Die Funktionsweise in Abhängigkeit der gegnerischen Pressingformen

Im Timingspiel ist vorrangig der Moment einer Aktion entscheidend. Der Aktionsmoment wird immer durch gegnerische Bewegung ausgelöst. Je intensiver die gegnerische Bewegung, desto einfacher lässt sich der Gegner überspielen. Das hängt damit zusammen, dass nach Auslösung des Timingspiels der Gegner möglichst diagonal gegenläufig zur Bewegung bzw. zum Pressing überspielt werden sollte. Dadurch wird der Gegner zu einem maximalen Richtungs- und Dynamikwechsel gezwungen.

Das Pressing am eigenen Strafraum wird diagonal gegenläufig zur Pressingrichtung überspielt.

Es entsteht ein zeitlicher Vorsprung auf den Gegner, welcher zunächst gegenläufig beschleunigen muss und Zeit verliert. Der im Rücken des anlaufenden Gegners entstehende Raum kann damit am effektivsten bespielt werden. Stellvertretend für die Funktionsweise des Timingspiels könnte das Prinzip „Locken und Schocken“ stehen. Der Gegner wird zunächst in die Bewegung „gelockt“ und im Anschluss durch das Überspielen „geschockt“.

Besonders effektiv ist das Timingspiel während des Übergangs des Gegners von einer tieferen in eine höhere Pressingstaffelung. Im Moment des Übergangs zwischen den geordneten Pressingphasen fehlt häufig die gegnerische Struktur, da sich die Abstände zwischen den Spielern verändern. Zudem ist die Bewegung auf allen Positionen des Gegners vorhanden, welche sich für das Timingspiel ausnutzen lässt. Auch die Richtung der gegnerischen Bewegung ist entscheidend, da im Übergang von einer tieferen in eine höhere Pressingphase vertikale Bewegung, weg vom Tor vorherrscht, wodurch die Räume in gegnerische Torrichtung bespielt werden können.

Dieser spezifische Moment des gegnerischen Pressingübergangs in eine höhere Staffelung lässt sich im klassischen Modell der Spielphasen nach Van Gaal nicht auffinden. Er würde je nach Perspektive in die Phase des eigenen Ballbesitzes bzw. gegnerischen Ballbesitzes eingeordnet werden, obwohl er deutlich komplexer und interessanter ist als andere Ballbesitzsituationen. Der Gegner befindet sich schließlich in einer Art defensiven Umschaltsituation in die Offensive aus dem gegnerischen Ballbesitz heraus, während das eigene Team sich diesen Moment zunutze macht und aus eigenem Ballbesitz in eine Art offensive Umschaltaktion übergeht.

Das Timingspiel funktioniert allerdings nicht nur im Übergang zwischen verschiedenen Pressingstaffelungen, sondern spielphasenunabhängig und somit ebenso im Rahmen des gegnerischen Angriffspressings. Gegnerische Bewegung muss bei gegnerischem Angriffspressing meist nicht zusätzlich getriggert werden. Stattdessen geht es vielmehr um die Antizipation des Auslösemoments des gegnerischen Angriffspressing. Im Moment der Auslösung des Pressings herrscht eine sehr hohe Dynamik auf mehreren Positionen des Gegners in (diagonal) vertikale Richtung, wodurch das Pressing mit geeigneten Bewegungen im Auslösemoment überspielt werden kann. Insbesondere Pressingfallen des Gegners lassen sich im Auslösemoment mithilfe einer entsprechenden im Vorfeld einstudierten Antizipation und Bewegung bespielen.

Je nach den individuellen Pressingabläufen des Gegners sollten Vorbereitungen zum Zeitpunkt und der Art des Bespielens getroffen werden. So lässt sich beispielsweise die Manndeckung im Angriffspressing anders bespielen, als eine ballorientierte oder hybride Deckungsvariante. Insbesondere gegen eine Manndeckung ist es im Timingspiel wichtig, Dynamik beim Gegner durch verschiedenste Läufe zunächst zu provozieren, um im Anschluss diese gegenläufig überspielen zu können. Wird die Dynamik durch eigene Läufe nicht erzeugt, so gibt es vor allem in zweiter und dritter Ebene kaum Bewegung des Gegners, welche sich nutzen lassen würde.

