Das finale Urteil über Toni Kroos – SZ

Wie bewertet man eigentlich das Spiel eines Spielers wie Toni Kroos in 2024, jetzt, da seine Karriere zu Ende gegangen ist? Und wer ist hier eigentlich das Opfer: derjenige, der Kroos’ Spiel bewerten will, oder Toni Kroos, der gerne realistisch bewertet wäre für seine Leistung? Soll man mal ein Fax an den Tegernsee schicken und warten, bis Uli Hoeneß anruft? Vielleicht lieber nicht. Lothar Matthäus wird schon eine Meinung dazu haben, aber ob die morgen noch dieselbe ist, weiß man auch nicht.

Für die Bewertung eines Fußballspielers lassen sich ganz verschiedene Kategorien heranziehen. Allzu oft spielen Tore und Vorlagen die Hauptrolle. Hat ein Stürmer mit zwei Toren oder mehr wohl schon einmal eine Note schlechter als 2,5 bekommen, wenn wir von Schulnoten ausgehen? Kaum, selbst wenn er sonst nur wie Falschgeld herumgelaufen ist und unabhängig davon, wie die Tore eigentlich gefallen sind. Selbst wenn wir die Tore, Vorlagen und die berüchtigte Chancenverwertung außen vor lassen, finden sich für die Bewertung eines Angreifers vergleichsweise griffige Kriterien, auf die sich viele einigen können und die sich dann auch leicht an ein paar Highlights oder “Lowlights” besprechen lassen.

“Gibt es denn keine solchen Highlights bei einem Toni Kroos?”, könnte man fragen. Und die Antwort wäre natürlich ein kräftiges: “Doch!” Es ist immer besser, das Konkrete nicht zu vernachlässigen. Wenn man darum die vergangene Europameisterschaft, Toni Kroos letzten Wettbewerb, in den Blick nimmt, braucht man nur knapp zehn Minuten Geduld, um ein erstes reel-würdiges Highlight aufzutun. Kroos liefert den secondary assist, der in anderen Sportarten als Begriff bereits fest etabliert ist und es vielleicht auch im Fußball werden dürfte. Deutschland rückt immer wieder mit zehn Mann weit in die gegnerische Hälfte, rückt auch immer mal wieder heraus, doch Schottland steht schon so früh im Spiel unter hohem Druck und fällt sehr weit zurück. Der Ball zirkuliert, häufig auch mal in die Tiefe, selten ist ein schottisches Bein dazwischen. Meistens dann nur eines oder zwei, bevor der Ball wieder unter Deutsche Kontrolle gelangt. Der Ball läuft auch immer wieder über Kroos, der der wichtigste Akteur im deutschen Passspiel ist. Das deutsche Team befragt immer wieder die schottische Verteidigung, stellt sie vor unterschiedliche Aufgaben, spielt sie sich zurecht, bis schließlich auf der rechten Seite um und vor Kimmich ein Raum immer weiter klafft. Kroos kann sich aufdrehen, den Ball richtig auf den rechten Fuß legen, telegraphiert den Pass eigentlich vielleicht zu sehr. Das sind vier Kontakte und so ziemlich das Gegenteil von no look, schlägt den Pass, rutscht weg, landet auf dem Steiß – nicht das einzige Mal in diesem Spiel. Das ist für Kimmich allerdings egal. Die erste Welle bewegt sich auf den Strafraum zu, während er sich ein Stück nach innen orientiert, von wo er besonders gerne flankt. Die erste Welle hat sechs Schotten tief geschwemmt, im Rückraum gestikuliert Wirtz, der die zweite Welle reitet. Selbst im Moment des Abschlusses hat er noch wenigstens drei Meter Platz und netzt ein.

Beim zweiten Tor reicht es dann halt nur für den tertiary assist, wenn man so will. Kroos hat wieder viel Zeit, diesmal in der ersten Aufbaulinie. Diesmal sind es fünf Berührungen und diesmal bleibt der Fernschreiber, wo er hingehört, nämlich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Havertz startet diagonal aus dem rechten Halbraum in den linken, während Kimmich auf rechts startet. Kroos täuscht den Pass auf Kimmich an, spielt dann aber kurz nach vorne auf Gündoğan, jetzt starten auch Musiala und Wirtz tief, doch Kimmich und Musiala schalten dann schnell wieder einen Gang zurück, während die Schotten als sich arg schlängelnde Kette die Tiefe verteidigen wollen. Aufgrund der großen Unordnung der Kette kann Gündoğan diagonal auf Havertz spielen, ohne dass der ins Abseits geriete. Der kann auf Musiala zurücklegen, der nur halbherzig von einem nachgerückten Schotten bedrängt wird. Musiala windet sich wie eine beschworene Kobra, womit er sich noch mehr Platz verschafft, legt sich den Ball zurecht und versenkt.

Als es fast zum 3:0 kommt, ein ähnliches Bild: Kroos bekommt den Ball in der ersten Aufbaulinie von Rüdiger rübergeschoben. Diesmal gönnt er sich sechs Berührungen, bevor er auf Gündoğan durchsteckt, der eine gefühlte Ewigkeit schon zwischen den Linien gelauert hat. Der findet den üblichen Keil aus Wirtz, Havertz und Musiala vor und um sich, als er sich ohne jeglichen Gegnerdruck aufdreht, aber auch die Außenverteidiger, die im Grunde heimliche Flügelverteidiger sind, rücken nach vorne. Wirtz zieht nach innen und kreuzt vor ihm, womit er zwar die beiden Schotten auf der deutschen linken Seite nicht völlig bindet, aber doch deren Aufmerksamkeit auf sich zieht, sodass sie Mittelstädt so lange ignorieren, bis Gündoğan in dessen Lauf nach außen legen kann. Eine Schotte riecht den Braten noch im letzten Moment, bevor er auf den Tisch kommt, und grätscht, kann den Ball aber nicht erobern. Mittelstädt kann so mit viel Platz in den Rückraum flanken, wo Musiala sich wiederfindet, der in einen Trab übergegangen war, als Mittelstädt, Wirtz und Kimmich mit ihren intensiveren Läufen die meisten Augen auf sich hatten. Musiala hat Platz, aber keine freie Schussbahn und auch keinen Passweg, der sich direkt anbietet, also nutzen gleich zwei Schotten die Gelegenheit und attackieren ihn, sobald sie ihn erreichen können. Da ist Musiala dann aber schon am oder im Strafraum und wird von beiden Schotten getroffen. Erst gibt es Elfmeter, dann doch nur Freistoß.

