Das vorgezogene Finale: Deutschland gegen Spanien – AB, VR, FN

VS

Am Freitagabend kommt es zum Duell Deutschland gegen Spanien, zwei Mitfavoriten auf den Titel bei der EM. Beide Mannschaften sind noch ungeschlagen, aber beide Mannschaften sind auch nicht unschlagbar. Deutschland hat ein aufopferungsvoll kämpfendes Dänemark in einem turbulenten Spiel 2:0 besiegt, während Spanien den Blitzstart der Georgier mit einer dann spielerisch rundherum überzeugenden Leistung mit 4:1 weggewischt hat. Die Vorzeichen könnten nicht besser sein: Es wird ein Spiel auf Augenhöhe erwartet, mit hohem Tempo und zwei Mannschaften die taktisch und technisch mit zum Besten gehören, was man in diesem Turnier gesehen hat. In diesem Vorbericht soll noch einmal Bezug genommen werden auf die beiden Teams, die taktische Grundausrichtung und auf Strategien, welche zum Erfolg führen könnten.

Kurzer Blick auf Deutschland

Abb. 1: Grundordnung Deutschland im Ballbesitz

Deutschland agierte bei dieser Europameisterschaft im Ballbesitz vorrangig aus einer 3-1-5-1-Struktur. Kroos spielte meistens als abkippenden Sechs, entweder links neben oder zwischen den
Innenverteidiger Tah (Schlotterbeck) und Rüdiger. Vor ihnen positionierte sich Andrich als
alleiniger Sechser. Die beiden Außenverteidiger Mittelstädt bzw. Raum und Kimmich schoben
bisher meist sehr hoch und positionierten sich breit. Die drei “Zauberer” Musiala, Wirtz und
Gündoğan hielten sich vorrangig in den Achter- und Zehner-Räumen auf und boten sich situativ
entweder in der Tiefe oder als eine weitere kurze Anspielstation im Aufbauspiel an. Generell
genossen die drei die größte positionelle Freiheit von allen deutschen Spielern, wobei
Gündoğan stets um Balance bemüht war. Ganz vorne gab Havertz den All-Round-Stürmer, der
situativ tief ging, entgegenkam oder eine Überzahl am Flügel herstellte.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass Nagelsmann diese Positionsstruktur stets leicht an die Gegner anpasste. Gegen die Ungarn, die ein 5-2-3-Mittelfeldpressing spielten, kippten Wirtz, Musiala und Gündoğan immer wieder seitlich aus dem Block heraus, um dann von dort diagonal ins Zentrum zu gelangen.

Abb. 2: Außenverteidiger schieben maximal hoch und Gündoğan kippt für ein flaches Anspiel aus dem Block

Im Hinblick auf die deutsche Spielweise ist zunächst zu betonen, dass Deutschland viel Wert auf Spielkontrolle durch eigenen Ballbesitz legt. Dabei ist das Spiel in und durch die Zwischenräume im Zentrum ein zentrales Element. Wo andere Teams den Ball auf den scheinbar freien Flügel rausspielen, versuchen die deutschen Akteure oft den Ball durch ein noch so kleines Passfenster in einen noch so kleinen Zwischenraum zu spielen. Aus diesen Zwischenräumen heraus versuchen dann die “Zauberer” Wirtz, Musiala und Gündoğan durch Steilpässe, Dribblings oder Kombinationsspiel auf engen Raum in torgefährliche Positionen zu gelangen.

Abb. 3: Entstehung des dritten Tores gegen Schottland, flach durchs Zentrum Kroos via Gündoğan auf den durchstartenden Havertz

Um immer wieder diese kleinen Zwischenräume zu schaffen, liegt im deutschen Spiel ein besonderes Augenmerk darauf, den Gegner durch Tiefenläufe vertikal auseinanderzuziehen. Aus diesem Grund sind gegenläufige Bewegungen ein wiederkehrendes Motiv: Zum Beispiel geht Wirtz tief während Havertz entgegenkommt. Diese zahlreichen Tiefenläufe, oftmals gegen
die Dynamik des Rausrückens der gegnerischen Kette, ermöglichen der DFB-Elf, je nach
Abwehrverhalten, entweder einen Pass in den Zwischenraum oder einen langen Ball hinter die
Kette. Der lange Ball ist daher ebenfalls ein zentrales Element. Gerade gegen Gegner, deren
Innenverteidiger sehr mannorientiert gegen die deutschen Zwischenraumspieler verteidigten,
ergaben sich für die Deutschen immer wieder Möglichkeiten, durch einen langen Ball direkt in
die Tiefe zu gelangen.