Dadurch, dass Dynamik in der gegnerischen Manndeckung auch in zweiter und dritter Ebene erzeugt wird, können mehrere Ebenen überspielt werden.

Auch die Pressingauslöser bzw. Pressingfallen unterscheiden sich je nach Art des Angriffspressings, sodass zur Antizipation der Momente des Timingspiels eine vorherige Analyse des Gegners notwendig ist. Ein sehr häufig verwendeter Auslöser des Pressings ist ein Rückpass zum Torwart aus einer höheren Staffelung. Eine häufige Reaktion ist, dass der Torwart nun den Ball unter Druck lang schlägt und es resultiert zumeist ein Ballverlust. Im Timingspiel würde eine Mannschaft frühzeitig im Moment des gegnerischen Pressingauslösens durch kollektive Bewegungen Anspielstationen im Rücken des Gegners schaffen. Auf konkrete Bewegungen und Methoden des Überspielens wird im Laufe des Artikels noch ausführlicher eingegangen.

Zu den individuellen Pressingabläufen gehört auch die Pressingstaffelung des Gegners an sich. Auch hier lassen sich individuelle Schwächen im Vorfeld diagnostizieren und ausnutzen. Presst der Gegner aus einem 4-4-2, hat er meist ein unterbesetztes Zentrum. Natürlich lässt sich das nicht pauschal festhalten, da beispielsweise der ballferne Mittelfeldspieler oder ein aggressiver Innenverteidiger situativ das Zentrum verstärken kann. Ist das allerdings nicht der Fall, so könnte im Moment des Pressingauslösens beispielsweise ein inverser Lauf des Außenverteidigers sinnvoll sein, um in den Rücken des Pressings gegen die Dynamik zu spielen. Es lässt sich festhalten, dass das Timingspiel gegen unterschiedliche Gegner mit unterschiedlichen individuellen Pressingabläufen Einfluss auf die Bewegungen zum Überspielen des Pressings hat.

Auch gegen tief stehende Gegner kann das Timingspiel funktionieren. Hier ist es allerdings schwieriger, da grundsätzlich weniger Bewegung weg vom Tor herrscht und der Gegner abwartender attackiert. Das Ziel des tief stehenden Gegners ist es, den tornahen Raum zu schließen. Hier wird es entscheidend, gegnerische Bewegung bzw. das gegnerische Attackieren zu triggern und den Gegenspieler rauszulocken. Auf solche Triggeraktionen werden wir noch detaillierter eingehen.

Zusammenfassend lassen sich die folgende Regeln für das Timingspiel in Abhängigkeit des gegnerischen Pressings festhalten. Je tiefer der Gegner steht, desto weniger Dynamik hat der Gegner weg vom eigenen Tor.  Der Zeitraum des möglichen Überspielens ist folglich kürzer. Je abwartender der Gegner agiert, desto weniger häufig gibt es gegnerische Bewegung. Es gibt folglich weniger häufig die Möglichkeit des Überspielens. Dennoch kann das Timingspiel durch Triggeraktionen spielphasenunabhängig genutzt werden.

Staffelung in Ballbesitz zur Vorbereitung des Timingspiels

Die eigene Staffelung in Ballbesitz sollte an die Herausforderungen des Timingspiels angepasst sein. Sie sollte zentrale Verbindungen schaffen durch eine vertikal/ diagonale Staffelung. So können mehr Ebenen in die Dynamik einbezogen werden und mehr Passoptionen geschaffen werden. Es öffnen sich im Auslösemoment mehr Passfenster durch eine Vielzahl an Passwinkeln. Im Falle eines Ballverlustes lässt sich zudem effektiver gegenpressen.