Als es dann wirklich Elfmeter und damit dann auch das wirkliche 3:0 gibt, müssen wir noch etwas weiter zurückgehen. Kroos hat sich für eine Weile zwischen die Innenverteidiger fallen lassen, anstatt auf ihre linke Seite. Nach einigem Hin- und Hergeschiebe macht er das Spiel schnell mit einem Pass auf Musiala, der sich recht weit nach links außen bewegt hat und sich in Richtung Mittellinie hat zurückfallen lassen. Musiala hat viel Platz und kann sich ganz in Ruhe aufdrehen. Er hat mehrere Anspielstationen vor sich, entscheidet sich aber für das Dribbling nach vorne durch den linken Halbraum bis in die Mitte, während tief drei Deutsche von fünf Schotten bewacht werden. Die beiden Außenverteidiger haben damit etwas mehr Raum, wobei der zunächst ballferne Kimmich nicht so hoch steht wie Mittelstädt. Musiala ist von zwei Schotten nicht zu stoppen, die ihn nur eskortieren. Im rechten Halbraum angekommen stehen plötzlich er und Gündoğan gegen fünf Schotten, die sich alle dort zusammenziehen. Musiala spielt  auf den nahen Gündoğan, der auf Kimmich nach außen legt, der unbedrängt chippen kann, auch weil Musiala auch ohne Ball noch so viel Gefahr ausstrahlt, dass er die Schotten mitschleift wie ein Tornado. Zwei Deutsche und ein Schotte steigen hoch. Gündoğan köpft, Torwart Gunn kann nur nach vorne klatschen, Havertz versucht den Nachschuss, tritt aber über den Ball, dann beidbeiniger Einsatz gegen Gündoğan. Am Ende steht das 3:0.

In der zweiten Halbzeit sehen wir den Fehlpass, den einen, den wir in die “low lights” packen. Die Schotten stehen tief in der eigenen Hälfte, sechs Deutsche versuchen ganz vorne eine Fünferkette in alle Richtungen auseinanderzuziehen. Kroos will auf Wirtz spielen, der mit einer guten Annahme vielleicht etwas erreichen könnte, oder vielleicht mit einer Ablage auf Gündoğan daneben, aber McGinn kann den Pass mit einem weiten Ausfallschritt aufhalten und versucht einen Konter einzuleiten, der allerdings nicht weit kommt.

Auch bei Tor Nummer vier ist Kroos wieder Teil der Passkette, allerdings auf noch weniger auffällige Art. Nach einem schottischen Freistoß, der nichts einbringt, baut Deutschland nach einem Einwurf tief in der eigenen Hälfte auf. Kroos bekommt den Ball halbrechts auf Höhe des Elfmeterpunkts im eigenen Strafraum. Schottland formiert sich etwas zögerlich neu. Kroos schaut sich das gut an, bevor der Ball bei ihm landet, dribbelt ein paar Schritte aus dem Strafraum und legt nach links auf Mittelstädt. Der läuft noch ein paar Schritte und legt nun nach ganz links auf Musiala. Der bekommt erst etwa 20-25 Meter vor der Grundlinie den ersten Gegnerdruck und dribbelt nach innen ins Halbfeld. Groß hebt den Arm, Gündoğan startet in den Strafraum, Füllkrug, der kurz gekommen war, am Strafraumrand halblinks dreht sich vom Tor weg. Gündoğan lässt den Ball für Füllkrug liegen, der ihn sich einmal zurechtlegt und das Ding dann völlig humorlos reinhämmert. Wer mitgezählt hat, weiß: quaternary assist Toni Kroos. Wie viel Absicht da jetzt bei Gündoğan dabei war und ob da noch ein schottischer Fuß dran war, wir wollen den Mantel des Schweigens darüber breiten.

In der 75. Minute steht Deutschland dann plötzlich mit vier Spielern in der ersten Linie mit Kroos ganz links am Ball – Groß lässt sich generell gerne tiefer fallen im Aufbau in dieser zweiten Hälfte als Andrich zuvor, so auch hier. Da ist wieder dieser Blick und diese ruhigen Schritte. Er gibt den Ball weiter zu Groß und hinterläuft ihn, wodurch er einen Schotten mitzieht und Müller Platz verschafft, der den Pass von Groß bekommt. Müller nähert sich dem Strafraumeck, entscheidet sich aber für die Flanke, bevor er es erreicht. Füllkrug steht in der Mitte mehr oder weniger 1-gegen-1, stiehlt sich aber davon zwischen zwei Verteidiger. Der Ball kommt nicht auf den Kopf, sondern auf die Brust. Füllkrug lässt abtropfen und zieht ab. Der Torwart ist dran, doch das Leder senkt sich in hohem Bogen dennoch hinein. Kroos’ zweiter tertiary assist, oder fast, wenn es nicht Abseits gewesen wäre.