Abb. 4: Tiefenläufe hinter die Kette, hier ein mittlerweile typischer langer Ball von Rüdiger aus dem Spiel gegen Dänemark

Neben den Tiefenläufen gibt es auch immer wieder Spieler aus höheren Zonen die sich im
Spielaufbau anbieten. Diese kurzen Angebote in Kombination mit dem Mut auch Spieler
unter Druck anzuspielen, ziehen immer wieder Gegner raus und tragen somit auch dazu
bei, dass mehr Raum direkt vor der gegnerischen Kette entsteht.
Weitere taktische Auffälligkeiten sind die vielen Verlagerungen, insbesondere durch Toni
Kroos, nachdem der Gegner auf eine Seite (häufig links) gelockt wurde. Um möglichst viele
Gegner auf die Ballseite zu ziehen und so mehr Raum ballfern zu schaffen, überlädt
Deutschland gerne die Ballseite.

Abb. 5: Entstehung des ersten Tores gegen Schottland, weiter Diagonalball auf Kimmich – während das wirbelnde Zentrum die Abwehrreihe des Gegners beschäftigt mit Doppelbesetzung in der letzten Reihe von Havertz und hier Musiala

Nach der Verlagerung wird dann häufig direkt wieder das Zentrum gesucht. Ein beliebtes Mittel ist dabei ein diagonaler oder horizontaler Flachpass nach ballnahem Tiefenlauf. 

Abb. 6: Exemplarische Strafraumbesetzung nach Diagonalball von Kroos auf Kimmich

Sollte dieser Tiefenlauf nicht aufgenommen werden, gibt es auch die Option, einen Steilpass die Linie entlang zu spielen. Die erwähnten ballnahen Überladungen sowie die Überladung im Zentrum ermöglichen der DFB-Elf ein besonders aggressives Gegenpressing.

Gegen den Ball setzte die DFB-Elf auf unterschiedliche Positionsstrukturen. Gegen Schottland und Ungarn presste sie überwiegend aus einem 4-2-3-1. Stürmer Havertz setzte den zentralen Innenverteidiger unter Druck. Wirtz, Gündoğan und Musiala kontrollierten die gegnerischen Sechser, wobei auf Wirtz und Musiala hier eine Doppelverantwortung fiel, da sie zudem Druck auf die äußeren Innenverteidiger machten. Die gegnerischen Schienenspieler wurden meistens beim Anspiel von den deutschen Außenverteidigern Mittelstädt und Kimmich angelaufen. Vor der Viererkette verteidigten Kroos und Andrich.

Schon gegen Ungarn waren aber erste Veränderungen zu sehen, da diese in Ballbesitz sehr variabel agierten. So lief Gündoğan situativ auch als zweiter Stürmer an, woraufhin Andrich dann höher schob, um die gegnerischen Sechser zuzustellen. Im tieferen Verteidigen setzte Nagelsmann in beiden Spielen auf ein 4-4-2.

Abb. 7: Anlaufen der deutschen Mannschaft gegen den Ball, hier im 4-2-3-1

Gegen die Schweiz gab es dann eine größere Änderung — es wurde auf ein 5-3-2 umgestellt mit Andrich als weiterem Innenverteidiger und Havertz und Gündoğan als Doppelspitze. Diese Umstellung sollte einerseits verhindern, dass die deutsche Abwehrkette zu sehr auseinandergezogen wird und andererseits ermöglichen, dass die Verteidiger mutiger ins Mittelfeld verteidigen können (gerade gegen den einrückenden Aebischer). Gegen Dänemark begann die DFB-Elf in einem 4-2-2-2 und stellte dann nach der Gewitterunterbrechung um auf ein 5-3-2, um so die Achter der Dänen besser verteidigen zu können.

Abb. 8: das deutsche Team gegen den Ball, hier mit 5er Kette

All diese verschiedenen Positionsstrukturen haben aber wesentliche Gemeinsamkeiten: Überzahl in tieferen Zonen; Kompaktheit und Doppelverantwortungen im vorderen Teil des Blocks; Fokus auf Verstellen von Passwegen ins Zentrum.

Wenn Deutschland den Ball im Verteidigen gewinnt, geht es oft schnell durch raumüberwindende Dribblings (von Musiala, Wirtz oder Sané) nach vorne.

Was macht Spanien?

