Türchen 2: Atalanta Bergamos Manndeckungen
Seit Jahren ist das manndeckende Pressing das Herzstück der Erfolgsgeschichte von Gian Piero Gasperini und Atalanta Bergamo. Mit Gasperinis Amtsübernahme etablierte sich der Klub dauerhaft in der Spitzengruppe des italienischen Fußballs. In der jüngeren Vergangenheit gelang es Atalanta sogar, den bis dahin „unbesiegbaren“ Lauf von Xabi Alonsos Bayer Leverkusen im Europa-League-Finale zu stoppen und sich ihren ersten Europapokal zu sichern – ein historischer Triumph für die Lombardei.
Die Dynamik des Spiels lässt sich zwar gezielt anstoßen, aber nur begrenzt kontrollieren. Diese Herausforderung nutzt Gasperini geschickt aus und lenkt sie mit seiner manndeckenden Spielweise in vorteilhafte Bahnen. Doch es geht nicht nur um die taktische Ausrichtung; es ist ebenso eine Frage des Vertrauens und der Überzeugung.
Wenn eine Mannschaft fest davon überzeugt ist, jeden Zweikampf gewinnen zu können, verändert sich ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten auf dem Feld. Gasperini kombiniert hier geschickt mentale und taktische Elemente. Der Schlüssel liegt im positiven Feedback-Effekt: Wird der Ball gewonnen, stärkt sich das Vertrauen in den eigenen Spielfluss, und das Gefühl der Kontrolle über das Spiel wächst. Atalantas Manndeckungen sind in diesem Kontext nicht nur ein taktisches Mittel, sondern Teil eines selbstverstärkenden Systems, das sich immer weiter aufbaut und stabilisiert.
Wie die Manndeckung ausgeführt wird
Ein Beispiel für diesen Effekt fand sich auch im Europa-League-Finale 2023/24 zwischen Atalanta und Leverkusen, als der Faktor Momentum eine zentrale Rolle spielte: Bereits früh in der Partie hatte Leverkusen erhebliche Schwierigkeiten, in das letzte Drittel zu gelangen. Immer wieder mussten sie den hohen Ball gegen eine kopfballstarke Bergamo-Abwehr spielen – und immer wieder verloren sie den Ball, was Atalanta die Chance zum Umschalten gab.
In einer Szene aus der Anfangsphase des Spiels sehen wir, wie Atalanta über ihre Außenstürmer die Halbraumverteidiger von Leverkusen vertikal anpresst. Die vertikale Laufrichtung und die gewählten Winkel führen dazu, dass der ballnahe zentrale Mittelfeldspieler von Leverkusen im Deckungsschatten isoliert wird. Gleichzeitig wird der ballferne zentrale Mittelfeldspieler von Ederson, dem Zehner von Atalanta, ebenfalls in den Deckungsschatten genommen, sodass auch die flache, ballferne diagonale Passoption für Leverkusen geschlossen wird.
Zusätzlich wird der linke defensive Mittelfeldspieler von Leverkusen durch einen weiteren Deckungsschatten neutralisiert. Scamacca als zentraler Stürmer und Ederson als Zehner sind die diagonalen Gegenspieler des Ballführenden. Ihre Positionierung ist entscheidend: Sie nehmen eine offene Stellung zum Ball ein, die es ihnen ermöglicht, im Falle eines Zuspiels auf den direkten Gegenspieler schnell zu reagieren und gleichzeitig die Körperhaltung für den Deckungsschatten zu bewahren.
Die offene Stellung ist eine Körperhaltung, bei der der Spieler so positioniert ist, dass er sowohl den Ball als auch den Gegner jederzeit im Blick hat, ohne die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Der Körper ist leicht seitlich zum Gegner ausgerichtet, die Füße stehen leicht versetzt, der Schwerpunkt liegt auf den Fußballen. Diese Haltung ermöglicht es, schnell in alle Richtungen zu reagieren. Die Knie sind leicht gebeugt, der Oberkörper bleibt aufrecht, aber flexibel, um sowohl den Ballführenden als auch mögliche Passwege des Gegners zu antizipieren.
Im Gegensatz dazu steht der Spieler in der geschlossenen Stellung dem Gegner direkt gegenüber, der Körper ist möglichst frontal ausgerichtet. Die Füße stehen schulterbreit, der Schwerpunkt liegt ebenfalls auf den Fußballen. Ziel ist es, den Raum eng zu machen und dem Gegner keine Möglichkeit zu lassen, sich zu drehen oder zu entkommen. Der Spieler setzt den Gegner unter Druck, indem er gegebenenfalls Körperkontakt hält und den Zugriff auf den Ball kontrolliert.