Und dann verlässt Kroos das Feld. Liest sich gut, sieht sich auch gut an. Die spannende Frage ist natürlich, wie viel so ein secondary, tertiary oder quaternary assist jetzt genau wert sein soll im Vergleich zu einem Tor oder einem (primary) assist. Die meisten würden wahrscheinlich sagen, je weiter man an das Ende einer Passkette kommt, die zum Tor führt, desto wichtiger. Und selbst wenn das nicht jeder so sehen sollte, scheint kaum zu bestreiten, dass das zumindest die Gewichtung ist, die in der de facto normalerweise vorgenommen wird. Nicht ganz zufällig bekommt ein Stürmer, der drei Tore schießt, fast immer eine 1, ein Verteidiger, ein Spieler am Anfang oder in der Mitte dieser drei Passketten, die zum Tor führen, aber eher nicht.

Was haben die Medien daraus gemacht? Nehmen wir mal den kicker zur Hand: Note 2. “Rutschte vor dem 1:0 beim Flügelwechsel aus, trotzdem kam der Ball auf Kimmich an (10.). Überhaupt landete von 102 Pässen nur einer beim Gegner. Eine Boss-Vorstellung vom Strategen, der seinen Heilsbringer-Status unterstrich.” Der Heilsbringer steht dann allerdings trotzdem 0,5 Notenpunkte hinter der erwachsenen Version von Bambi (jetzt mit Geweih) zurück. Bei SofaScore war es dann eine 7.9, identisch mit Musiala, aber beide knapp hinter Havertz 8.0. Nunja, das sind alles feine Unterschiede. Nehmen wir noch WhoScored dazu, sieht man schon, dass man auch anderer Meinung sein kann. Da steht Musiala mit 8.7 deutlich vor Kroos, der mit 7.6 aber immerhin noch mit drittbester Spieler auf dem Feld war. Wer hat jetzt Recht? Und warum? Wir wollen die Frage vertagen.

Vielleicht könnte der Vergleich mit Ungarn Erkenntnisse liefern? Hier wird es etwas zäher mit dem highlight reel. Das 1:0 gegen Ungarn ist sozusagen das Kroos-fernste deutsche Tor des Turniers bis zu diesem Zeitpunkt. Gündoğan erobert den Ball im Strafraum und legt ihn Musiala vor. Selbst daran, wie der Ball dorthin kam, ist Kroos kaum beteiligt. Gehen wir zurück zu Kroos’ letzter Ballberührung, sehen wir ihn quer auf Tah spielen und der auf Rüdiger, um den Ball von der linken auf die rechte Seite zu bringen. Rüdiger auf Wirtz, der auf Kimmich, der ganz nach vorne auf Havertz. Der Ball läuft gut auf der zeitweilig attraktiveren Seite, immerhin an diesem Seitenwechsel hat Kroos seinen Anteil. Havertz verliert den Ball, wobei er vielleicht gefoult wird. Ein Ungar ist danach mit dem Kopf dran irgendwo im Niemandsland. Rüdiger hält als nächster den Schlappen rein, um den Ball wieder unter deutsche Kontrolle und ins Angriffsdrittel zu bringen. Der kommt auch durch zu Wirtz auf rechts. Der lässt Havertz durchlaufen und spielt scharf in die Mitte an die Strafraumkante auf Musiala. Der verzögert, bis Gündoğan neben ihm in den gefährlichen Raum vordringt und passt auf diesen. Gündoğan kann den Ball nicht kontrollieren, verliert den Ballbesitz, erobert ihn aber zurück und legt dann endlich auf Musiala vor, der sich in der allgemeinen Verwirrung das Tor holt.

Das zweite Tor dürfte etwas mehr Lob für Toni Kroos einbringen. Nach einem Freistoß im mittleren Drittel geht der Ball erst auf die rechte Seite Richtung Grundlinie, dann auf die linke, von wo aus Musiala auf Mittelstädt zurücklegt und der auf Kroos im linken Halbraum. Wenn man einen Kreis um die deutsche 8 zieht, dann kann man erkennen, dass er in alle Richtungen gute zehn Meter Platz hat. Kroos passt nicht in den von Ungarn dicht besetzten Strafraum, sondern spielt einen scharfen, schwer zu lesenden Pass zurück auf Mittelstädt, der flankt. Die Flanke bringt nichts ein, doch der zweite Ball landet bei Kimmich, der nach hinten auf Rüdiger zurücklegt. Noch mal Kroos, diesmal scharf auf Musiala, der wieder alle Spieler auf sich zieht, die Mittelstädt den Raum nehmen könnten. Mittelstädt erkennt die Situation und kann sein Glück wohl kaum fassen, als er den Ball bekommt. Er startet diagonal in Richtung Sraftraum und kann dann sieben Meter vor der Grundlinie, knapp im Strafraum einen scharfen Ball Richtung Elfmeterpunkt, in den Raum vor Ungarns tief gegangene Verteidiger spielen, den Gündoğan unhaltbar aufs Tor bringt.

Da haben wir also unser highlight reel, das eher nur ein highlight snippet ist. Dann muss Kroos ja offenbar schlechter gespielt haben als im ersten Spiel. Der kicker gibt uns recht, zumindest halbwegs. Note: 3, “Diesmal zwar nicht mit einer annähernd hundertprozentigen Passquote, aber trotzdem bis auf wenige Ausnahmen sehr präzise in seinen Aktionen. Wie gegen Schottland war er der Strippenzieher im deutschen Spiel.” Klingt im Wortlaut wohl etwas besser als “befriedigend”, aber das galt für die obige Note “gut” wohl auch. Bei WhoScored ist das eine 7.4. Gerade einmal 0.2 Punkte schwächer als gegen Schottland. SofaScore verteilt sogar eine 8.1. Was ist hier los? Sind die verrückt geworden?

