Türchen 3: Luckenwaldes Übergangsspiel
Als junges Außenseiter-Team wirft der FSV Luckenwalde besondere Flügelrotationen in die Waagschale für den Regionalliga-Abstiegskampf. In dieser Liga treten sie unter anderem gegen den Chemnitzer FC, Lok und Chemie Leipzig oder den Halleschen FC an. Gemeinsam mit den Mannschaften aus Eilenburg, Plauen und Zehlendorf haben sie in der Liga damit eine ziemliche Sonderrolle – sie haben keine erfolgreiche DDR-Historie und die Spieler sind meist keine Vollprofis. Luckenwalde bildet mit ihrem Fokus auf das Übergangsspiel aber auch fußballerisch eine Ausnahme, die hier näher erläutert werden soll.
Trainer Michael Braune hat mit durchschnittlich 22,6 Jahren einen recht jungen, regionalligaunerfahrenen Kader. Zumeist werden junge Spieler verpflichtet, die im zweiten oder dritten Regionalligajahr sind, alternativ auch Spieler, die direkt aus den NLZ kommen. Diese Spieler finden sich dann in einer Liga wieder, in der Fehlervermeidung für die meisten Teams die höchste Priorität hat. Der Grundgedanke ist oft: “Wenn ich weniger Fehler als der Gegner mache, lasse ich wahrscheinlich erstmal kein Gegentor zu. Und nach vorne klappt es schon irgendwie.”
Natürlich ist das leicht übertrieben und spiegelt nicht alle Teams wider – Lok hat spannende Ansätze beim Erspielen von Chancen, auch die Mannschaften aus Zehlendorf und Eilenburg priorisieren als Teams aus dem Tabellenkeller im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Ballbesitzphase. Eine weitere Ausnahme bildet Herthas U23, was aber (auch) am Ausbildungscharakter dieses Teams liegt. Was aber zeichnet Luckenwalde aus und warum finden sie in unserem Adventskalender Beachtung?
Disclaimer: Die Idee, über Luckenwalde und deren spannende Ansätze im Übergangsspiel zu schreiben, kam bereits kurz nach Saisonstart auf. Leider hat Luckenwalde hier nicht sofort die Ergebnisse erzielt, die sie scheinbar selbst erwartet haben. Das Resultat: Weniger Risiko, weniger Ballbesitz, mehr Sicherheit und lange Bälle. Schade, denn eine kontinuierliche Weiterentwicklung der eigenen Spielidee und das Aufarbeiten der anfänglichen Probleme (insbesondere beim Spiel vom zweiten in das letzte Drittel und konkret beim Erspielen von Torchancen aus der im Vorhinein erarbeiteten Struktur und deren Vorteilen) wären hier vielleicht erfolgversprechender gewesen.
Viel Mut, viel Dynamik, viel Ballbesitz
In einer Liga, in der Teams zumeist einen guten Plan für das Spiel gegen den Ball haben und auch die eigene Aufbauphase zumindest im Kontext ihrer Spielidee (den Spieler finden, der einen freien Fuß und genügend Zeit hat, um den gezielten tiefen Ball auf den Zielspieler oder hinter die Kette zu spielen) sinnvoll nutzen, zeichnet sich Luckenwalde dadurch aus, dass sie in der Übergangsphase sehr gute, gruppentaktische Lösungen finden. Gegnerische Mannschaften reagieren darauf sehr häufig mit Passivität statt Aggressivität. Sie versuchen in kompakte Grundordnungen zu kommen und laufen die erste Linie von Luckenwalde fast nie an.
Die Lösungen, die sie in Ballbesitz gegen kompakte 4-4-2 bzw. 5-3-2 Blöcke finden, sind, wie auch die gesamte Spielidee, stark an Guardiola orientiert. Einziger Unterschied ist wahrscheinlich, dass Luckenwalde den eigenen Ballbesitz nicht unbedingt so defensiv und risikovermeidend interpretiert. Kurz gesagt: Luckenwalde ist sehr gut darin, mit gruppentaktischen Lösungen Dynamik zu kreieren, insbesondere gegen einen eher passiven, tiefen Gegner. Aus dem initialen 3-2-4-2 (?) sind sie hier gruppentaktisch nicht nur sehr variabel, sondern auch recht erfolgsstabil. Erfolg im Kontext von “Überspielen der zweiten Pressinglinie im Übergangsspiel” meint für mich beispielsweise, dass sie es schaffen, einen Spieler spieloffen in bzw. an den Rand des letzten Drittel zu bekommen. Alternativ wäre es für mich auch ein Erfolg, wenn sie einen Spieler, der sich im Block befindet, spieloffen so an den Ball bekommen, dass seine Folgeaktion die letzte Pressinglinie des Gegners direkt oder “indirekt” attackieren kann. Also ein Spieler im Sechserraum, der den Ball lang auf den tiefstartenden Flügelspieler spielen kann, oder ein Achter, der aufdreht und mit einem Steckpass den Stürmer findet. In jedem Fall würde also Dynamik kreiert und die nächste Pressinglinie des Gegners attackiert werden.
