Türchen 22: Lads, its Tottenham
Das Fundament von „Angeball“
So kurz vor Weihnachten wird bekanntlich gern gesungen, wenn ich darf – gesungen zur Melodie von Robbie Willams „Angels“:
„So when I am lying in my bed, thoughts running through my head
and I feel like love is dead, I am loving Big Ange instead.
And through it all,we ll play the way we want to
with Big Ange Postecoglou
whether I am right or wrong.
It is Big Angeball, whether it is Pochettino, Conte and Mourinho, even Christian Gross.
Everywhere we go, I am loving Big Ange instead.“
Ange Postecoglu (in der Folge der Einfachheit halber nur noch „Ange“) ist nun im zweiten Jahr bei den Tottenham Hotspurs.
Der 1965 in Griechenland geborene Ange zog als Kind nach Australien und begann seine Fußballkarriere bei South Melbourne, wo er als Verteidiger spielte und später ins Traineramt wechselte. Zu seinen ersten Erfolgen als Trainer mit South Melbourne gehörten zwei Titel in der National Soccer League und der Gewinn der Ozeanien-Klubmeisterschaft, was zur Teilnahme an der FIFA Klub-Weltmeisterschaft 2000 führte. Weitere Bekanntheit erlangte Ange durch die Wiederbelebung von Brisbane Roar (mit Thomas Broich!) in der A-League, wo sein Team eine Rekordserie von 36 ungeschlagenen Spielen aufstellte und 2011 und 2012 die Premier League und die Meisterschaft in Folge gewann (die australische Liga spielt eine Regular Season mit anschließendem Play-Off System inklusive „Grand Final“). Er trainierte darauffolgend Melbourne Victory, bevor er dann Trainer der australischen Nationalmannschaft wurde. Unter seiner Führung qualifizierte sich Australien für die FIFA-Weltmeisterschaft 2014 und gewann 2015 den AFC Asien-Pokal, den ersten kontinentalen Titel des Landes. Seine weiteren Vereinsstationen und große Erfolge feierte er mit den Yokohama F. Marinos in Japan wo er den Meistertitel in seiner zweiten Saison gewann, ebenso mit Celtic Glasgow wo er zwei Schottische Meisterschaften gewann. Seit Beginn der Saison 22/23 ist er nun Trainer bei den Tottenham Hotspur, der erste australische Trainer überhaupt in der Premier League aber er bringt, und dafür ist dieser längere biografische Exkurs gedacht, jede Menge Erfahrung als Trainer mit. Eine jugendliche Naivität kann man hier getrost ausschließen.
Trotz des Abganges von Harry Kane legte Tottenham in Anges erster Saison einen bärenstarken Start hin und war noch im Oktober Tabellenführer, Ange gewann unter anderem den Manager des Monats Award für den Monat August und die Spurs blieben die ersten zehn Spiele der Saison ungeschlagen, gewannen dabei zuhause gegen Manchester United und spielten Remis bei den Gunners im Nord-London-Derby. Es war der beste Saisonstart für die Spurs in über 60 Jahren und zu dem Zeitpunkt hatten die Spurs die beste Tordifferenz und die meisten xG herausgespielt.
Doch viele Verletzungen warfen das Team zurück und die Spurs beendeten die erste Saison unter Ange auf einem fünften Platz, zwei Punkte außerhalb der Top Four und hinter dem Überraschungsteam der Saison Aston Villa. Schon in der ersten Saison waren die taktischen Ansätze von Angeball zu sehen, vor allem der mitreißende Stil war für die Tottenham-Fans nach den vorsichtig ausgedrückt, vorsichtigeren Marschrouten von Conte und Mourinho eine willkommene Abwechslung. Ange geht keine Kompromisse ein, und seine Ideen sollen und werden in letzter Konsequenz von seinen Spielern umgesetzt, wie zum Beispiel der schöne Moment aus dem Chelsea Spiel gezeigt hat, als Tottenham auch mit 9 Feldspielern noch eine hohe Verteidigungslinie spielte:
Nun, im zweiten Jahr wurde die Mannschaft weiter auf Anges Spielidee zugeschnitten und gezielt verstärkt. Mit Solanke kam ein neuer Wandspieler, der als mobiler Stürmer auch das Pressing einleitet und auslöst. Mit Bergvall, Odobert und Archie Gray kamen hochveranlagte, talentierte Spieler – in anderer Richtung verließen viele gestandene Spieler den Verein wie Höjbjerg, Skipp, Emerson Royal, Dier, Sessegnon oder Lo Celso. Trotz des Versprechens von Ange, im zweiten Jahr würde es zu einem Titel reichen („I’ll correct myself, I don’t usually win things, I always win things in my second year“), ist das Transfergeschehen der Spurs mit Blick auf die mittel- bis langfristige Zukunft geplant. Auch in seiner zweiten Saison gelang ein furioser Start und Tottenham war lange oben mit dabei. Stand jetzt – kurz vor Weihnachten – findet sich Tottenham als geteilter Zehnter in der Tabelle wieder. Wieder sind es Verletzungen der Schlüsselspieler, die eine bessere Tabellenposition vielleicht verhindert haben. Da fehlt manches Mal der Kapitän und Schlüsselspieler Son, die komplette Innenverteidigung plus Torwart oder Bentancur wird für eine Social Media Geschichte mehrere Spiele gesperrt. An manchen Spieltagen standen Ange nur 14 Spieler mit Profierfahrung zur Verfügung. Beim 5:0 Sieg gegen Southampton war der 19-jährige Will Lankshear der Spieler auf der Bank mit der vierthöchsten Anzahl von Einsätzen in der Premier League – er hat genau einen Einsatz. Niederlagen gegen Bournemouth, Ipswich Town und Crystal Palace trübten das Bild. Demgegenüber stehen Siege bei Manchester United, bei Manchester City und gegen Aston Villa. Mitte Dezember wird Ange von Außen angezählt, während von Innen der Glaube gelebt wird. Wenn es klickt, kann Tottenham mit den Besten der Besten mithalten. Wenn der Motor allerdings stottert, tut sich die Mannschaft von Ange auch gegen Aufsteiger und Abstiegskandidaten schwer.
Das Markenzeichen von Anges Mannschaft ist ihr aggressiver, hochintensiver Offensivfußball, der auf fünf Kernprinzipien basiert:
- Hohes Pressing und hohe Verteidigungslinie
Tottenham verteidigt mit einer hohen Abwehrreihe und einem aggressiven Pressing. Dies ermöglicht es den Spurs, den Ballbesitz zu dominieren und Umschaltaktionen im oberen Bereich des Spielfelds zu erzwingen. Mit diesem aggressiven Pressing sollen die Spurs den Ball schnell zurückerobern und schnelle Konter einleiten, wie beim 4:0-Sieg gegen Manchester City gesehen haben. - Fluides Positionsspiel
Ange fördert ein flüssiges Angriffssystem, bei dem die Spieler die Positionen tauschen, um einzelne Räume zu überladen und Überzahlsituationen zu schaffen, insbesondere in den Halbräumen um den Strafraum und in der Breite. Diese Spielweise erfordert technisches Können und eine schnelle Entscheidungsfindung und wird durch ein scharfes Stellungsspiel ergänzt, um den Ball in gefährlichen Bereichen zu kontrollieren. So lässt sich beispielsweise Dejan Kulusevski, wenn er im Zentrum spielt, tiefer fallen oder driftet auch in die Breite, um als Verbindungsspieler Chancen zu kreieren. - Vertikalität und schnelle Übergänge
Tottenham versucht oft, schnell von Verteidigung auf Angriff umzuschalten. Ange legt Wert auf vertikale Pässe, die die gegnerischen Linien durchbrechen und es den Spurs ermöglichen, den Raum hinter den höheren Pressinglinien auszuspielen. - Überlaufende Außenverteidiger und Breite im Angriffsdrittel
Ein weiteres Merkmal ist der Einsatz von Außenverteidigern, die in die Angriffspositionen vorstoßen und sich oft mit den Flügelspielern in den Halbräumen bewegen. Pedro Porro und Destiny Udogie haben sich zu wichtigen Pfeilern des Offensivspiels entwickelt, die den Ball nach vorne treiben und für Breite sorgen, so dass die Spurs die Flügel dominieren können. - Offensivdrang und Risikobereitschaft
Anges Tottenham scheut sich nicht, Risiken einzugehen, sowohl was das hohe Pressing als auch die schnellen Angriffe betrifft. Dies wird besonders deutlich, wenn die Spurs immer wieder bewusst Überzahlsituationen schaffen indem sie mehrere Spieler hochschieben. Diese offensive Einstellung macht die Spurs jedoch auch anfällig für Konter, wenn sie den Ball verlieren, ein gewisses Risiko ist da miteinkalkuliert.
Aber machen wir uns nichts vor, an den gegebenen Prinzipien ist an und für sich nichts besonders. Genauer betrachtet ergeben sich mittlerweile standardisierte fast schon banale Dinge und Grundpfeiler wie aggressives Anlaufen, Single-Pivot, überlaufende Außenverteidiger, schnelles Umschaltsspiel und flacher Aufbau. Was Ange und Tottenham auszeichnet, das Trademark dieses Trainerstils, ist die bedingungslose Hingabe und Kompromisslosigkeit mit der diese Taktik ausgespielt wird. Unabhängig vom Ergebnis, vom Gegner, vom verfügbaren Personal – es wird immer Angeball gespielt.
