Türchen 17: Brentfords Anstöße – SZ

So wie im 19. Jahrhundert im Zuge der Erkundung und Kartografierung der Erdteile die verbliebenen weißen Flecken auf den Landkarten weitestgehend beseitigt wurden, so werden im 21. Jahrhundert zunehmend die letzten weißen Flecken auf der taktischen Landkarte beseitigt. War der Einwurf bis vor kurzem noch im Wesentlichen taktische terra incognita, also ein Teil des Spiels, der taktisch praktisch vollständig vernachlässigt wurde, hat er spätestens seit Thomas Grønnemark zunehmend Anerkennung als taktisch relevante Spielsituation per se gefunden. Auf der Suche nach weiteren noch unzureichend erschlossenen Bereichen des Spiels, sind taktische Entdecker nun auf ein Neues zu erkunden und zu vermessendes Gebiet gestoßen: den Anstoß – die Antarktis der Taktik. An ihrer Spitze: Keith Andrews, Thomas Frank und der FC Brentford.

Die NFL lässt grüßen

Brentford betrachtet den Anstoß mehr wie einen Kick Off im American Football, aber vielleicht müsste man sogar sagen: mehr noch wie einen ganz normalen Offensivspielzug im American Football. Dafür spricht in der Tat einiges: Wie im American Football sind beide Mannschaften durch eine Linie voneinander getrennt. Die Mittellinie bildet also so etwas wie die schmale neutral zone, die man aus dem amerikanischen Pendant kennt. Ebenso wie im American Football geht damit der erste Pass, auch wenn er im American Football nicht so genannt wird, sondern snap, nach hinten, weg von der neutralen Zone, zurück in den Raum, der der Mannschaft gehört, die auch über den Ballbesitz oder das Angriffsrecht verfügt.

Der naive Beobachter könnte geneigt sein zu denken, es wäre ein Nachteil für die Mannschaft, die den Anstoß ausführt, dass all ihre Spieler in der eigenen Hälfte warten müssen, bis das Anspiel erfolgt ist. In der Realität zeigt gerade der FC Brentford, dass diese besondere Standardsituation tatsächlich viel mehr die verteidigende Mannschaft vor besondere Herausforderungen stellt. Der erste Grund hierfür und damit die erste Herausforderung ist in gewisser Weise offensichtlich, wiederum auf den zweiten Blick dann allerdings doch verblüffend: das Überraschungsmoment. Der verblüffende Teil daran ist, wie oft Teams wie Brentford immer noch auf Gegner treffen, die den Eindruck vermitteln, auf das, was geschieht, nicht wirklich vorbereitet zu sein – nicht nur auf die konkrete Variante, sondern mitunter überhaupt nicht auf die Nutzung des Anstoßes als veritable Standardsituation von taktischer Bedeutsamkeit.

Langfristig weniger vergänglich als das Überraschungsmoment sind allerdings die anderen beiden Herausforderung, denen sich die verteidigende Mannschaft gegenübersieht, nämlich die aus dem halbierten Spielfeld resultierende generelle Distanz zum Gegner und die dadurch ebenso für den Moment unveränderliche Höhe der ersten (Pressing-)Linie. Es entsteht zunächst mit dem Anstoß eine Situation, in der die verteidigende Mannschaft entscheiden muss, wie sie mit der ihr aufgezwungenen Konstellation umgehen will, in der die gewünschte Positionierung und Geschwindigkeit relativ zu ihren relevanten Bezugspunkten nicht realisiert werden kann. Je schneller die verteidigende Mannschaft etwa Abstände zu den Gegenspielern herstellen will, die Deckung oder Pressing erlauben, desto anfälliger ist sie in diesem Moment für unvorhergesehene Aktionen der angreifenden Mannschaft, da bei der notwendigen hohen Geschwindigkeit sowohl die Wahrnehmung der Aktionen des Gegners erschwert ist, als auch die adäquate Reaktion auf diese. Je zögerlicher die verteidigende Mannschaft umgekehrt dabei vorgeht, sozusagen Normalität herzustellen, desto mehr bleibt sie notwendigerweise entweder übermäßig kompakt oder übermäßig tief. was dem Gegner Räume eröffnet und erlaubt, Dynamik aufzunehmen.