Luckenwalde verlagert immer wieder von Flügel zu Flügel, passt dabei fortlaufend die eigene Struktur an, bringt durch Aufrücken und/oder Rotationen viele Spieler in Zwischenräume und rotiert auf den Außenbahnen. Auch, weil sie sich wie gesagt schwer damit tun, ein Eins-gegen-Eins am Flügel zu gewinnen. Sie sind somit immer auf kurzfristige Überzahlsituationen am Flügel angewiesen, die sie dann ausspielen müssen. Auffällig ist hier, dass sie es häufig schaffen, diese Drei-gegen-Zwei bzw. Zwei-gegen-Eins Situationen um bzw. in der Folge hinter den Block gelöst bekommen (Hinterlaufen, Vorderlaufen). Selten aber “durch den Block”, weil ihnen dann die technische Qualität und situativ auch die Struktur fehlt, um bspw. mit dem ersten Kontakt die letzte gegnerische Linie zu attackieren oder einen Spieler in der Halb- bzw. Zentrumsspur “verwertbar” (also so, dass der Spieler eine planbare Folkeation durchführen kann) anzuspielen. Das macht das Übergangsspiel meiner Meinung nach aber nicht weniger interessant, insbesondere im Kontext der Liga.
Individualtaktisch – Vororientierung, Freilaufverhalten, Eins-gegen-Eins
Die individualtaktische Qualität bildet die Grundlage für erfolgreichen Fußball. Am Beispiel von Luckenwalde kommt es hier auf Skills in der eigenen Ballbesitzphase an. Individualtaktisch zeichnen sich die Luckenwalder durch eine sehr saubere Passtechnik, ein gutes Freilaufverhalten (“Raumgefühl”) und eine Vororientierung, die recht erfolgsstabil ist, aus. Insbesondere Spieler wie Linksverteidiger Arne Rühlemann, der im Übergangsspiel initial eine Doppelsechs mit dem nominell einzigen Sechser bildet, entscheidet sich nahezu in jeder Situation für das Aufdrehen zur richtigen Seite bzw. das Spielen aus dem Druck über den Dritten. Fast jeder Spieler hat ein gutes Timing im Besetzen und Verlassen von (Zwischen)-Räumen. Das sorgt dafür, dass Gegner auf diesem Niveau sich eher passiv verhalten, weil sie die Freilaufbewegungen zwar initial in einer Aktion aber nicht konsequent über 90 Minuten verteidigen können, wenn sie aktiver gegen den Ball spielen und damit riskieren würden, den Zwischenlinienraum zwischen Abwehr und Mittelfeld zu öffnen.
Auffällig ist schon hier, dass viele der Luckenwalder (Flügel)-Spieler selten bewusst das Eins-gegen-Eins am Flügel suchen. Sie sind eher dann gut, wenn das gegnerische Pressing bereits überspielt ist und es bereits eine Dynamik im Angriff gibt. Zum Beispiel, weil nach überspielter erster und/oder zweiter Pressinglinie der Außenverteidiger dazukommen und für eine kurzzeitige Zwei-gegen-Eins Situation am Flügel sorgen konnte, in dem er hinterläuft. Die Flügelspieler versuchen diese Probleme zu umgehen, indem sie entweder in Erwartung eines langen Balls selbst sofort die Tiefe attackieren oder sich am Flügel eher als Zielspieler für die Verlagerung positionieren. Das kann man sich dann vorstellen wie in einem Verlagerungsrondo im Training. Bekommen diese “Verlagerungszielspieler” den Ball sind sie auf sofortige Unterstützung angewiesen, um kurzzeitige Überzahlsituationen auszuspielen und am Flügel durchzubrechen. In den Situationen, in denen der Flügelspieler aufgrund von gutem Verschieben des Gegners, fehlender Unterstützung der Mitspieler oder einem unsauberen ersten Kontakt in das Eins-gegen-Eins gegen muss, entsteht in der Regel eher der Ballverlust.