Im bisherigen Turnierverlauf setzten die Spanier traditionell auf ein geordnetes 4-3-3 im Spielaufbau. Spanien hält hierbei die Abstände zwischen den einzelnen Spielern möglichst groß um somit die Pressingwege für den Gegner zu vergrößern. Diese breite Positionierung erfordert eine hohe Präzision und technische Qualität im Spielaufbau aufgrund der länger werdenden Passwege und der fehlenden Kompaktheit bei Ballverlust. Ein Schlüssel der Spanier ist hierbei Rodri, der als Sechser mit seiner Pressingresitenz und Ruhe am Ball der Dreh- und Angelpunkt im Spielaufbau ist. Durch die enorme technische Qualität und Druckresistenz, welche sich durch die gesamte Mannschaft zieht, ist Spanien im bisherigen Turnierverlauf eines der am Schwersten zu pressenden Teams.

Abb.9: Spanische Grundordnung im bisherigen Turnierverlauf

Ziel des spanischen Spielaufbaus ist es durch Abkippen der Achter – vor allem Fabian – Überzahl im Zentrum zu schaffen und das Pressing über das Dreieck IV-AV-8er mit Rodri als zusätzliche Unterstützung aus dem Zentrum aufzulösen. Häufig wird danach vertikal in die letzte Kette gespielt und versucht die Außenspieler Yamal und Williams in 1vs1 Situationen zu isolieren oder direkt die Tiefe zu suchen.

Das spanische Aufbauspiel ist deutlich vertikaler als der idealistische Ballbesitzfußball unter Enrique in den vergangenen Turnieren. Man ist sich dabei auch nicht zu schade das gegnerische Angriffspressing mit einem langen Ball in Richtung Kapitän Morata zu überspielen. Morata kippt häufig in den Zwischenraum und bindet zeitweise beide Innenverteidiger um dann mit seinem exzellenten Ablagespiel auf den in den Raum von halb rechts nachrückenden Pedri abzulegen. Dieser hat dann wieder aufgrund von Moratas Binden der Innenverteidiger die Möglichkeiten die Außenspieler in isolierten 1vs1 Situationen oder in der Tiefe zu finden.

Italien hatte in der Gruppenphase durchaus einige Probleme gegen das spanische Aufbauspiel. Aufgrund der weiten Abstände entschied sich Spalletti für ein Mann gegen Mann Pressing über den ganzen Platz. Aufgrund der numerischen Vorteile Spaniens im Zentrum musste Calafiori als linker Innenverteidiger weit aus der Kette herausverteidigern, was Spanien mit den abkippenden Achtern und Moratas Ablagespiel gepaart mit Pedris intelligenten Bewegungen zwischen den Linien in die Karten spielte.

Wie könnten die Deutschen gegen Spanien pressen?

Wichtig wird es sein den Spaniern ihre Stärken zu nehmen. Wie Deutschland es schafft, die Tempowechsel am Flügel mit anschließend eins gegen eine Situation zu verteidigen wird ein wichtiger Aspekt im Matchplan von Nagelsmann sein und kann am Ende über Sieg oder Niederlage entscheiden. Ziel muss es sein die beiden Außenstürmer der Spanier im 2 gegen 1 zu Doppeln, um sie so aus dem Spiel zu nehmen. Damit dies gelingt müssen die deutschen Außenspieler Sane / Wirtz und Musiala viel Laufarbeit in der Defensive leisten. Nico Williams versucht die meiste Zeit am Gegenspieler vorbei zur Grundlinie zu dribbeln, während das Ziel von Yamal (linksfuß) auf der rechten Seite darin besteht mit seinem starken Fuß in die Mitte zu ziehen. Darauf müssen Raum / Mittelstädt vorbereitet sein, um dies verteidigen zu können.

Ein weiterer Punkt wird es sein die hohen Achter der Spanier aus dem Spiel zu nehmen. Weil die ballnahen Außenverteidiger sich offensiv durch Vorderlaufen bzw. Wechselspiel AV / AST mit einschalten wird der Gegner im Verschieben immer wieder vor Probleme gestellt. Das war gut gegen Georgien zu sehen, die in einem 5-3-2 Low-Block verteidigten. Diese Grundformation spielte Deutschland im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz und auch nach der Umstellung gegen die Dänen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wenn der ballnahe Halbverteidiger den AV / AST aufnimmt die Achter Spaniens Tiefenläufe in den freigewordenen Raum starten. So kommt Spanien entweder hinter die letzte Linie oder der Sechser muss aus dem Mittelfeld den Lauf in die Tiefe aufnehmen. Das öffnet wiederrum den Raum vor der Kette, wo Spanien immer wieder mit Distanzschüssen Angriffe abschließt. Rodri konnte genau durch so einen Schuss aus der zweiten Reihe den wichtigen Ausgleich gegen Georgien erzielen. Damit Spanien nicht ins Zentrum gelangt müssen die beiden Außenspieler von Deutschland, nicht nur in die Dopplung am Flügel kommen, sondern auch den Ball ins Zentrum verhindern. Zudem würde es sich anbieten das Andrich wieder situativ zwischen die Innenverteidiger fällt und eine Fünferkette bildet um in der Kette besser übergeben / übernehmen zu können.