Zusätzlich kann es sinnvoll sein, mit Asymmetrien und Überladungen zu arbeiten. Eine Überladung der eigenen Aufbauzone ist insbesondere dann sinnvoll, wenn der Gegner zustellt und viel Druck ausübt. Damit wird der Gegner gelockt und kann mit wenigen Pässen überspielt werden. Im Folgenden verlinkten Videobeispiel setzt De Zerbis Shakhtar Donetsk bei einem Abstoß auf insgesamt 7 Spieler im eigenen Strafraum, um den Gegner rauszulocken.

 

Probleme im Timingspiel bei einer Überladung der eigenen Aufbauzone entstehen, wenn der Gegner nicht pressen möchte. Es fehlt die Progression im Spiel, weil offensive Anspielstationen nicht vorhanden sind. Ebenfalls problematisch ist die statische Überladung der letzten Linie. Sollen die Spieler in ihren spezifischen Räumen auf der letzten Linie verbleiben, fehlen die Anspielstationen, die zur Überwindung des gegnerischen Pressings nötig sind.

Eine weitere Möglichkeit einer Staffelung zur Vorbereitung des Timingspiels liegt in dem Verwaisen lassen eines bestimmten Raumes. Sucht der Gegner den Zugriff, so wird dieser Raum zumeist auch vom Gegner nicht mehr besetzt. Im Anschluss kann der Raum aus der zweiten Reihe gegenläufig belaufen und bespielt werden. Wird der Raum dennoch besetzt, so kann die Überzahl in einem ballnahen Raum ausgenutzt werden. Real Madrid spielt häufig mit solchen Staffelungen bzw. Raum aufziehenden Läufen im Vorfeld des eigentlichen Attackierens mit Ball.

Antizipieren und Triggern des gegnerischen Angriffspressings

Im Timingspiel muss der Moment des gegnerischen Anlaufens möglichst früh antizipiert werden. Mögliche Indikatoren zur Früherkennung eines Pressingmoments sind: das gegnerische Anlaufen des ballführenden Mitspielers, die Verkleinerung der Abstände der ballnahen Gegenspieler zu ihren Mitspielern und eine Vorwärtsdynamik des Gegners. Auch Gleichzahl in der Abwehrkette bzw. ein vorstoßender Verteidiger ist ein Früherkennungsmerkmal. Zuletzt gilt es, spezifische Pressingauslöser durch Videoanalyse im Vorfeld zu identifizieren.

Ein beispielhafter Spieler für effektive Pressingresistenz ist Sergio Busquets, der durch eine hervorragende Ballkontrolle regelmäßig Drucksituationen antizipieren und auflösen konnte. In diesem Artikel aus dem Jahr 2017 haben TR und MR über die Qualitäten Busquets geschrieben.

Besonders interessant ist das Triggern des gegnerischen Angriffspressings. Es gibt eine Vielzahl von äußerst interessanten Triggeraktionen. Eine von De Zerbi genutzte Variante ist die Sohle auf dem Ball, um abzuwarten. Hier wird mit der Ungeduld des Gegners gespielt. Das folgende Zitat und Video zeigen eindrücklich die Effektivität dieser Triggeraktion.

“It’s so fascinating to watch (…) when the ball goes to the center back, they freeze the game. (…) As soon as the pressing action happened, they then had this meticulously designed mechanism of up-back-throughs and third man connections (…).” – Jamie Hamilton, 3rd Circle Podcast

 

Eine weitere Möglichkeit ist ein mit der Geschwindigkeit triggernder Pass. Dieser sollte so langsam wie möglich und so schnell wie nötig gespielt werden. Durch den langsamen Pass wird das gegnerische Pressing provoziert. Gleichzeitig kann durch Entgegenkommen des Passempfängers die Dynamik sofort umgekehrt werden. Das erleichtert den Übergang in die überspielende bzw. überdribbelnde Aktion. Die Passrichtung sollte möglichst diagonal in Richtung des eigenen Tors sein. Das fördert die Dynamikumkehr auf ein Maximum.