Brentford macht sich dies zunutze, indem sie, wie erwähnt, den Anstoß wie einen Spielzug im American Football betrachten. Um dies zu verdeutlichen, können wir einige weitere Begriffe aus dem American Football für unsere Analyse fruchtbar machen. Das erste Konzept ist der look. Der Begriff look beschreibt, wie sich die Offensive (oder Defensive) vor dem snap – analog zum Anstoß im Fußball – positioniert. Die looks, die der FC Brentford seinen Kontrahenten vor dem Anstoß zeigt, lassen sich grob in drei Kategorien einteilen (asymmetrisch aggressiv, symmetrisch aggressiv, symmetrisch ausgewogen), innerhalb derer es dann weitere feinere Unterschiede gibt. Der markanteste und für Brentford typischste look ist zumindest in der jüngeren Vergangenheit sicherlich derjenige, bei dem sich eine große Zahl von Spielern auf der rechten Seite direkt hinter der Mittellinie positionieren. Das Analogon im American Football wäre die trips- oder bunch-Formation, bei der alle drei – oder manchmal sogar mehr – wide receiver sich auf derselben Seite des Spielfeldes aufstellen.

Spielzug 1: Überladung der rechten Seite

Ein look ist allerdings noch kein play, also kein Spielzug. In aller Regel können sich hinter einem look verschiedene plays verbergen. Um welches play es sich handelt, wird allerdings im Idealfall erst nach dem snap ersichtlich, also in unserer Analogie nach dem Anstoß. Das wichtigste play, wenn man so möchte, das Brentford in seinem playbook hat und das erste von zwei, die wir uns genauer ansehen wollen, können wir als Überladung der rechten Seite bezeichnen. In dem Fall passiert also tatsächlich das, was durch den look vor dem Anstoß bereits nahegelegt wird.

Fünf Spieler stehen bei dieser Variante im Mittelpunkt, die zum Teil auch bei anderen Varianten wichtige Rollen spielen, nämlich Mikkel Damsgaard, Mark Flekken, Kristoffer Ajer, Bryan Mbeumo und Keane Lewis-Potter. Durch unsere American-Football-Brille können wir Damsgaard, den Zehner, als Brentfords center verstehen. Der center ist für das richtige Timing und eine saubere Ausführung beim snap verantwortlich, allerdings trägt Damsgaard wohl noch mehr Verantwortung als das, da sein quarterback, Torwart Mark Flekken, ihm auf die Distanz keine Signale gibt, wie es im American Football der Fall wäre. Vor dem Anstoß sieht man Damsgaard regelmäßig seinen Kopf vor und zurück wenden, um die Formation der eigenen und der gegnerischen Mannschaft zu überblicken und seinen Mitspielern Zeichen zu geben, sodass er auch quarterback-Aufgaben übernimmt. 

Manchmal direkt, manchmal indirekt geht der Ball in der Mehrheit der Fälle ganz zurück zu quarterback Mark Flekken, während die gegnerische Mannschaft versucht, Zugriff zu bekommen. Oft wird der Ball erst weiter nach hinten gespielt, wenn die Gegner nahen, um sie weiter herauszulocken und damit Räume weiter vorne zu öffnen. Als quarterback ist Flekken freilich für den langen Pass nach vorne zuständig. Dieser hat meistens ein ganz bestimmtes Ziel, nämlich Flekkens go-to guy, also seine Lieblingsanspielstation, Kristoffer Ajer. Ajer ist gelernter Innenverteidiger und selbst dafür groß gewachsen, was ihn zu einem idealen Zielspieler macht. Hier müssen wir dringend einen weiteren Begriff aus dem American Football einführen, nämlich das mismatch. Ajer positioniert sich bei dieser Anstoßvariante dort, wo sich sonst ein Rechtsaußen befinden würde, also weit rechts außen im Angriffsdrittel oder an dessen Rand, nie ganz an der Auslinie, aber doch so weit außen, dass ein zentraler Mittelfeldspieler oder Innenverteidiger sich kaum dorthin begeben würde, um ihn zu decken, sodass er in aller Regel gegen Linksaußen oder Außenverteidiger steht, die ihm körperlich und insbesondere beim Kopfball völlig unterlegen sind. Das Resultat: Wenn Flekken den Ball dorthin bringt, gehört der erste Ball fast automatisch Brentford.