Interessant wird es, wie die Deutschen versuchen werden Rodri aus dem Spiel zu nehmen. Ein Lösungsansatz wäre Ilkay Gündogan, der vom Sechser weg spielt, um den Defensiven Mittelfeldspieler auszuschalten. Somit würde Spanien nicht in die Verlagerungen reinkommen und Deutschland könnte gleich bzw. Überzahlsituationen am Flügel herstellen, was zu guten Balleroberungen führen könnte. Hier zeigte Spanien gegen Georgien in der ersten Halbzeit Probleme. Rodri schiebt teilweise mit bis zur Sechzehner kante, wodurch sich der Raum vor den Innenverteidiger öffnet. Deutschlands Idee in solchen Situationen sollte es sein, den ersten Ball in die Tiefe auf Havertz zu spielen der dann per Ablage auf Gündogan legen kann. Sollte Gündogan einen offenen Fuß im Zentrum haben, müssen Sane und Musiala die Tiefe attackieren um die Definzite der spanischen Restverteidigung auszunutzen. Hier haben die deutschen einen klaren Geschwindigkeitsvorteil, der ausgenutzt werden sollte. Die Deutschen sollten nicht die volle Spielzeit in einem Mid-Block verteidigen, sondern situativ auch ins Angriffspressing übergehen. Da die Achter in dieser Spielphase sehr hoch stehen neigen die Spanier dann dazu große Abstände zueinander zu haben, wodurch Deutschland es schaffen kann, Gleichzahlsituationen herzustellen. Gegen Italien war es dann oft ein langer Ball. Möglicher Schwachpunkt könnte Unai Simon sein, der nicht immer sicher im Aufbauspiel wirkte.

Intensives mannorientiertes Pressing

Spanien verfolgte im bisherigen Turnierverlauf einen sehr mannorientierten Pressingansatz, dennoch gab es einige Unterschiede zwischen dem Spiel gegen Kroatien und dem überzeugenden Sieg gegen Italien. Mit Pedri als zweiten Stürmer neben Morata hatte man durchaus Probleme gegen Kroatiens 4-3-3 Aufbau. Die Innenverteidiger zögerten aus der Kette herauszuspringen auf einen der beiden Achter, wodurch Fabian und Rodri einer 2vs3 Unterzahl im Mittelfeld ausgesetzt waren. Um das Pressing abzusichern ließen sich beide fallen und orientierten sich an den beiden Achter wodurch Kroatien über das IVs-6er Dreieck auflösen konnte und das Pressing somit verpuffte.

Gegen Italiens 4-2-3-1 setzte de la Fuente auf ein aggressives Mann gegen Mann Pressing mit Yamal als einrückendem zweiten Stürmer neben Morata und Pedri und Fabian welche auf die italienischen Sechser sprangen. Carvajal sprang auf den durch das Einrücken Yamals freiwerdenden Linksverteidiger und Le Normand schob nach auf den linken Außenspieler während Rodri im Zentrum den italienischen Zehner aufnahm. Somit konnte man die Kompaktheit im Pressing wahren und vermied eine Unterzahl im Zentrum. Dieser Pressingansatz war ein Schlüssel zum Erfolg gegen Italien.

Abb. 10: Mannorientiertes Pressing der spanischen Mannschaft

In der zweiten Halbzeit wechselte man jedoch zu einem eher konservativen Ansatz. Pedri fungierte wieder als zweiter Stürmer neben Morata, aber im Gegensatz zum Spiel gegen Kroatien schob Fabian zwischen die beiden italienischen Sechser. Die Außenspieler waren etwas eingerückt um jederzeit in der Lage zu sein auf den Außenverteidiger rauszuspringen aber auch ballfern auf den ballfernen Sechser einzurücken. Somit konnte die +1 Überzahl in der letzten Linie gehalten werden.

Es bleibt offen für welchen der beiden Ansätze sich de la Fuente gegen Deutschland entscheiden wird und ob Spanien trotz der Gefahr Deutschlands durch lange Bälle hinter die letzte Kette in Richtung Havertz auf ihr aggressives, aber doch risikoreiches Mann gegen Mann Pressing setzen wird.