Eine andere Möglichkeit ist das Spiel in den Druck, um im Anschluss wieder in die Richtung des gegnerischen Pressingwegs rausklatschen zu lassen. Dem Gegner wird zunächst durch das Spiel in den Druck Zugriff suggeriert. Durch das Rausklatschen in Pressingrichtung wird der Gegner dazu gebracht, durchzulaufen.

Die klassische Variante, einen passiven Gegner zur Bewegung zu zwingen, ist das Andribbeln. Der Gegner wird irgendwann dazu gebracht, zu attackieren. Hier ist allerdings auch der Dynamikwechsel und der Überraschungseffekt deutlich schwerer zu erzeugen, weil bereits in Spielrichtung angedribbelt wird. Somit ist es hilfreich, wenn dribbelstarke Spieler den Gegner andribbeln, um mithilfe von schnellen Richtungswechseln die Unvorhersehbarkeit der nächsten Aktion zu wahren. Alternativ können gegnerüberwindende Pässe im Anschluss an das Andribbeln in entgegengesetzter Richtung zum Dribbelweg für den Dynamikwechsel des Gegners sorgen.

Gegen tief stehende Gegner ist die Inside Diagonale ein gutes Mittel, um Verteidiger auf der letzten Linie wenige Meter rausrücken zu lassen. Wird der Ball von außen diagonal ins Zentrum gespielt, rückt der zentrale Verteidiger wenige Schritte raus. Das lässt sich gegenläufig ausnutzen. Verbessert wird der Effekt durch einen den Ball durchlassenden Spieler, da direkt im Anschluss der Rücken des Verteidigers attackiert werden kann. Einen solchen Spielzug nennt man im Relationismus Escadinha.

 

Grundprinzipien für die Aktion des Überspielens im Timingspiel

Nach der Pressingauslösung sollte der Gegner durch dynamische, diagonale Richtungswechsel überspielt werden. Die Richtung der ersten Aktion erfolgt idealerweise nicht aus dem Druck raus, sondern gezielt in, über oder durch ihn, um den Gegner in Bewegung zu attackieren. Statt direkt zum freien Mann (z. B. Torwart) abzulegen, sollte ein progressiver, diagonaler Ball gewählt werden.

Um in der gewünschten Richtung Anspielstationen schaffen zu können, sind spezifische Bewegungen entscheidend. Auch hierzu gibt es verschiedene Grundprinzipien. Der Start der Ballaktion sollte so spät wie möglich und so früh wie nötig sein.

Das Timing der Bewegung der Mitspieler sollte im Moment des Pressingstartes liegen, um rechtzeitig anspielbar für den unter Druck gesetzten Ballführenden zu werden, allerdings nicht zu früh, um den Gegner in der Dynamik zu erwischen.

Dynamik sollte auch in der zweiten und dritten Ebene erzeugt werden, um die Möglichkeit zu haben, mehrere Ebenen zu überspielen. Es entsteht ansonsten das Risiko nachrückender, deckungsschattenerzeugender gegnerischer Spieler aus der zweiten Ebene, welche nicht von der gegenläufigen Dynamik betroffen sind. Bei einem weniger engen Raum hinter der ersten Pressinglinie kann die Dynamik auch stufenweise erfolgen, sodass die Ebenen kurz hintereinander ausgespielt werden.

Es gilt, dass nach einer Aktion in die nächste Ebene durchgestartet werden sollte, um die Dynamik mitnehmen zu können.

Die entscheidende Aktion zur Überwindung des Gegners kann sowohl individualtaktischer, als auch gruppentaktischer sowie mannschaftstaktischer Natur sein. Im Folgenden werden explizite Beispiele solcher Aktionen ausgeführt.