So ist das natürlich dann doch nicht ganz. Aber wie ist es denn? Wie kommt diese Diskrepanz zustande? Zwei Spiele und deren Bewertung allein haben nicht genügend Aussagekraft. Statistiken könnten vielleicht die Lösung sein, aber zunächst sind sie ein Teil dieses Problems, denn sowohl WhoScored als auch SofaScore bewerten stat-driven. Mit anderen Worten: Die Bewertungen werden praktisch in Echtzeit auf Grundlage mehr oder weniger objektiver, standardisierter Ereignisse auf dem Spielfeld automatisch erzeugt und nicht von einer Art gleichermaßen Opern- wie Rotweinglas-bewehrter Filmkritiker der Fußballwelt holistisch im Lichte ihres Erfahrungsschatzes – auch bias genannt – dem Stadionerlebnis abgerungen. Denn dafür gibt es ja Kicker und Co.

Lässt sich die entdeckte überraschende Diskrepanz also anhand statistischer Daten befriedigend erhellen? Es ist tatsächlich so, dass die Bewertungen von Toni Kroos sich sowohl zwischen verschiedenen Portalen beziehungsweise Medien als auch von Spiel zu Spiel außergewöhnlich stark unterscheiden. Das dürfte eine Überraschung sein, da ihm der Ruf anhaftet, wie ein Uhrwerk zu funktionieren, während ein Stürmer eben mal drei Tore schießt und mal keins und ein Torwart eben mal ein oder zwei entscheidende Fehler macht und mal keinen und schon kippt alles in die eine oder die andere Richtung.

Wie diese Bewertungen entstehen, wäre gut zu wissen. Leider gehen Seiten wie WhoScored und SofaScore nicht besonders offen damit um, wie ihre Bewertungen von Spielern aus den Daten hervorgehen, die sie aggregieren. Und bei Medien wie dem Kicker kann ein Zusammenhang zwischen statistischen Daten und Bewertung ohnehin nur indirekt sein. Nimmt man die Bewertungen von Toni Kroos bei den letzten drei großen Turnieren zur Grundlage und untersucht diese auf Korrelationen mit den statistischen Daten, die WhoScored und SofaScore bereitstellen, erhält man zwar nicht genügend Informationen, um eine etwaige Formel hinter den Bewertungen zu rekonstruieren, aber doch immerhin eine recht klare Tendenz für die Bewertung von Toni Kroos. Wir können erkennen, dass bei WhoScored und SofaScore gute Bewertungen stark mit guten Werten in den Bereichen Passspiel und Ballbesitz korrelieren. Bei WhoScored sind vor allem Ballbesitz, die Anzahl erfolgreicher Pässe generell, die Anzahl langer Pässe und Passquote bei langen Pässen deutlich als wichtige Faktoren auszumachen. Bei SofaScore kommen Ballkontakte und die Anzahl der begangenen Fouls hinzu. Erwartungsgemäß korrelieren damit auch die Bewertung bei WhoScored und SofaScore trotz der kleinen Unterscheide sehr stark miteinander.

Ganz anders sieht es beim Kicker aus. Wir würden erwarten, dass es beim Kicker, dessen Bewertungen ja in den Köpfen von Autoren entstehen, die ein Spiel hoffentlich nicht nur beobachten, sondern regelrecht analysieren, nicht möglich wäre, die Bewertungen von Spielern auf die gewichtete Verrechnung von Statistiken zu reduzieren. Wir würden vielmehr erwarten, dass die Beziehungen zwischen Statistiken und Noten weniger eng (schwächere Korrelationen) und weniger gesichert (geringere Signifikanz) wären als bei WhoScored und SofaScore. Eine der stärksten und klarsten Beziehungen überhaupt, die sich bei der Analyse finden lässt, ist allerdings diejenige zwischen der Kicker-Note und der Anzahl der Situationen, in denen ein Gegenspieler an Toni Kroos vorbeidribbeln konnte. Hinzukommen die Anzahl der (entscheidenden) Fehler, die Erfolgsquote bei Tacklings und die allgemeine Passquote. Wir können also klar festhalten, dass Statistiken aus dem Bereich Defensive und generell das Defensivspiel einen größeren Einfluss auf Kroos’ Kicker-Noten haben als auf seine Bewertungen bei WhoScored und SofaScore, insbesondere der Zweikampf als deutsche Tugend scheint hier durchzuschlagen. Man kann außerdem erahnen, dass die WhoScored-Bewertung eine Brücke bildet zwischen Kicker und SofaScore, deren Bewertungen keine belastbare Korrelation zueinander vermuten lassen.

Wenn wir den Kopf jetzt wieder aus dem Gewirr der Zahlenkolonnen herausziehen und uns hoffentlich noch nicht zu sehr schwindelt, wollen wir das Ganze noch einmal im Lichte einiger konkreter Fälle betrachten. Besonders interessant sind dabei solche Spiele, in denen die Bewertungen besonders stark auseinanderfallen. Wenn man beachtet, dass SofaScore-Bewertungen generell etwas höher liegen als WhoScored-Bewertungen und Kicker-Noten versucht grob umzurechnen, stechen drei Spiele heraus: das letzte Gruppenspiel der WM 2018 gegen Südkorea, das letzte Gruppenspiele der EM 2021 gegen Ungarn und das letzte Gruppenspiel der EM 2024 gegen die Schweiz. Ein komischer Zufall, möchte man denken, aber man muss natürlich genauer hinsehen.