Aufgrund der ballbesitzorientieren Spielstile und dem Ziel beider Mannschaften das Spiel zu kontrollieren wird es unausweichlich auch für Spanien Phasen geben in denen sie in ein Mittlefeldpressing gezwungen werden. Die Spanier verteidigen in einem 4-4-2 Block mit Pedri als zweiten Stürmer neben Morata. Im Mittelfeld agiert man in einer Raumorientierung und versucht Passwege in die letzte Linie zu schließen. Die beiden Außenspieler Yamal und Williams lauern jederzeit darauf bei Quer oder Rückpässen der Innenverteidiger auf die äußeren Halbverteidiger rauszuspringen und den Gegner so in Richtung eigenes Tor zurückzudrängen. Das Mittelfeld wechselt auf eine Mannorientierung und der gesamte Block schiebt kompakt nach und schaltet von Mittelfeld- auf Angriffspressing um.

Nagelsmann hat die Qual der Wahl

Nach den ersten drei Spielen ist eines schnell klar geworden, an der Startelf wird nicht gerüttelt. Doch im Achtelfinale entschied sich der Bundestrainer für einige Wechsel. Nagelsmann wechselte im Vergleich zur Gruppenphase auf drei Positionen. Jonathan Tah fehlte nach zwei gelben Karten aus der Gruppenphase gelbgesperrt und so feierte der Dortmunder Nico Schlotterbeck in seinem „Wohnzimmer“ sein EM-Startelfdebüt. Für Viele überraschend war allerdings, dass der 21-Jährige Offensivakteur von Bayer 04 Leverkusen, Florian Wirtz nicht von Beginn auf dem Feld stand. Anstelle von Wirtz startete Leroy Sane, der in der Gruppenphase in jedem Spiel von der Bank kam, um Spielpraxis zu sammeln. Grund hierfür war das mit Sane ein Spieler auf dem Platz stand der zum einen 1 gegen 1 Duelle auflösen kann, aber auch Tiefe ins Spiel bringt. Der dritte Wechsel im Bunde, war David Raum. Dieser startete für Maximilian Mittelstädt als Linksverteidiger. Raum hatte gegen die Schweiz mit seiner starken Leistung nach Einwechslung zum Sieg beigetragen und sollte gegen die Dänen mehr Breite im Spiel schaffen.

Nagelsmann hat im Achtelfinale gezeigt, dass er sich durchaus taktisch und personell auf die jeweiligen Gegner einstellen möchte, was Raum für Spekulationen für das bevorstehende Viertelfinale gegen Spanien schafft. Diesen und anderen Fragen für das „vorgezogene“ Finale am Freitag soll hier nachgegangen werden.

Raum oder Mittelstädt?

David Raum konnte bei dieser EM bislang überzeugen. Schon bei Leipzig fiel er durch seine Athletik, gepaart mit Flankenläufen auf. Er hat in der abgelaufenen Saison die mit Abstand meisten Flanken geschlagen und 8 Tore aufgelegt. Seine Flanken hatten bereits in zwei Situationen Auswirkungen auf das deutsche Spiel – Raum servierte den Assist für Füllkrug im letzten Gruppenspiel und auch gegen die Dänen war es eine Flanke von Raum, welche zum Handelfmeter führte. Gegen eine Nominierung von Raum in der Startelf spricht allerdings die Tenzen,dass Kai Havertz voraussichtlich von Beginn an spielen wird, da seine Tiefenläufe gegen Spanien enorm wichtig sein werden. Hier fehlt dann ein klassischer Abnehmer, der die Flanken verwerten kann. Außerdem wird es ein Spiel das durch Pressing/ Gegenpressing entschieden wird und so viele Umschaltmomente entstehen werden, wo seine Flanken Qualität nicht unbedingt gebraucht wird.

Mittelstädt hingegen hat in der Gruppenphase jedes Spiel von Beginn an bestritten. Der Linksverteidiger des VfB, konnte in der Gruppenphase ebenfalls überzeugen. Offensiv spielte er nicht so auffällig wie David Raum, war aber dennoch wichtig im Offensivspiel der Deutschen. Mittelstädt ist im Vergleich zu Raum eine defensivere Variante und vorallem im Pressing gegen den Ball effektiver als Raum. Da Spanien sehr wahrscheinlich auf der linken Seite mit Yamal spielen wird, der extrem gut im 1 gegen 1 offensiv ist, gehen wir davon aus, dass Mittelstädt die Nase vorne hat.

 Sane oder Wirtz?

Flo Wirtz spielte eine gute Gruppenphase und schien unausweichlich zur Startelf zu gehören. Zwar war das Augenmerk mehr auf Musiala gerichtet, aber Wirtz stellte seine Klasse während der Vorrunde mehrfach unter Beweis. So spielte er den bislang besten Pass des Turniers gegen die Schweiz, als er sich ins Mittelfed fallen ließ aus einer tieferen Position im Aufbau Musiala in die Tiefe schickt. Generell funktionierte das Pärchen Wirsiala gut. (Grafik 50 Minute?)