Diagonales Abschneiden
Das primäre Ziel dieser Spieler ist es, die diagonale Verbindung zur gegenüberliegenden Spielhälfte abzuschneiden. Dies ermöglicht auf der bespielten Seite einen effektiven Zugriff. Besonders relevant wird diese Maßnahme, wenn die Flügelverteidiger von Leverkusen in Richtung der Halbraumverteidiger abkippen. In solchen Situationen können die Außenverteidiger von Atalanta sofort in den Zweikampf gehen und so den gegnerischen Spielaufbau stören.
Die Grundlage von Atalantas Pressing ist eine reaktive 1:1-Zuordnung, die eng mit dem ausgeprägten Verfolgen der Gegner verbunden ist. Besonders die erste Pressinglinie spielt dabei eine zentrale Rolle, indem sie die ballferne Seite abschneidet und somit die Schwächen des Systems kaschiert. Gelingt es dem Gegner, diese Pressinglinie in Bewegung zu versetzen, verschiebt sich der Schnittpunkt der diagonalen Linien und das Spiel in den Zwischenlinienraum wird potenziell möglich. Genau diese Verschiebung gilt es zu verhindern.
Während auf der ballfernen Seite eine offene Stellung zum Ball und zum direkten Gegenspieler erwartet wird, zeigt sich auf der Ballseite eine strikte Zuordnung zum Gegner. Dieses enge Deckungsverhalten sorgt dafür, dass vertikale Bewegungen zum Ball meist abgefangen werden. Ein Pass wird in der Regel nicht gespielt, da ballführende Spieler vermeiden, direkt in den Druck des Gegners zu spielen. Sollte dieser Pass jedoch dennoch gespielt werden, wird sofort „durchgepresst“. Das bedeutet, dass der Kontakt zum ballführenden Gegner unverzüglich gesucht wird, um ihm keinen Raum oder Zeit zu lassen.
Dieser aggressive Pressingansatz hat einen taktischen Hintergrund: Bei der Ballannahme eines Vertikalpasses steht der Passempfänger oft mit dem Rücken zum eigenen Tor und zum Gegner. Ein Ballverlust in dieser Situation wäre äußerst gefährlich und könnte Atalanta eine aussichtsreiche Kontersituation eröffnen. Einfach gesagt: Es ist auch eine unangenehme Situation für den Passempfänger, in dieser Position einen Pass zu empfangen.
Fouls als Bestandteil
Ein weiterer zentraler Aspekt von Bergamos Spielweise ist die physische Präsenz im Zentrum. Dies spiegelt sich in den Zweikampfstärken von Spielern wie De Roon, Pasalic und Ederson wider. Diese physische Kontrolle des Zentrums – mit durchschnittlich 17 Tacklings pro Spiel, was Platz 3 in der Serie A bedeutet – geht allerdings oft mit zahlreichen Fouls in den zentralen Bereichen einher. Die Fouls von Atalanta sind mehr als nur ein Nebeneffekt ihres intensiven Pressings – sie sind ein bewusst eingesetztes taktisches Mittel, das in den engen Räumen des Spiels ihre Funktion erfüllt. Atalanta nutzt diese Fouls, um das Raum-Zeit-Verhältnis zugunsten der eigenen Mannschaft zu manipulieren. Sie stören den Spielfluss des Gegners nicht nur durch das physische Eingreifen, sondern auch, um rhythmische Unterbrechungen zu erzeugen, die das Angriffsspiel des Gegners destabilisieren. Dieser Aspekt ist integraler Bestandteil ihrer defensive Stabilität: Durch das gezielte Einleiten von Fouls verhindern sie nicht nur gefährliche Situationen, sondern sichern sich auch Zeit, um das defensive Gleichgewicht wiederherzustellen.
Jedoch lässt sich in der Art und Weise, wie Atalanta diese Fouls einsetzt, eine gewisse taktische Fragilität erkennen. Das vertikale Abkippen der Gegner kann in Kombination mit den Defensivbewegungen von Atalanta zu strukturellen Lücken führen. Insbesondere durch das diagonale Abschneiden der ballfernen Seite und die engen Manndeckungen auf der bespielten Seite klaffen die beiden Hälften der Mannschaft hin und wieder auseinander. Dies erzeugt horizontale Räume, die der Gegner zu nutzen weiß. In solchen Momenten ist die defensive Absicherung der Innenverteidiger auf die vertikale Absicherung angewiesen. Besonders gefährlich wird es, wenn sich Spieler aus der letzten Linie in diese Räume abkippen, was eine koordinierte Verfolgung durch die Verteidiger erforderlich macht – eine Aufgabe, die nicht immer fehlerfrei ausgeführt wird.