Das erste dieser drei Spiele, gegen Südkorea, war von Beginn an für die deutsche Mannschaft durchaus bedrohlich. Die Mannschaft hatte nicht allzu schlecht gespielt, aber ging eben doch mit nur drei Punkten und zwei zu zwei Toren in das dritte Spiel der Gruppenphase. Mexiko führte die Gruppe mit sechs Punkten an und war somit fast schon für das Achtelfinale qualifiziert, sodass Südkorea mit dem Rücken zur Wand stand, während Schweden darauf hoffen konnte, dass Mexiko nicht mit voller Motivation ins Spiel gehen würde. Wie 2024 spielte Deutschland das traditionelle 4-2-3-1, allerdings verbunden mit einer deutlich anderen Herangehensweise. Die Deutsche Nationalmannschaft des Jahres 2018 spielt deutlich breiter und weniger variabler im Zentrum. Noch wichtiger in Bezug auf Toni Kroos: Der Aufbau wird 2018 völlig anders organisiert. Einen Sechser, der in die erste Linie hinein kippt, ist noch kein so häufiges Stilmittel, stattdessen sind die Außenverteidiger essentiell. Kroos ist außerdem der offensivere Part der Doppelsechs, verglichen mit seinem Partner Khedira. Für Toni Kroos ergibt sich dadurch insbesondere im Aufbau, aber auch allgemein eine Position weiter weg vom eigenen Tor und näher am gegnerischen. Freilich kam er einstmals von der Zehn.

Südkorea spielt damals 4-4-2 mit einer Tendenz zum 4-4-1-1 und an diesem Tag haben sie sich etwas Besonderes vorgenommen, um Toni Kroos zu stören: Sie lauern auf flache Verlagerungen von einer Spielfeldseite auf die andere. Am eindrucksvollsten passiert dies mit ihren beiden Stürmern genau in dem Raum, in dem Kroos sich am meisten zuhause fühlt, nämlich etwas weiter vom Tor entfernt. Ein Stürmer lauert im Rücken des aufgedrehten Sechsers, der andere lauert in seinem Sichtfeld. Zugleich gelingt es den Koreanern, die deutschen Flügelspieler gut genug zuzustellen, sodass auch der Ball auf den ballfernen Flügelspieler selten eine Option ist. Generell ist durch die V-förmige Positionierung der mittleren Reihe der Koreaner im gegen den Ball der Raum um Kroos herum keiner, der im Pressing fokussiert würde. Kurz gesagt: Kroos darf den Ball bekommen und halten, doch die Dinge, der er gerne damit tun möchte, werden kompetent verhindert. Für Toni Kroos bedeutet das, dass wir ihn ungewohnt oft dribbeln sehen, wirklich dribbeln, so nämlich, dass er wirklich versucht, Raum zu gewinnen und Gegner zu überspielen, anstatt sich nur minimal besser zu positionieren, während er auf den richtigen Moment für einen Pass wartet. Kroos hat außerdem ungewohnt viele key passes, also Pässe, die zu einem Torschuss geführt haben, Flanken und wurde ungewohnt oft gefoult. All diese Statistiken lassen sich aus dem Defensivverhalten der Südkoreaner erklären. Flanken und Dribblings kommen dadurch zustande, dass Kroos nicht die Aktionen ausführen kann, die normalerweise seine wichtigsten Werkzeuge sind, was sich auch, wenn auch nicht überdeutlich, in der geringeren Anzahl langer Pässe niederschlägt. War das dann eine gute Leistung, weil Kroos andere Wege gefunden hat gegen eine Verteidigung, die ganz darauf zugeschnitten war, ihn zu stoppen? Oder war es eine schlechte, weil das Spiel am Ende 0:2 verloren geht und damit zu einem fatalen historischen Aus führt, der Plan der Ostasiaten also aufgegangen ist? Behalten wir mal im Hinterkopf.

Drei Jahre später ist die Situation nicht ganz so prekär. Deutschland und Portugal gehen punktgleich (3 Punkte) ins letzte Vorrundenspiel. Frankreich ist einen Punkt voraus, Ungarn hat erst einen Punkt erringen können, wenn auch gegen ein starkes Frankreich. Da man auch als Gruppendritter weiterkommen kann, ist die Gefahr kalkulierbar und die Nerven liegen weniger blank. Deutschland hat nun die Abkehr vom 4-2-3-1 vollzogen. Man spielt 3-4-3. Deutschland spielt immer noch viel flügellastiger als 2024, allerdings hat sich im Aufbau einiges geändert und ebenso natürlich in vorderster Reihe, wo jetzt kein so einsamer Mittelstürmer mehr wartet, sondern noch zwei Spieler hinter ihm und um ihn herum, bei denen es sich nicht um klassische Zehner handelt mit Leroy Sané und Kai Havertz. Auch ist der Mittelstürmer kein typischer, sondern Serge Gnabry. Im Aufbau ist es nun ein etabliertes Mittel, dass Toni Kroos sich in die erste Linie zurückfallen lässt, wenn auch noch nicht so systematisch wie 2024.

Ungarn will Deutschland in einem intensiven Spiel vor allem defensiv niederringen. Ungarn verteidigt tief im 5-3-2 verteidigt, was am ehesten als ihre Grundformation zu beschreiben ist, das sich immer dann in ein 4-4-2 oder gleich ein 4-3-3 verwandelt, wenn nur wenige deutsche Spieler die Tiefe besetzen. In aller Regel sind es die beiden Achter, die rausschieben, um neben den beiden Spitzen Druck auszuüben, während die Flügelverteidiger tief stehen, wenn es nicht gerade zu einer Kontersituation kommt, wie beim 0:1, als Négo entscheidend beteiligt ist.