Eine Lauffinte im Moment des Pressingauslösens kann zur Überwindung des Gegners führen. Im verlinkten Video führt Musialas Bewegung im richtigen Moment zum Tor. Auch wenn diese Bewegung wahrscheinlich intuitiv von Musiala im richtigen Moment ausgeführt wird, lässt sich das durchaus taktisch wiederholen. Die Lauffinte fällt in die oben beschriebene Phase des Pressingübergangs von einer tieferen Staffelung in eine höhere Staffelung, weshalb Dänemarks Abstände der Mitspieler nicht passen und die Tiefenabsicherung nicht vorhanden ist.

 

Individualtaktisch kann der erste Kontakt sowohl als Triggeraktion, als auch als Überwindungsaktion genutzt werden. Durch das geschickte Triggern einer Bewegung des Gegenspielers kann es bereits ausreichen, lediglich den Ball am Gegenspieler vorbeizulegen bzw. durch die Beine zu stecken. Der erste Kontakt wird dabei so weit wie möglich und so nah wie nötig vorgelegt, um unmittelbar vor dem Gegenspieler nochmal an den Ball zu kommen. Im folgenden Video ist das direkt zu Beginn bei Woltemades erstem Tor zu sehen.

 

Auch der No-Look Pass kann eine Variante sein, um den Gegner gegen die Dynamik und Laufrichtung zu überraschen.

 

Die Dribblings von Florian Wirtz erscheinen zunächst unspektakulär. Bei der genaueren Beobachtung wird jedoch deutlich, dass Wirtz anstatt mit auffälligen Tricks leichte Verzögerungen anwendet, um Bewegung des Gegners zu triggern und sich im Anschluss den Ball am Gegner vorbeilegt. Auch das ist eine Form des Timingspiels auf individualtaktischer Ebene.

 

Auf gruppentaktischer Ebene eignen sich up-back-through (Steil-Klatsch) Kombinationen, um im richtigen Moment in die Tiefe zu gelangen. Hier ist unter anderem die oben beschriebene Staffelung in Vorbereitung des Timingspiels entscheidend. Es sollten möglichst viele Ebenen besetzt werden, um Passwinkel und Passoptionen zu öffnen. Das Ablagespiel hat den Vorteil, mit einfachen Pässen den Gegner überwinden zu können. Es ist bemerkenswert, wie jeder dieser Pässe gegen die Pressingrichtung des Gegners gespielt wird und der Gegner somit keinen Zugriff auf den Ball bekommt.

 

Auch unterschiedliche Varianten des Spiels über den Dritten sind sehr effektiv. Im folgenden Video lässt sich bei Minute 0:13 die Effektivität am Beispiel des in die falsche Richtung startenden linken Innenverteidigers bewundern.

 

Weitere Möglichkeiten im gruppentaktischen Bereich sind Doppelpässe gegen die Dynamik, Raum aufziehende Läufe, gegenläufige Bewegungen oder auch dynamische Zonenrotationen.

Mannschaftstaktische Varianten zum Ausspielen des Gegners gibt es im Timingspiel ebenfalls. Das Spiel auf den zweiten Ball unmittelbar auf die letzte Kette mit einer entsprechenden Zonenüberladung im Auslösemoment des Pressings wäre eine solche Variante. Die vorbereitende Staffelung ist hier das mannschaftstaktische Element.

Auch eine mannschaftstaktische gegenläufige Bewegung wäre denkbar, in der alle Spieler der vorderen Zonen entgegenkommen und die zu pressende Distanz damit vergrößern, um eine höhere Dynamik herzustellen. Gleichzeitig attackiert ein Spieler aus der zweiten Reihe gegenläufig tief.

Probleme des Timingspiels und Lösungsansätze

Ein Problem des Timingspiels liegt darin, den Deckungsschatten des ersten pressenden Gegners zu überwinden. Dadurch, dass der immer näher kommende Gegenspieler in einem gut vorbereiteten Pressing einen immer größeren Deckungsschatten erzeugt, fehlen die Anspielstationen. Lösen lässt sich das zum einen durch eine individualtaktische Überwindungsaktion, wie ein Dribbling, ein erster Kontakt oder weiteres. Zum anderen bieten sich zur Überwindung des ersten Pressingspielers bestimmte Staffetten an. Eine back-up-back-through Kombination könnte helfen, indem der erste Pass über eine geringe Distanz zu einem nahe postierten Mitspieler gespielt wird (back), um im Anschluss die neu gewonnenen Passwinkel durch eine up-back-through Kombination zu erschließen.