Das Verfolgen der Gegner ins Mittelfeld stellt eine fundamentale, aber risikobehaftete Komponente im Pressing von Atalanta dar. Einerseits verstärkt es die defensive Präsenz und erhöht die Chancen, den Ball früh zu erobern, andererseits entsteht dadurch ein erheblicher Raum im Rücken der Verteidigung, der vom Gegner potenziell ausgenutzt werden kann. Diese Ambivalenz wird besonders in der Entscheidung der Innenverteidiger deutlich: Sie müssen in jedem Moment abwägen, ob sie das Risiko eines Ballgewinns eingehen und/oder ein Foul begehen, um einen Gegenangriff zu unterbinden. Besonders problematisch wird diese Entscheidung durch die begrenzte Anzahl an Fouls, die Innenverteidiger ohne Konsequenzen begehen können. Diese Tatsache verschärft die ohnehin schwierige Balance zwischen einer effektiven Ballgewinne und der Vermeidung von gefährlichen Fouls.
Es zeigt sich, dass Atalantas aggressive Zweikampfführung das defensive System einerseits stabilisiert, da sie eine hohe Intensität im Pressing direkt durch das aggressive Herausrücken und indirekt durch die Stabilitäts-Wirkung, aufrechterhält. Andererseits birgt sie auch deutliche Risiken: Ein Foul bricht nicht nur das Pressing, sondern auch die Möglichkeit, den Angriff sofort weiterzuführen und erhöht das Risiko, selbst in gefährliche Kontersituationen zu geraten. Diese Dynamik zwischen Ballgewinn und Foul stellt einen zentralen Konflikt in Atalantas Spielweise dar und verdeutlicht, wie stark der Erfolg des Pressings von der präzisen Balance zwischen aggressiver Verteidigung und taktischem Kalkül abhängt.
Schwächen gegen Außenverteidiger (und Torspieler)
Neben dieser räumlichen Ambivalenz lässt sich auch eine positionelle Unklarheit an zwei entscheidenden Stellen des Spielfelds erkennen – bei den Außenverteidigern und dem Torhüter (auch überzahlbedingt). Es fällt auf, dass die Spieler zwar genau wissen, wer für die Deckung der Außenverteidiger verantwortlich ist, dabei jedoch stets darauf bedacht sind, die Absicherung durch tiefere Positionen vor dem Ballbesitz zu wahren, um auf mögliche lange Bälle vorbereitet zu sein. Dem gegnerischen Außenverteidiger wird bewusst mehr Zeit am Ball zugestanden, da dieser – wie auch Pep Guardiola und Diego Simeone betonen – als der am wenigsten gefährliche Spieler gilt.
„Wenn du gegen ein Team spielst, das die Außenverteidiger stark ins Spiel einbindet, weißt du, dass du den Großteil des Spiels durch die Mitte oder über die Flügelstürmer kontrollieren kannst. Außenverteidiger sind oft die weniger gefährlichen Spieler.“
– Diego Simeone
Atalanta setzt in diesem Aspekt eine reduzierte Form der raumorientierten Manndeckung ein, bei der dem Gegner bewusst mehr Zeit und Raum gewährt wird, um bestimmte Bereiche oder die eigene Rückwärtsbewegung länger abzusichern. Diese Spielweise zeichnet sich durch eine strikte 1:1-Zuordnung aus, wobei jedoch auch Elemente der Raumorientierung integriert werden. Ein anschauliches Beispiel bietet eine Szene aus dem Mittelfeldpressing gegen Como: Während de Roon aus einer tieferen Position heraus mit seinem Deckungsschatten den gegnerischen offensiven Mittelfeldspieler kontrolliert, wird das Pressing erst ausgelöst, wenn der Gegner in eine gefährlichere Zone vordringt. In diesem Moment verschiebt sich der Innenverteidiger, in diesem Fall Djimsiti, nahtlos, um die Manndeckung auf den ballführenden Spieler zu übernehmen und das defensive Gleichgewicht wiederherzustellen.
Ähnlich verhält es sich bei Pašalić im offensiven Mittelfeld. Er positioniert sich so, dass er den Deckungsschatten auf seinen Gegenspieler im Rücken aufrechterhalten kann. Auf diese Weise formt Atalanta gewissermaßen einen „Bogen“ um den Außenverteidiger und bleibt gleichzeitig flexibel in der defensiven Verschiebung.