Deutschland will über die Außen ins letzte Drittel kommen. Mit vielen Spielern in der letzten Linie und vielen Spielern auf dem bespielten Flügel geht die deutsche Nationalmannschaft generell ein vergleichsweise hohes Risiko, was das erste Gegentor begünstigt und sich nach diesem noch verstärkt. In vielerlei Hinsicht ist das deutsche Spiel eine Zwischenstufe zwischen 2018 und 2024. Die Variabilität der Positionen in der Offensive hat sich erhöht, aber noch nicht bis auf das Level des Jahres 2024. Hohe Flanken haben an Bedeutung eingebüßt, das Flügelspiel ist allgemein aber noch wichtiger als 2024 und es wird weiterhin recht oft auch zur hohen Flanke gegriffen, auch wenn ideale Abnehmer fehlen. Kleinräumige Kombinationen, Doppelpässe, Klatschpässe und Ähnliches haben an Wichtigkeit gewonnen, werden aber vor allem eingesetzt, um etwa 3-gegen-3 Situationen auf dem Flügel aufzulösen und weniger um durch das Zentrum in Abschlusssistuationen zu kommen. Ungarns Plan gegen ein nominell überlegenes Team geht am Ende weitgehend auf, doch die Klasse des deutschen Teams sollte letztlich ausreichen, um noch ein Unentschieden zu sichern. Für Toni Kroos bedeutet all das vor allem mehr Bewegung auf dem Feld, weniger ruhiges Schalten und Walten und mehr Beteiligung an schnellen Kombinationen, wodurch am Ende mehr key passes und expected assists zu Buche stehen bei einer dennoch hohen Zahl – auch erfolgreicher – langer Bälle, die allerdings keine entscheidenden Situationen einleiten. Generell ist Toni Kroos 2021 kein so zentraler Spieler für das deutsche Spiel wie drei Jahre zuvor oder drei Jahre danach. Das deutsche Team hat keinen zentralen Strategen. Aber heißt das etwas Schlechtes für Kroos’ Bewertung? Das wollen wir beantworten, nachdem wir auch das dritte Spiel kurz umrissen haben.

Im Spiel gegen die Schweiz bei der diesjährigen EM ist die Grundordnung dieselbe, wie in den beiden ersten Gruppenspielen: Deutschland spielt 4-2-3-1, Kroos kippt im Aufbau meist nach links hinten ab. Zehner Gündoğan, Winger Musiala und Wirtz und Mittelstürmer Havertz spielen sehr variabel, sowohl die Tiefe als auch die Breite werden viel stärker situativ besetzt als früher. Diejenigen, die kontinuierlich Breite herstellen, sucht man vielmehr auf der Position der Außenverteidiger. Die Schweiz begegnet dem mit einem mannorientierten Pressing. Das hohe Pressing verläuft dabei rautenförmig, indem immer ein Sechser hinter den drei Angreifern mithilft, mal Xhaka, mal Freuler, womit die deutsche Aufbauraute beziehungsweise der deutsche 3-1 Aufbau gepresst werden. Es entsteht ein Spiel, in dem jedes gewonnene 1-gegen-1 (insbesondere für Deutschland) und jeder Ballgewinn (insbesondere für die Schweiz) zu höchster Gefahr für den Gegner führt.

Am Ende können beide Mannschaften mit dem Ausgang (1:1) leben, mit dem Deutschland vor der Schweiz ins Achtelfinale einzieht, beide ungeschlagen. Die Erinnerungen dürften noch recht frisch sein. Deutschland läuft 63 Minuten lang einem 0:1-Rückstand hinterher und verliert dabei langsam die Geduld, sodass nach und nach die Flanken und dazu dann auch die Kopfballstärke eingewechselt werden, insbesondere mit Raum und Füllkrug, was dann zur Abkehr vom üblichen Spiel und schließlich auch zum heiß ersehnten Ausgleich führt. Toni Kroos fällt diesmal durch einen persönlichen Höchstwert von 0,66 bei den expected assists auf, die allerdings in keinen Assist umgemünzt werden konnten, durch ein – für dieses Turnier – etwas weniger sicheres Passspiel, ein verpasstes Tackling und relativ wenige lange Pässe, wobei “auffallen” hier relativ ist. Es handelt sich wirklich um eher marginale Abweichungen, abgesehen von den expected assists. Alles in allem ein mehr oder weniger normales Toni-Kroos-Spiel anno 2024. Aggressive Schweizer, die im Rahmen einer Taktik, die bei wirklichen Fehlern hart bestraft hätte werden können, kaum Fehler gemacht haben, haben es ihm – und dem Rest der deutschen Mannschaft – vielleicht nicht besonders einfach gemacht.

Wie sollten wir hier urteilen? Und wie urteilen unsere drei Vergleichsgrößen? Das Korea-Spiel war von SofaScore mit einer 7,8 bewertet worden, was eine gute Bewertung ist, im Vergleich mit anderen Kroos-Spielen im Nationaltrikot eher durchschnittlich bis leicht überdurchschnittlich. WhoScored sah nur eine 6,7 und damit das zweitschwächste Spiel des Betrachtungszeitraums. Der Kicker vergab sogar eine vernichtende 5,5. Das Ungarn-Spiel bewertete SofaScore mit einer selbst für Kroos’ Standards deutlich überdurchschnittlichen 8,1, WhoScored mit einer guten, aber für Kroos eher durchschnittlichen 7,4 und der Kicker mit einer im Vergleich zu 2018 nur etwas gnädigeren 4,5. Im letzten der drei Spiele gegen die Schweiz wiederholt sich dieses Bild fast genau mit den Werten 8,2 (SofaScore), 7,4 (WhoScored) und 4,5 (Kicker).