Nicht zuletzt da ein solcher Ball trotz Ajers offensichtlichen Trainings für das Kontrollieren genau solcher Bälle immer noch schwer zu kontrollieren bleibt, ist der zweite Ball allerdings fast noch wichtiger als der erste. Brentford macht sich hierbei Prinzipien des Relationismus zunutze. Relationismus, der Kampf um den zweiten Ball und die Überladung einer Seite passen dabei ganz natürlich zusammen. Der Kampf um den zweiten Ball wird durch viele Spieler um Ajer herum erleichtert. Spieler, die sich eng zusammenclustern, erlauben ein effektives Spiel nach relationistischen Prinzipien. Um Ajer herum gruppieren sich sechs Spieler: zwei dezidiert hinter ihm, zwei dezidiert vor ihm, die anderen beiden je nach Situation, jedoch typischerweise ungefähr um seine Höhe herum links von ihm. Da kaum eine gegnerische Mannschaft – im doppelten Sinne – bereit ist, eine ähnliche Anzahl von Spielern auf den zweiten Ball zu schicken, ist Brentfords Team, das perfekt auf die Situation eingestellt ist, auch hier in der Mehrheit der Fälle der Sieger.

Im Angriffsdrittel oder am Rande des Angriffsdrittels im Ballbesitz hat Brentford nun verschiedene gut vorbereitete Wege ans Ziel, während der Gegner im Idealfall immer noch nicht recht weiß, wie ihm geschieht. Im einfachsten Fall kann A) ein Spieler den Weg in die Tiefe finden, weil die Verteidiger seine ja in Überzahl befindlichen Mitspieler decken. Sonst kann B) Lewis-Potter, der etatmäßige Linksaußen, auf der linken Seite nachrücken und im Idealfall direkt zum Abschluss kommen, da der Gegner auf der rechten Seite zusammengezogen wurde und die linke Seite vernachlässigt. Passiert keine dieser beiden Varianten, kann C) Lewis-Potter dennoch ins Spiel gebracht werden beziehungsweise mit oder ohne seine Mithilfe der Ball halbhoch bis hoch in den Strafraum gebracht werden, wo Mbeumo und Wissa zur Geltung kommen.

Ajer ist zuerst am Ball mit zwei Mitspielern vor ihm, zwei neben ihm und zwei hinter ihm.

Mbeumo, der in anderen Varianten auch seine eigentliche Position als Rechtsaußen ausfüllt, wird hier zum zweiten Stürmer, der sich eng um Wissa herum bewegt. Seine Spezialität ist der Volley. Um sich Platz für seinen unwiderstehlichen Volley zu verschaffen, nutzt er dabei drei Strategien: Zum einen sucht er dafür immer wieder den Raum unmittelbar hinter dem Elfmeterpunkt, der – umso mehr bei Flanken aus dem Halbfeld – für Kopfbälle relativ ungefährlich ist und darum häufig vernachlässigt wird und sich zusätzlich in der Grauzone der Zuständigkeiten der Innenverteidiger befindet, wenn Viererkette gespielt wird. Zum anderen nutzt er die Bewegung der Mitspieler in seiner Nähe, die sich in Vorbereitung auf die Flanke nach vorne bewegen und ihm damit Platz verschaffen. Zuletzt täuscht er vor, diese Bewegung mitzugehen, nur um sich dann doch wieder nach hinten fallen zu lassen. Hinzu kommt, dass Mbeumo auch bei zweiten Bällen im Strafraum auf Gelegenheiten zum Volley lauert, so beim 1:0 gegen West Ham.

Bei all dem sichert Brentford in der Restverteidigung in einem 2-1 ab. Zwei Innenverteidiger bilden die letzte Linie, während ein weiterer Spieler mit den beiden vor ihm ein Dreieck bildet und in aller Regel nur einen Gegenspieler in seinem Rücken weiß. Bedarfsweise lassen sich andere Spieler links oder rechts neben diesen Spieler fallen, um mit ihm zusammen den Ball wieder in die Überzahl hineinzuspielen, beziehungsweise in diesem Bereich zu halten. Dasselbe play – streng nach American-Football-Logik müsste man sagen: ähnliche plays mit demselben Ziel – kann auch aus anderen looks heraus gespielt werden, genauso wie aus demselben look heraus auch andere plays gespielt werden können.

Spielzug 2: 4 + 1 gehen tief

Beispielhaft können wir uns noch ein zweites play ansehen, das zum erwähnten 1:0 gegen West Ham geführt hat. Wenn wir beim American Football bleiben wollen, können wir es four verticals nennen. Der look, den Brentford im Spiel gegen West Ham dabei zeigt, ist ein völlig symmetrisches 3-2-5, also ohne jeglichen Hinweis – sei er eine Finte oder nicht – auf eine Überladung, zu der es dann auch nicht kommt. Der Ball wird diesmal nicht bis auf Flekken zurückgelegt, sondern auf einen Innenverteidiger, der zentral in der letzten Linie steht und den Ball nach links weitergibt.