Durch den kurzen Rückpass auf den in der TW-Kette aufgerückten Torwart kann der Deckungsschatten des ersten Pressingspielers umspielt werden.

Ein weiteres Problem könnte entstehen gegen Teams mit einer sehr hohen Pressingintensität. Da es notwendig ist, in den Druck zu spielen und das Pressing auszulösen, ist man dieser hohen Intensität planmäßig immer wieder ausgesetzt. Dennoch kann auch das zum eigenen Vorteil genutzt werden. Gegner mit einer hohen Intensität haben auch eine hohe Dynamik, die sich umso besser gegenläufig bespielen lässt. Zusätzlich ist zumeist eine hohe Spielerzahl des Gegners in den vorderen Zonen. Es empfiehlt sich somit möglichst direkt den ballfernen freien Raum zu attackieren.

Auch das hybride Pressing kann Probleme im Timingspiel verursachen. Da einzelne Spieler in einem bestimmten Raum agieren, um lediglich situativ reagierend den Ball erobern zu können, nehmen diese Spieler nicht unbedingt die Dynamik der pressenden Spieler mit auf. Somit sind sie schwieriger auszuspielen. Allerdings könnten auch hier bestimmte ballferne Laufwege Lösungen schaffen. Ein Beispiel wäre der ballferne, diagonal in die Tiefe startende Außenverteidiger.

Zuletzt gibt es Probleme beim Zustellen des Gegners im Rahmen des eigenen Abstoßes. Hier haben sämtliche Spielphilosophien Probleme, da die Voraussetzungen, aus der Situation herauszukommen, nicht ideal sind. So ist der Ball nicht in Bewegung, der Gegner kann sich sortieren und das Spielfeld ist durch die Torauslinie nach hinten begrenzt. Auch das Risiko ist höher aufgrund der Tornähe. Das Timingspiel würde Dynamik beim Gegner durch verschiedene Läufe der Mitspieler erzeugen, um in den Rücken des Gegners im richtigen Moment zu kommen.

Fazit

Dass Spieler gegenläufig die Dynamik des Gegenspielers im richtigen Moment ausnutzen, kommt bereits vor. Durch eine bewusstere Nutzung kann es allerdings für mehr Spieler zugänglich gemacht werden und noch effektiver gestaltet werden. Es verspricht, sowohl Pressingfallen zu umgehen, als auch tief stehende Gegner auszuspielen. Es ist nicht nur überall auf dem Feld möglich, sondern auch in unterschiedlicher Spielerzahl.

Das hier entwickelte Konzept des dynamischen Timingspiels ist stark auf den Referenzpunkt „Gegenspieler“ ausgelegt. Ebenso möglich wäre ein Konzept des Timingspiels, welches stärker auf den Mitspieler bezogen ist. Hier würde es eher auf relationale Beziehungen der Spieler untereinander ankommen. Dieses Konzept würde dem Relationismus deutlich näher stehen. Mithilfe der aufgezeigten Spieldimensionen lassen sich dementsprechend unterschiedliche Spielkonzepte kreieren und weiterentwickeln.

Das Timingspiel sollte als ergänzendes Element zur Vervollständigung der eigenen Spielphilosophie genutzt werden. Es bietet eine andere Sichtweise auf die taktische Analyse, als es im klassischen Sinn mit sich nicht bewegenden Grafiken (bspw. die Taktiktafel) möglich wäre. Folglich sollte es die Perspektive eines Analysten in diesem komplexen Spiel um eine zusätzliche Dimension erweitern.

Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl. Auf X ist er unter Mh_sv5 zu finden.

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