Der „Bogen“ in Atalantas Defensivstruktur sorgt zusammen mit den konsequenten Manndeckungen dafür, dass sämtliche flachen Passoptionen des Gegners – sei es vertikal, horizontal oder diagonal – effektiv blockiert werden. Selbst der Rückpass zum ballnahen Innenverteidiger wird zunächst unterbunden, was den gegnerischen Außenverteidiger dazu zwingt, einen langen Ball zu spielen. Um auf diese Spielsituation vorbereitet zu sein, positioniert sich der zentrale Mittelfeldspieler, in diesem Fall Ederson, zentral, um den Raum zwischen den Innenverteidigern abzusichern, die eng an ihren direkten Gegenspielern stehen. Diese weniger strikte Manndeckung wird erst durch den Deckungsschatten von Pašalić möglich. Gleichzeitig behält Ederson den gegnerischen linken Sechser im Auge, falls Pašalić das Pressing statt de Roon auslösen sollte. Pašalić sorgt in dieser Struktur dafür, dass der Deckungsschatten auf den gegnerischen offensiven Mittelfeldspieler aufrechterhalten wird, während der zentrale Mittelfeldspieler, Ederson, den Raum zwischen den Innenverteidigern absichert und alternative Passwege blockiert.
Diese weniger direkt ausgeführte Manndeckung in Kombination mit flexiblen Verschiebungen stellt sicher, dass Atalanta sowohl auf vertikale, horizontale als auch diagonale Passoptionen des Gegners schnell reagieren kann, wodurch die Defensive stets gut organisiert bleibt.
Das Gewinnen von Spielen durch gezielte Organisation erfordert insbesondere gegen Mannschaften, die auf Abkippbewegungen und Überladungen setzen, eine hohe Risikobereitschaft der Spieler. Besonders die Verteidigungslinie wird dabei enorm beansprucht. Wie bereits angesprochen, führen solche Situationen häufig zu Foulspielen, um gefährliche Szenen zu entschärfen. Doch es lohnt sich, auch die Vorgeschichte dieser Situationen genauer zu betrachten: Ein anschauliches Beispiel finden wir im Spiel zwischen Atalanta und Bologna in der Vorsaison. Hier setzte Bologna gezielt auf eine Überladung der ballnahen Seite sowie auf die letzte Linie, um den Druck auf die gegnerischen Manndeckungen zu erhöhen.
Atalanta reagiert in diesen Szenen mit einer sehr konsequenten Manndeckung. Die Bergamasken, die kollektiv manndeckend agieren, gehen vertikal in ein Pressing gegen die Viererkette über. Dabei wird der direkte Gegenspieler nicht einfach „übergeben“, sondern für den jeweiligen Spielzug – präziser gesagt – „übernommen“. Verändert ein Spieler jedoch seine Position im Spielaufbau während des Spiels, passt sich auch Atalanta an. Diese Umstellungen wirken dabei stets sehr abgestimmt und routiniert. Die ballfernen Außenverteidiger schieben in solchen Szenen – ebenso wie die ballfernen Flügelspieler und Stürmer. Insbesondere die Flügelspieler und Stürmer isolieren dabei die ballferne Seite.
Die Spieler werden generell weit verfolgt. Dies betrifft sowohl das Abkippen im vertikalen Sinne (dargestellt durch schwarze Pfeile und einen roten Kreis) als auch das Herausschieben auf den Flügel im horizontalen Sinne (graue Boxen). Besonders beim Verfolgen des horizontalen Verschiebens wird wenig Wert auf das Halten des Deckungsschattens zu den anderen Linien gelegt, was dazu führt, dass der Gegner oft den Zwischenlinienraum anvisieren kann. Ein ähnlicher Fokus auf den direkten Gegenspieler ist auch beim Verfolgen von Abkippen zu beobachten. Hierbei werden ebenfalls weite Wege mitgegangen – ohne dass eine Übergabe im Angriffsablauf erfolgt – wodurch ein Loch im Rücken der Abwehr entstehen kann. Dieses Loch wird jedoch nicht sofort von anderen Verteidigern aufgefüllt, da diese sich ebenfalls auf ihre direkten Gegenspieler konzentrieren.
Gerade diese Punkte machen die Abwehr tendenziell anfällig für lange Bälle, hierbei ist es eben essenziell, dass die erste Pressinglinie vertikal anläuft und die Abstände zu den direkten Gegenspielern schon in der Ausgangsposition gering sind, um diese langen Pässe zentral zu unterbinden.
MX hat sich ursprünglich schon in früher Jugend im Positionsspiel à la Pep Guardiola verloren, doch jetzt hat ihn auch der Relationismus komplett gepackt. Seine Texte geistern auf Der-Jahn-Blog und miasanrot rum. Im NLZ von Jahn Regensburg hat er seine Spuren hinterlassen, aber seit ein paar Wochen treibt er sein Unwesen bei einem anderen bayerischen Team.
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