Am Ende legt die statistische Auswertung nahe, dass die Unterschiede zwischen SofaScore und WhoScored in defensiven Aktionen begründet liegen dürften, wie etwa die Statistik dribbled past. Allerdings ist hier der statistische Zusammenhang – anders als für die oben aufgelisteten Kategorien – nicht so klar, dass die Korrelation verlässlich wäre. Es bleibt eine Vermutung. Beim Kicker dagegen sind es eindeutig defensive Schwächen, die zumindest im Südkorea-Spiel die schlechte Bewertung rechtfertigen. Für dribbled past, Fehler und Tacklingquote bestehen klar belastbare Korrelationen, die Kroos’ Fünf erklären. Allein für die anderen beiden Spiele fehlt eine Erklärung für Kroos’ schwache Noten, die sich aus den Statistiken und deren Korrelation mit jenen erschließen ließe.

Was macht man damit? Wer hat jetzt recht? Und ist das eigentlich gut oder schlecht, dass sich die Kicker-Noten nicht immer klar auf Statistiken herunterbrechen lassen? Was sagen uns Statistiken über ein Fußballspiel und was nicht? Das generelle Problem an Statistiken ist freilich, dass sie ziemlich gut geeignet sind, uns zu sagen, welche Mannschaft in einem bestimmten Spiel die bessere war und wie deutlich. Die Aussagekraft in Bezug auf die Leistungen einzelner Spieler, also welcher Spieler etwa der beste auf dem Platz war, ist allerdings zumindest deutlich begrenzter. Natürlich sind auch nicht alle Statistiken gleich aussagekräftig. Expected goals sind so nach wie vor ein zwar keineswegs perfektes, aber doch alles in allem bemerkenswert zuverlässiges Mittel, um die Leistung einer Mannschaft zu einzuschätzen. Man muss sich dabei freilich bewusst machen, dass xG nicht gleich xG sind. Dennoch kann man mit einigem Selbstbewusstsein sagen: Eine Mannschaft, die langfristig gegen dieselben Gegner mehr xG ansammelt als eine andere, wird langfristig auch mehr Tore, mehr Siege und mehr Punkte erzielen als jene. Das funktioniert deswegen so gut, weil es beim Fußball darum geht, Tore zu schießen und zu verhindern, dass der Gegner Tore schießt, und weil die Statistik xG eine clevere Methode darstellt, die Wahrscheinlichkeit zu messen, dass ein Schuss zu einem Tor führt, wobei es fast immer ein Schuss ist, der ein Tor verursacht. Worüber xG uns leider nichts sagen, ist, welcher Spieler in einer Kette von Ballkontakten wie viel zu der xG eines Abschlusses, der am Ende dieser Kette steht, beigetragen hat, womit wir auch wieder bei secondary assists, tertiary assists etc. wären. Das gilt noch mehr umgekehrt: xG sagen uns nichts darüber, welcher Spieler der gegnerischen Mannschaft einen wie großen Anteil daran hatte, die xG eines jeweiligen Abschlusses zuzulassen.

Besser als nach Statistiken zu bewerten wäre es grundsätzlich, Spieler danach zu bewerten, wie gute Entscheidungen sie treffen und wie gut sie diese praktisch umsetzen. Das Problem damit dürfte leicht zu erkennen sein: Um Spieler auf diese Weise zu bewerten, gibt es eigentlich nur ein Mittel: Intensives Video-Studium, Spieler für Spieler. Mit anderen Worten: Der Aufwand ist ungleich größer. In Kroos’ highlight reel haben wir einige gute Entscheidungen nachverfolgt, aber für eine umfassende Bewertung kann das nicht ausreichen.

Ein weiteres Problem ist, dass die Frage nach dem impact dabei auch noch unbeantwortet bleibt. Man kann sie auf zwei Ebenen formulieren. Entweder kann man fragen: 1) Ist eine Entscheidung wichtiger und damit höher zu bewerten, wenn sie größere Konsequenzen hat? Und, wenn ja, wie viel höher? Oder man fragt: 2) Wenn die Aktionen eines Spielers größeren Einfluss auf das Spielgeschehen beziehungsweise den Ausgang des Spiels nehmen, sollte sich das entsprechend stärker auf seine Bewertung niederschlagen? Und in welchem Verhältnis stehen eigentlich 1 und 2?

Die Zusammenhänge lassen sich an einem Extrembeispiel verdeutlichen. Welche Note sollte ein Torhüter erhalten, der einen Schuss auf sein Tor bekommt, diesen bravourös hält, und sonst am Spiel praktisch nicht teilnimmt? Man könnte nun einwenden, dass er zwar in seiner einzigen relevanten Aktion die richtige Entscheidung getroffen hat und erfolgreich umgesetzt hat, allerdings sich wohl mehr ins Ballbesitzspiel seines Teams hätte einschalten können. Hier ist allerdings eine Einschränkung zu machen: Da die Frage nach einer richtigen oder falschen Entscheidung immer nur im Kontext der jeweiligen taktischen Vorgaben sinnvoll zu stellen ist, ist diese Kritik auch nur dann relevant, wenn der betreffende Spieler damit das taktische Konzept seiner Mannschaft untergraben würde, er also, indem er sich nicht am Passspiel seiner Mannschaft beteiligt, im Kontext der taktischen Vorgaben die falschen Entscheidungen getroffen hätte. Das wiederum wäre unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, während seine Mannschaft nur einen Torschuss zulässt.