Manchester City – Tottenham Hotspur 0:4 – 23/11/24
Die Vorzeichen vor dem Spiel gegen ManCity waren für die Spurs von Fragezeichen geprägt. Man erwartete den Befreiungsschlag ManCitys, die sich zu dem Zeitpunkt noch in einer kleinen Krise befanden. Tottenham trat an ohne die Stamminnenverteidigung, dazu mit wenn nicht angeschlagenem aber zumindest knapp fitgewordenem Son und Solanke. Bei City saß De Bruyne nur auf der Bank, und das große Loch im Mittelfeld, welches Rodri nach seiner Verletzung hinterließ, zeigte sich dann auch schnell beim ersten Gegentreffer zum 1:0 durch Maddison.
Etwas untypisch für die Spurs brachte ein lang geschlagener Ball in der Entstehung die Dynamik in den Angriff. Kulusevski gewann das Duell um den Ball gegen Gvardiol und konnte sich mit Hilfe des schwirrenden Porro etwas Platz verschaffen. Maddison mit sehr gutem Timing startete durch, City fehlte es an Abstimmung zwischen Gündogan und Stones, und Maddison konnte per Volley aus kurzer Distanz zur Führung treffen. Was hier in der Staffelung auffällt, sind die weit hochgeschobenen Außenverteidiger Udogie und Porro, die dort aber keineswegs auf halbem Wege stehenbleiben, sondern durchstarten in die Halbräume um so den beiden Flügelspielern nicht nur eine Anspielstation in die Tiefe zu geben, sondern den beiden invertierten Außen, Son und Kulusevski, einen Raum zum Dribbling öffnen. Wie hier beim 1:0 sodass Kulusevski eine scharfe Flanke auf den zweiten Pfosten schlagen konnte.
Das 2:0 fiel nach einem Ballgewinn hoch in der gegnereischen Hälfte. Porro setzte Gvardiol unter Druck, Außenverteidiger auf Außenverteidiger, dieser spielte einen Fehlpass zu Maddison, der ebenfalls wie Sarr auf diesen Moment lauerte, und von da an ist es die Klasse von Maddison gemeinsam mit Son, die mit einem Doppelpass die Führung für die Spurs ausbauen. Auch hier fällt die geschlossene Überzeugung auf, das zum Teil sehr hohe Pressing auch gegen ManCity auszulösen und durchzuziehen. Allen Nachtigallrufen zum Trotz ist der Gegner hier der Vorjahreschampion und anders als viele andere Mannschaften, die auch gegen Peps aktuell formschwaches Team punkten konnten, hat sich Anges Team hier alles andere als versteckt sondern hoch angegriffen und mit Druck und Überzeugung einen insgesamt hochverdienten Sieg eingefahren.
Tottenham Hotspur – Chelsea 3:4 – 08/12/24
Im Vergleich zum City Spiel kehrten überraschend nach längerer Abstinenz beide Stamm-Innenverteidiger gegen Chelsea zurück. (Beide mussten allerdings im Laufe des Spiels verletzt wieder ausgewechselt werden.) Dafür fehlte Vicario nach schwerer Verletzung, ihn vertrat Forster. Maddion saß nur auf der Bank, für ihn rückte Johnson in die Startelf, und Kulusevski ins Mittelfeld. Dies ist insofern interessant, als dass die vielen Wechsel den Grundideen von Ange nichts anhaben. Die Rollen sind klar bestimmt und die Abläufe, ob mit oder ohne Ball, werden konsequent weitergeführt. So auch beim Führungstreffer in der fünften Minute:
Auch hier wieder ist zu erkennen, wie hoch Tottenham versucht zu pressen und es hier wieder schafft einen Ballgewinn zu erzwingen. Romero als Innenverteidiger rückt fast bis an die Mittellinie auf um Kompaktheit zu gewähren und Tottenham schafft es so hoch und im Tempo anzulaufen. Cucurella bekommt in einer gewöhnlich ungefährlichen Position früh Druck und findet keine geeigete Anspielstation. Rutschiges Schuhwerk hin oder her, die Spurs schaffen es einen für gewöhnlich ballsicheren Außenverteidiger ins Schlingern zu bringen und so den Ball in aussichtsreicher Position zu erobern.
Das Spiel selber geht allerdings nach zwei zu null Führung letzlich mit 3:4 verloren. Ein spektakulärer Schlagabtausch der aber auch die möglichen Schwächen des Hans-Dampf Fussballs von Ange zeigt. Zwei wirklich unnötig verschuldete Elfmeter und der bereits angesprochene verletzungsbedingte Austausch der gesamten Innenverteidigung haben eine eigentlich gute Leistung ohne Punkte bedeutet.