Leroy Sane hingegen wurde in der Vorrunde in allen drei Spielen eingewechselt, um Spielpraxis zu sammeln. Der Flügelspieler der Bayern kam mit einer Schambeinverletzung zur Nationalmannschaft und war deshalb noch nicht hundertprozentig fit. Seine Leistungen konnten möglicherweise auch deshalb nicht an die Leistungen im Viertel- und Halbfinale in der diesjährigen Champions League anknüpfen.Defizite in der Entscheidungsfindung haben in den Gruppenspielen bedeutete für die deutsche Mannschaft einige leichte Ballverluste und vertane Chancen. So überraschte Nagelsmann mit der Entscheidung gegen Dänemark Sane von Beginn an zu bringen. Wir gehen davon aus, dass Leroy Sane auch gegen Spanien wieder starten wird. Im Gegensatz zu Wirtz weicht Sane gegen einen hoch pressenden Gegner immer wieder auf den Flügel aus, wo er 1 gegen 1 Duelle auflösen kann. Außerdem bringt Sane mit seinem Tempo mehr Tiefe ins Spiel, was gegen Spanien ein Schlüssel zum Sieg sein könnte.

Tah oder Schlotterbeck?

Tah ist nach seiner Gelbsperre wieder eine Option auf der linken Innenverteidigerposition neben dem gesetzten Rüdiger. Der Leverkusener Verteidiger stach durch seine Robustheit heraus. Vor allem in der Restabsicherung konnte er in den ersten drei Spielen glänzen. Gegen die Ungarn leitete er mit der Balleroberung das erste Tor der Deutschen ein.

Gegen Dänemark war Schlotterbeck mit spielentscheidend. Erbrachte mit seiner guten Spieleröffnung die Deutschen auf die Siegerstraße. In der zweiten Halbzeit versuchten die Dänen die Deutschen teilweise etwas höher anzulaufen. Musiala zog durch sein Entgegenkommen Anderson aus der Kette. Dadurch entstand Raum im Rücken der Fünferkette von Dänemark. Diesen Raum bespielte Schlotterbeck mit Flügballen hinter die Kette auf Musiala, der, nachdem er Anderson rauszog die Tiefe attackierte und seinen Tempovorteil nutzte. Beide Tore der Deutschen entstanden genau durch dieses Muster. Sollten die Spanier sich dazu entschließen die deutsche Mannschaft hoch anzulaufen, könnten Schlotterbecks hohe, direkte Pässe hinter die Viererkette dringend gebraucht werden. Hier hätten die Deutschen durch Musiala/ Sane einen Tempovorteil gegenüber Laporte und Le Normand. Deshalb ist für uns Schlotterbeck die wahscheinlichere Option, um gegen das Pressing der Spanier mehr Kontrolle zu haben und Flugbälle hinter die Kette zu spielen. 

Ein Spiel auf Augenhöhe

Es kommt viel Arbeit auf das Trainerteam zu, aber auch auf die Mannschaft. Beide Mannschaften präsentieren sich stark in praktisch allen Spielphasen und nicht mehr als Nuancen werden entscheidend sein fürs Weiterkommen. Der deutsche Stab hat dabei im Vorfeld viele Aspekte zu bedenken, die letztlich in die Personalentscheidungen fließen werden. Bereits mit der Startaufstellung kann und wird Julian Nagelsmann die Richtung vorgeben. Ein offensiv-aggressiver Matchplan könnte geprägt sein von Schlagwörtern wie Einsatz (im Angriffspressing) oder Vertrauen (in die Außenverteidiger) und gerade in den ersten Minuten wird die deutsche Mannschaft zeigen müssen, dass sie gewillt ist den Spaniern den Schneid abzukaufen. Genauso wäre aber auch eine vorsichtigere Variante möglich, in der die deutsche Mannschaft versucht über Kompaktheit und schnelle Umschaltmomente das spanische Team vor Probleme zu stellen. Die Anfangsviertelstunde gegen Dänemark hat aber gezeigt wie dominant die deutsche Mannschaft auftreten kann. Anders als Dänemark wartet mit dem spanischen Team ein ganz anderes Kaliber, dass einen Rückstand ohne Weiteres wettmachen kann, verschiedene Situationen im letzten Angriffsdrittel variabel lösen kann und hohe individuelle Qualität auf allen Kaderpositionen mitbringt.

Autor: AB ist seit sechs Jahren Jugendtrainer und interessiert sich besonders für Taktiktheorie und Trainingslehre. Auf Twitter findet man ihn unter @false_pivot.