Wie bewerten wir dagegen einen Spieler, der viele kleine, meist richtige Entscheidungen trifft und meist erfolgreich umsetzt gegenüber jemandem, der einige einflussreiche richtige Entscheidungen trifft und erfolgreich umsetzt, aber sonst auch einige kleinere falsche Entscheidungen trifft oder einige kleinere Entscheidungen nicht erfolgreich umsetzt? Im Prinzip sind wir hier wieder beim Fall Toni Kroos angekommen. Toni Kroos ist ein Spieler, der in der großen Mehrzahl seiner Spiele, zumindest in der zweiten Hälfte seiner Karriere, kaum in Situationen kam, in denen eine seiner Entscheidungen allein ein Spiel entschieden hätte. Das Spiel eines zentralen Taktgebers, der mit dem Ball das Spiel meist vor sich hat, sich aber defensiv kaum in finalen Rettungssituationen wiederfindet, bringt ihn leicht allein mit dem Ball hundertmal in die Situation, zu Spieler A oder Spieler B abzuspielen oder vielleicht zu Spieler C oder vielleicht den Ball noch einen Moment zu halten und auf bessere Optionen zu warten, ohne das irgendeine dieser Optionen typischerweise unmittelbar ein Tor für eines der beiden Teams nach sich zöge. Seine einzelnen Aktionen ohne Ball dürften, jede für sich betrachtet, üblicherweise noch weniger Einfluss auf den Ausgang eines Spiels haben.

Am Ende ist es damit gar nicht Toni Kroos, dessen Spiel in Wirklichkeit schwer zu bewerten ist. In aller Regel sind solche Spieler sehr einfach zu bewerten: Eine große Zahl etwa gleich wichtiger kleiner Situationen ist zwar ein wenig mühsam zu bewerten, allerdings eben nicht schwierig. Wir müssen nur jede Entscheidung und ihre Umsetzung im Lichte der Taktik bewerten. Je häufiger die richtige Entscheidung getroffen und erfolgreich umgesetzt wird, desto besser muss die Bewertung ausfallen. Das wahre Problem bei der Bewertung der Leistung eines Fußballers entsteht, wenn der impact der einzelnen Aktionen sehr weit auseinander geht oder nur eine geringe Anzahl zu bewertender Aktionen zur Verfügung steht, wie bei einem Stürmer, der spielentscheidende Großchancen auf dem Fuß hat, neben denen etwa sein Passspiel verblasst, oder einem Torhüter, der wenig ins Spiel eingreifen muss.

Wieso konnten wir dann also so unterschiedliche Bewertungen von Kroos’ Leistungen finden? Die Gründe hierfür sind zweierlei: Zum einen handelte es sich um untypische Spiele, wie wir gesehen haben. Es sind Spiele, in denen Toni Kroos’ Spielweise eine andere war. Zum anderen ist die Macht von Narrativen nicht zu unterschätzen. Weil die Leistung eines Spielers wie Toni Kroos nicht aus der flüchtigen Beobachtung eines Fußballspiels oder gar wenigen highlights zweifelsfrei deutlich wird, setzen sich manchmal Narrative über einen solchen Spieler durch, die mit der Realität wenig zu tun haben, insbesondere wenn er als zentral für das Spiel sehr Mannschaft angesehen wir:. “Die Mannschaft gewinnt, also muss der Kopf der Mannschaft gut gespielt haben.”/”Die Mannschaft verliert, also kann er unmöglich gut gespielt haben.” Während, wie erwähnt, die Bewertung der Leistung eines Mittelstürmers in einem einzigen Spiel diffizil sein kann, weil einige wenige Szenen mit großem Einfluss auf das Ergebnis des jeweiligen Spiels überbewertet werden, relativiert sich dies zumindest teilweise über längere Zeiträume: Wer langfristig immer wieder Tore erzielt, hat vermutlich gute Noten verdient, was dann nicht nur der erkennen kann, der ganz genau hinsieht, auch wenn nicht jeder, der 25 Tore pro Saison erzielt, dieselben Noten verdient.

Es war so das Jahr 2021, als der Kicker Kroos nach dem Ausscheiden im Achtelfinale “wenig Perspektive” bescheinigte und die Leser dem mehrheitlich zustimmten, nur um 2024 als “Heilsbringer” wiederzukehren. Ein gewisser Uli Hoeneß ließ wissen, dass Kroos “in diesem Fußball nichts mehr zu suchen” habe. Ein Spieler wie Toni Kroos ist schlicht ein idealer Sündenbock, wenn es irgendwie nicht läuft und dabei nicht unmittelbar augenfällig ist, warum. War der Toni Kroos, den man 2021 ausrangieren wollte, so viel schlechter als der, der 2024 Fußballer des Jahres werden konnte? Vielleicht mag das so sein, doch die Ausschläge in der öffentlichen Wahrnehmung – in Deutschland jedenfalls – erscheinen von den tatsächlichen Leistungsunterschieden weitgehend abgekoppelt.
Am Ende des Tages möchte ich vorschlagen, bei Spielern dieses Typus, den Statistiken mehr zu trauen, und zwar den Kernstatistiken zum Passspiel. In diesem Bereich haben solche Spieler eine Vielzahl gut vergleichbarer Aktionen, die sich relativ leicht in Statistiken abbilden lassen, etwa im Vergleich zum Stellungsspiel oder zu Läufen, die zu keinem Pass geführt haben, und die tatsächlich relativ aussagekräftig für ihre Leistung sind. Eine gute Passquote allein mag täuschen – alles nur Querpässe, Stichwort: Querpass-Toni. Viele Pässe mögen täuschen, progressive Pässe allein können auch in Sackgassen führen, aber wenn Passquote und -anzahl, lange Pässe und progressive Pässe, eventuell noch gepaart mit einer Handvoll key passes und wenigen Ballverlusten zusammenkommen, dann dürfen wir glauben, dass das ein gutes Spiel gewesen ist. Und die sagen uns: Alles in allem hat der Toni das ganz gut gemacht.

SZ nennt Adolfo Valencia weiterhin konsequent den “Bayern-Express”, anstatt den “Entlauber”, egal was Uli H. darüber denkt, und ist außer Podcaster a.D. (Super Bayern Podcast) auch Germanist.

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