Southampton – Tottenham Hotspur 0:5 15/12/24
Gegen die Saints, genau eine Woche später, war dann zu beobachten wie Angeball ausschaut, wenn wirklich alles passt. Aber auch hier musste Ange seine Mannschaft gehörig umbauen. Der junge Archie Gray musste in der Innenverteidigung aushelfen, Bergvall begann neben Sarr und Maddison im zentralen Mittelfeld und als rechter Außenverteidiger bekam Djed Spence eine Chance – und diese nutzte er bereits in der ersten Minute mit seinem tollen Assist:
Spence, gleich zu Beginn, bekommt das kurze Anspiel von Sarr gut unter Kontrolle und kann sich um seinen Gegenspieler herumdrehen. Mit genug Wiese vor sich startet er sein Dribbling und sein Schnittstellenpass findet Maddison, der den Ball ins lange Eck zur Führung einchippen kann. Ein typisches Spurs-Tor, wenn man auf die Staffelung blickt. So gut wie 1-gg-1 in der Absicherung, hochgeschobene Außenverteidiger und vier mobile Angreifer die in letzter Linie die gegnerische Abwehr beschäftigen. Kurz herausgespielt, beinahe schnörkellos.
Auch beim zweiten Tor ist Spence eingerückt und löst eine Drucksituation mit Maddison mit einem simplen Doppelpass auf. Kulusveski bindet den Linksverteidiger von Southampton mit einem Tiefenlauf und Maddison bekommt genug Platz für eine scharfe Flanke aus dem Halbfeld, die Son trocken ins kurze Eck vollendet. Auch hier wieder schön zu sehen, wie die Außenverteidiger nicht nur starre Positionen halten, sondern in den Spielaufbau eingebunden werden. Bergvall löst sich in der Entstehung ebenfalls von seinem Gegenspieler um sich einzuschalten und vorne in der letzten Linie wird für eine vierfache Strafraumbesetzung gesorgt.
Das dritte Tor der Spurs in der Anfangsviertelstunde fällt nach einem lang geschlagenen Ball von Maddison auf den durchstartenden Son. Dessen scharf getretende Hereingabe fällt Kulusevski vor die Füße, der ins praktische leere Tor einschieben kann. Was das Tor ganz hervorragend zeigt, wie die Spurs nicht nachlassen und weiter aggressiv nach vorne spielen. Die Saints zeigen wiederum, wie kompliziert und komplex eine hohe Abwehrlinie auszuspielen ist, und wie nur kleine Abstimmungsfehler oder fehlender Druck auf den Ball ein gesamtes Gerüst einstürzen lassen.
Ausblick
Es mag alles irgendwo doch simpel erscheinen. Hoch anlaufen, aggressiv pressen, flach aus- und rausspielen, Hinterlaufen und Überlaufen, genug Leute in die Box… etc. aber all dies wird von Anges Team mit einer Überzeugung ausgespielt, dass es für jeden neutralen Beobachter nur ein Fest sein kann. In letzter Konsequenz führt dies zu spektakulären Begegnungen, welche zwar nicht immer zugunsten des Nordlondoner Teams ausgehen, aber das eigene Publikum doch mitreißen können. Für die Spurs-Organisation ist dies nach den Episoden um Mourinho und Conte ein neuer Moment. Es bleibt die Hoffnung verbunden, dass Ange es schafft mit seiner Linie die Hoffnung der Anhänger auf eine Trophäe zu nähren und er intern die Unterstützung bekommt, die er benötigt. Sein Spiel ist höchst intensiv und bringt bei dem gefüllten Kalender das Risiko von Verletzungen und einfach erschöpften Spielern mit sich. Anders als in den kleineren Ligen, in denen er zuvor trainiert hat, hat Ange in der Premier League mit einer viel höheren Belastung zu kämpfen. Es darf aber bezweifelt werden, dass er seine Spielidee anpassen wird und so wird es weiter Spektakel um Spektakel geben. Diese Zeilen wurden geschrieben wenige Stunden vor dem nächsten Gradmesser Tottenhams, gegen Arne Slots Liverpool. Eine weitere Möglichkeit für Ange und seine Apostel, es sich und anderen zu beweisen, dass dieser Weg der richtige sein wird.
BE schaut gerne über den Tellerrand hinaus und zieht die Finesse der Fitness vor. Heuer arbeitet und lebt er in Warschau, Polen, und steht auch als Enddreißiger noch mit seinen Copa Mundial in der Innenverteidung und versucht der nächsten Generation die Liebe zum Spiel zu vermitteln.
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