Gruppentaktik – Flügelrotation und das Spiel aus dem Druck
Eines der beliebtesten Mittel bei Luckenwalde, um in dieser Spielphase erfolgreich zu sein, ist das Spiel über den Dritten beziehungsweise Tief-Klatsch-Tief. Auf diese Weise schaffen sie es sehr schnell, einen Spieler freizuspielen. Insbesondere durch die Überzahl dank Torwartkette ist es dann oft ein Spieler der Doppelsechs, der den zweiten Sechser oder den ballferinen Innenverteidiger findet. In diesen Situation bleibt Luckenwalde recht statisch und besetzt kaum neue Räume.
Die wirklich spannende Lösung und für mich deshalb ein großer Teil des Trademarks von Luckenwalde ist die Rotation am Flügeldreieck und das damit einhergehende Durchspielen am Flügel, um Torchancen zu kreieren. Hier sind sie, wie oben schon gesagt, weniger auf defensiven Ballbesitz alá Manchester City bedacht. Sobald sie die Chance haben, aus der erzeugten Dynamik in Folge der Rotation Kapital zu schlagen, tun sie das. Die Grundlage dafür bilden die beiden Flügeldreiecke aus dem nominellen 4-3-3 heraus. Hier ergibt sich schon in der initialen Struktur eine leichte Asymmetrie, weil die Spieler des linken Flügeldreiecks insgesamt tiefer positioniert sind, als die des rechten.
Die Spieler des rechten Flügeldreiecks (Achter, Außenverteidiger, Flügelspieler) sind hier aber trotzdem nicht weniger am Übergangsspiel beteiligt. Während einer der drei Spieler, in der Regel der Flügelspieler, konstant die Breite hält, passen die anderen beiden permanent ihre Positionen an. Der tiefere Spieler des Dreiecks (meist der Außenverteidiger) versucht hier dann Verbindungen zur Doppelsechs herzustellen und bewegt sich zumeist im rechten Halbraum. Der Achter als “obere Ecke” des Dreiecks positioniert sich ebenfalls initial im rechten Halbraum zwischen Abwehr und Mittelfeld. Von dort bewegt er sich entweder auch in Richtung Zentrumsspur oder kippt auf die Ausgangsposition des Außenverteidigers ab. Das sorgt gegen passivere, raumorientierte Gegner häufig dafür, dass er eine recht sichere Anspielstation aus dem Druck ist.
Am linken Flügeldreieck ist die Positionierung leicht versetzt. Der Linksverteidiger bildet die enge Doppelsechs für den 3-2 Aufbau. Der Flügelspieler hält genau wie auf der rechten Seite die Breite, ist aber tiefer und damit besser an die Doppelsechs und den linken Innenverteidiger angebunden. Der Achter positioniert sich fast schon auf Höhe der letzten Pressinglinie im linken Halbraum. Wie schon am rechten Flügeldreieck angedeutet, ist Luckenwalde sehr gut darin, über gruppentaktisch abgestimmte Freilaufbewegungen Räume zu öffnen und somit den freien Spieler zu finden.
Eine sehr spannende, weil vergleichsweise einfachere Lösung ist auf der Grafik oben zu sehen. Luckenwalde schafft es, den freien Spieler im 3-2 Aufbau zu finden. In diesem Fall ist das der linke Sechser (nominell der Linksverteidiger). Er kann mit sehr viel Zeit und Raum aufdrehen. Noch bevor er einen klaren freien Fuß hat, um die zweite Pressinglinie zu brechen, setzt sich der Achter nach außen ab und bindet den gegnerischen Außenverteidiger. Zeitgleich setzt sich der Stürmer von Luckenwalde, der initial am rechten Innenverteidiger des Gegners stand, leicht nach innen ab. Das sorgt kurzzeitig dafür, dass der gegnerische Innenverteidiger sich dafür entscheidet, seine Position leicht in Richtung des Stürmer anzupassen. IIn das kurzzeitig aufgehende Passfenster zwischen Außen- und Innenverteidiger startet der Flügelspieler, der aus der Außenspur kommt und erhält den Pass vom ballbesitzenden Sechser. Diese kleinen Anpassungen der eigenen Positionierung in Kombination mit dem Erkennen der deshalb freiwerdenden Räume zeichnen das Übergangsspiel von Luckenwalde aus.