Autor: VR hat vor Jahren angefangen, sich tiefgründiger mit dem Fußball zu beschäftigen und arbeitet seither neben der Ausbildung zum Sportkaufmann beim Bayrischen Rundfunk in der Sportredaktion. Er analysiert gerne und verfasst Artikel über das Spiel.

Autor: FN beschäftigt sich mit intensiv mit Taktiktheorie als auch Analysen zu aktuellen Spielen und Entwicklungen im Fußball. Auf Twitter ist er als @felixnb aktiv.

Joakina 6. Juli 2024 um 10:19

Hallo,
Warum wurde mein Kommentar gelöscht?

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tobit 6. Juli 2024 um 12:04

Tlw müssen Kommentare manuell freigeschaltet werden. Wenn sie einen Link enthalten z.B.

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Fridolin 5. Juli 2024 um 17:20

Uuuuund wir kriegen Raum, Sane, Tah und Can in der Startelf. Auf ein gutes Spiel!

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tobit 5. Juli 2024 um 17:36

Also entweder ist Andrich verletzt, oder es gibt eine ganz krasse Umstellung. In allen anderen Fällen ist Can einfach willentliche und wissentliche Selbstschädigung. DAS Pressingopfer des letzten Jahrzehnts ausgerechnet gegen Spanien zu bringen. Und da haben wir von seinem katastrophalen Verteidigungsverhalten gegen lockende Gegenspieler (aka jeder einzelne Spanier) noch gar nicht geredet.

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Koom 5. Juli 2024 um 22:26

Can war nicht schuld, aber schon ein Schwachpunkt in der 1. HZ. Aber müssig auf Einzelschicksalen rumzuhacken. Ich fand die deutsche Leistung schon sehr stark. Gerade in Anbetracht dessen, wo man zuletzt herkam, war das phasenweise imposant.

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Ralf 5. Juli 2024 um 23:05

Agree. War ein richtig gutes Spiel. Ich hätte lieber einen anderen Sieger gehabt, aber, im Fußball gewinnt ab und an (oder auf öfter) der glücklichere…

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Taktik-Ignorant 5. Juli 2024 um 15:17

Tatsächlich scheint die Variante Sané statt Wirtz dermaßen wahrscheinlich, dass Nagelsmann vielleicht, um den Gegner zu überraschen, doch wieder anders entscheidet. Der Unterschied wird ohnehin letzten Endes ziemlich unerheblich sein, da ich nicht wirklich erkenne, wie das herausragende Spiel der Spanier gegen den Ball von der deutschen Mannschaft neutralisiert werden könnte. Und wer den Artikel genau gelesen hat, sieht auch, auf wie viele Dinge gleichzeitig die deutsche Abwehr bei spanischem Ballbesitz zu achten hätte. Das Grundproblem bleibt die deutlich höhere Geschwindigkeit der spanischen Spieler nicht nur im Passen, sondern auch in der Antizipation und Positionierung. Bemerkenswert übrigens auch, dass die ganz großen Namen bei den Spaniern nicht so zahlreich sind, prominenter besetzt sind eigentlich Deutschland, Frankreich, England und Portugal – aber das Mannschaftsspiel ist den Konkurrenten meilenweit überlegen.

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tobit 5. Juli 2024 um 13:59

Ich sehe Havertz nicht als Hinderungsgrund für Flanken. Sie wurden bisher nur immer richtig schlecht gespielt wenn er drauf war und die zwei zu Füllkeugs Toren waren quasi die einzig guten im ganzen Turnier. Raum kann nicht starten, weil Yamal kontrolliert werden muss, wozu Mittelstädt nicht nur durch seine Zweikampf- und Deckungsstärke passt, sondern auch durch sein Bewegungsspiel in Ballbesitz. Da achtet er nämlich viel mehr auf eventuelle Konterräume des Gegners (Halbraum vor Kroos) und sichert diese präventiv, während Raum meist nur den Blick die Linie runter hat.
Entsprechend würde ich Sané heute hauptsächlich über links kommen lassen, wo er auch noch die etwas schwächeren und langsameren Verteidiger gegen sich hat.
Schlotterbeck halte ich für unpassend, da sich Kroos wieder viel zurückfallen lassen wird. Dann ist Tahs ruhiges Weiterleiten ohne Fehler wertvoller als Schlotterbecks vereinzelte Geniestreiche, die er unter Druck eh nur sehr selten wirklich durchbringen kann.