Auch wenn eine Ablage zur Seite nicht gelingt, sind Brentfords Spieler hinter dem Ball besser sortiert und orientiert, um den zweiten Ball zu erobern.

Inzwischen ist die Stellung eher 2-3-1-4, da sich ein Spieler aus der vordersten Reihe zurückfallen lässt und der rechte Spieler der letzten Reihe sich nach vorne orientiert hat. In diesem Moment kommt der unbedrängte lange Pass und zwar in Richtung der beiden zentralen Angreifer, hinter denen ja ein weiterer Spieler lauert. In diesem Fall geht der erste Ball verloren, doch es ist zu sehen, wie eine Ablage auf einen der äußeren Angreifer vielversprechend gewesen wäre.

Beim zweiten Ball profitiert Brentford in diesem Fall davon, dass ganze sechs Spieler der gegnerischen Mannschaft mit Brentfords Angriffsreihe tief gefallen sind und sich zuerst drehen und orientieren muss, während dasselbe nur für vier eigene Spieler gilt, da schon Brentfords fünfter Angreifer bereits weiter zurückgefallen ist. In Ballnähe entsteht dadurch eine 3-2 Überzahl. Damsgaard erobert den zweiten Ball mit viel Körpereinsatz knapp und zeigt ein weiteres typisches Brentford-Manöver: Er legt den Ball zurück in die erste Aufbaulinie, von wo aus er sofort scharf und halbhoch wieder lang nach vorne gespielt wird. Wieder sind dabei Timing und Dynamik entscheidend: Schade, der den Ball erhält, war zunächst in gemäßigtem Tempo nach außen getrabt. Der Gegner wurde in Sicherheit gewiegt, dass der Angriff erst einmal entschärft sei. Schade beschleunigt plötzlich und erläuft in der Seitwärtsbewegung den Ball, den er sich dann vorlegt, um an seinem Gegenspieler vorbeizugehen.

Schades Flanke  wird zwar pariert, doch auch hier gehört der zweite Ball Brentford. Über mehrere Stationen geht der Ball hoch im Strafraum hin und her. Gleich zweimal sehen wir Bryan Mbeumo antäuschen, für einen Kopfball nach vorne zu starten, nur um abzubrechen, leicht zurückzuweichen und einen Abstand von etwa zwei Metern zu seinem Gegenspieler herzustellen und zu halten. Der vierte hohe Ball ist es dann, der ihn mit reichlich Platz in alle Richtungen findet, sodass er diesen mit dem linken Fuß genau ins rechte Eck schweißen kann. Es ist einer dieser Momente, bei denen man keinen Zweifel hat, dass der Trainingsplatz diesen Schuss mehr als nur ein paar Mal gesehen hat.

Im Vergleich zum vorigen play sehen wir zwar diverse markante Unterschiede, aber auch eine Vielzahl gemeinsamer Prinzipien und Ideen. Plan A, den Weg außen vorbei, gibt es wieder, nur diesmal wohl eher als eine Art Plan C, da Plan A die Ablage zur Seite nach dem initialen langen Ball gewesen wäre und Plan B die Ablage zurück. Dieser Plan C geht nicht voll auf und führt nur zu einer Flanke, die allerdings sehr nah ans Tor kommt. Ein neuer Plan D läuft auf dasselbe hinaus wie der alte Plan C: Der Ball wird immer wieder in den Strafraum gebracht, gerne auch aus dem Halbfeld oder aus dem Strafraum selbst einfach hoch weitergegeben. Schärfe ist Nebensache, da zumindest eine zentrale Option der Volley ist. Auch die Paarbildung der beiden Angreifer ist dieselbe, auch wenn es in diesem Fall Lewis-Potter ist statt Wissa, an dem Mbeumo sich orientiert.

Alles in allem hängt Brentfords Erfolg auch mit Kontinuität zusammen. Standardtrainer Keith Andrews mag erst seit diesem Sommer im Amt sein, Cheftrainer Thomas Frank ist es allerdings schon seit sechs Jahren, unter dem das Team schon lange großen Wert auf ausgefeilte Standards legt, von denen sich der Anstoß nur zu einem besonderen Schwerpunkt entwickelt hat, worauf immer weiter aufgebaut werden kann, anstatt immer wieder bei null anzufangen.

SZ nennt Adolfo Valencia weiterhin konsequent den “Bayern-Express” anstatt den “Entlauber”, egal was Uli H. darüber denkt, und ist außer Podcaster a.D. (Super Bayern Podcast) auch Germanist.

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