Aus den vielen Rotationen am Flügeldreieck ergeben sich immer auch Situationen, in denen Luckenwalde es gruppentaktisch nicht schafft, jede einzelne Freilaufbewegung sinnvoll auszubalancieren. Meiner Meinung nach ist das Problem hier aber nicht die Anzahl der ohnehin eher kleinräumigen Bewegungen, sondern deren Timing. Sobald die Situation dynamisch ist, Luckenwalde also nicht mehr statisch in ihrem 3-2 Aufbau steht (weil zum Beispiel ein Innenverteidiger linienbrechend andribbelt), sind die Spieler gezwungen, schnellstmöglich ihre Positionierung anzupassen. Hier kommt es dann zu Situationen, in denen sich entweder zwei bis drei Spieler unpassend zum ballbesitzenden Spieler hin bewegen und damit die restlichen Spieler weiträumig isolieren. Oder die ballnahen Spieler passen ihre Positionierung “zu deutlich” an – der Linksverteidiger auf der Doppelsechs verlässt den Halbraum und kippt zurück auf die Außenspur, der Achter verlässt den Halbraum und bietet sich kurz in der Zentrumsspur an. Das hat zwar initial zur Folge, dass der Flügelspieler den Ball bekommt, indem er seine Positionierung nach innen anpasst. Er ist aber sowohl geschlossen als auch isoliert, weil sich alle ballnahen Mitspieler “in die Isolierung freigelaufen haben”. Aus diesen Situationen würden erfahrene Spieler eventuell eine gewonnene Eins-gegen-Eins Situation mit Gegner im Rücken machen, das schaffen die Spieler von Luckenwalde aber auch nicht immer.
Der Verlust des Trademarks
Luckenwalde ist aktuell Letzter – woran liegt das? Tatsächlich ist die Einbindung der Stärken der eigenen Spieler super. Alle Spieler haben ein gutes Freilaufverhalten, passen permanent die Position an oder warten wenn nötig in ihrem Raum. Sie haben eine sehr gute Passtechnik und einen sauberen ersten Kontakt, sind taktisch sehr diszipliniert und setzen (wahrscheinlich) den vorgegebenen Plan super um. Es scheiterte in der Hinrunde der Saison dann oft daran, die Rotationen gruppen- und mannschaftstaktisch so auszubalancieren.dass der in Folge der Rotation ballbesitzende Spieler mehrere Optionen für eine Folgeaktion hat. Zu häufig war das Ergebnis der Rotation zwar der gefundene freie Spieler, der aber aufgrund der nicht dazu passenden Freilaufbewegungen der anderen Spieler auch sofort isoliert war. Auch individualtaktische Probleme wie das Aufdrehen der Flügelspieler zur freien Seite bzw. aus dem Druck oder das Lösen von Eins-gegen-Eins Situationen am Flügel verhinderten, dass Luckenwalde aus ihren sehr guten Ansätzen im Übergangsspiel, mehr Kapital schlagen konnte. Dennoch hatten ihre Leistungen im Übergangsspiel in den ersten Saisonspielen zur Folge, dass viele Gegner passiv(er) spielten und Luckenwalde in der Regionalliga trotz der finanziellen und infrastrukturellen Nachteile als spielstarkes Team wahrgenommen wurde. Das qualifiziert Luckenwalde definitiv dazu, in unserem Adventskalender vertreten zu sein. Kein anderes Team der Regionalliga findet derart variable Lösungen im Übergangsspiel.
2 Kommentare Alle anzeigen
tobit 3. Dezember 2024 um 10:14
Ich Feier es gerade sehr, dass du die hohe Torwartkette, die offensichtlich gespielt wird, einfach als gegeben stehen lässt und kaum darauf eingehst. Viele hätten sich wahrscheinlich darauf fokussiert, weil es in der Extremität ja doch arg selten ist. Aber meist ist ein hoher TW ja doch eher ein „dummy“-Spieler, der außer der Positionierung nicht viel interessantes tut bzw meist nur in nach hinten abgesetzter Position (wie ein „normaler“ TW) angespielt wird.
Schade, dass ein so cooler Ansatz dann nicht mit Punkten belohnt wird. Aber es klingt ja an, dass Luckenwalde eh strukturell so abgeschlagen ist, dass sie unabhängig vom Ansatz mit so einem Saisonverlauf zu rechnen hatten.
Laurin 3. Dezember 2024 um 17:18
Oh, mal was zur Regio Nordost, sehr schön.
Luckenwalde ist ja seit Jahren ein spannender Verein, der extrem auf Talente setzt und unter Braune auch ambitionierten Fußball spielt.
Hab sie am 2.Spieltag bei „meiner“ Lok gesehen und da fand ich die Strukturen auch sehr interessant (so ein bisschen deZerbi-mäßig gegen hohes Pressing, gegen tieferes Verteidigen die Struktur mit den eingerückten AV). Konnten sie in dem Spiel nur kaum nutzen, wegen der Leipziger Intensität.