@AG:
Anton rechts ist auch lange mein Traum gewesen. Habe den aber längst beerdigt. Und Rüdiger spielt ja selbst für mich (die ihn nichtmal nominiert hätte) zu gut um ihn jetzt rauszunehmen.
Bei Kimmich bin ich aber komplett bei dir. Der wird von Nico dermaßen schwindlig gespielt werden. Da kann man ihn besser draußen lassen und dann in einem (unwahrscheinlichen) HF gegen schwächeres Pressing ausgeruht wieder bringen.

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WVQ 5. Juli 2024 um 15:56

Sehe ich alles genauso. Und in puncto Flanken kann man sowieso nicht unbedingt davon ausgehen, daß man gegen Spanien so oft Gelegenheit dafür bekommt wie gegen die bisherigen Gegner (wo es auch schon überschaubar war).

Kimmich gegen Henrichs als richtig klaren AV rauszunehmen, fände ich zu diesem Zeitpunkt auch sinnvoll. Gegen den individuell bisher gefährlichsten Außenstürmer des Turniers mit erwartbar vielen dynamischen 1-gegen-1-Duellen sollte der Fokus erst mal klar auf solider Verteidigung liegen und nicht auf dem Potential gelegentlicher Spielmacher-Momente, das bisher ohnehin nur dürftig realisiert wurde. Die einzige Frage ist für mich, ob Nagelsmann das gemanagt bekäme, ohne daß Unruhe in der Mannschaft entstünde. Zumal ich auch nicht sicher bin, ob Kimmich in einem möglichen Halbfinale gegen Mbappé dann die klügere Wahl wäre…

Daß ich das 5-3-2 in der Verteidigung gegen Spanien unpassend fände, hatte ich unter dem anderen Artikel schon gesagt. Da sähe ich auch nicht, wie man die spanischen Außenstürmer noch doppeln sollte. Wenn Andrich hinten, dann 5-4-1, aber damit wäre man für Umschaltmomente vorne sehr schwach besetzt. 4-2-2-2/4-2-3-1 macht gegen die spanische Grundordnung in meinen Augen deutlich mehr Sinn. Situativ angemessen kann Andrich die Kette dann immer noch auffüllen, ohne grundsätzlich das Zentrum blank zu lassen.

@AB/VR/FN: Bei Abbildung 10 fehlt der rechte italienische Außenspieler. 😉

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Taktik-Ignorant 5. Juli 2024 um 16:50

Zur Ehrenrettung Kimmichs sei gesagt, dass er im März gegen Mbappé nicht so schlecht ausgesehen hatte. Er hatte da aber auch die richtige Unterstützung. Da ich nicht glaube, dass Nagelsmann es mit den Personaländerungen übertreiben möchte, tippe ich darauf, dass Kimmich in der Mannschaft bleibt.

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tobit 5. Juli 2024 um 17:31

Und Mbappé zieht quasi immer nach innen, da gibt es viel mehr Unterstützung für Kimmich als gegen Nicos Grundlinienfokus. Mal davon ab wirkt Mbappé auf mich aktuell weniger dynamisch als schonmal und „dank“ Nasenbeinbruch auch etwas kontaktscheuer / ausweichender als schonmal.

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Joakina 5. Juli 2024 um 13:52

Vielen Dank für den klasse Artikel, den ich als ambitionierte Amateurin sehr gut nachvollziehen kann. War in letzter Zeit selten so ahnungslos über den Ausgang wie heute.
Selbst bei einem nicht unwahrscheinlichen Elfern sehe ich kein Team eher vorne bzw hinten.

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AG 5. Juli 2024 um 12:52

Danke für die Vorschau, das ist ein guter Artikel der nur etwas Editierarbeit benötigt 😉

Ich würde zustimmen, dass Sané und Mittelstädt die richtige Wahl sind. Ich würde aber Tah aufstellen: Schlotterbeck hatte besonders in der ersten Halbzeit einige überambitionierte Aktionen und wirkte nicht stabil genug auf mich. Generell fände ich sowieso Anton als Alternative besser geeignet, um den Aufbau auszubalancieren (Anton rechts, Kroos links). Generell bleibt etwas die Frage, ob Spanien im 4-3-3 presst, was eigentlich Probleme für den 3-1-Aufbau bedeuten sollte. Da wäre etwas mehr Finesse als Tah/Rüdiger mit Andrich davor sinnvoll, dabei braucht es aber die zusätzliche Defensivstärke.

Vielleicht sollte Nagelsmann auch jemand anderen statt Kimmich auf rechts stellen, da bin ich defensiv nicht zufrieden (und offensiv ist das auch nicht so ganz seine Position). Warten wir mal ab, Nagelsmann ist immer noch der wahrscheinlich beste Trainer der EM, und der Heimvorteil ist natürlich auch nicht unterzubewerten

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