Passion für ein kleines Land – MX

Dass Marcelo Bielsa über kurz oder lang auch bei Uruguay für Furore sorgen wird, war vorhersehbar. Aber mit welcher Geschwindigkeit Bielsa und seine Spieler bereits jetzt durch den internationalen Fußball pflügen, ist mehr als beeindruckend. Ich habe mir mein Vorbild mal wieder etwas näher unter die Lupe genommen.

Die Saison beziehungsweise das Länderspieljahr 2023 ging für Uruguay mit zwei Siegen gegen Argentinien und Brasilien zu Ende, danach verlor man in 2024 nur noch gegen die Elfenbeinküste. Als Bielsa vor etwas mehr als einem Jahr den Job in Uruguay annahm, wusste er, dass das kleine Land, das an seine argentinische Heimat grenzt, durchaus großes Potenzial besitzt. Als erster Weltmeister des Fußballs ging man in die Geschichte ein, in der Neuzeit brachte das Fußballland mehr Weltklasse an Spielern als an Teams heraus. Mit Bielsa läutete nun ein Zeitalter des Kollektivs ein, jedes Spiel ist ein do-or-die-Spiel.

Uruguay ist jedoch zuletzt bei großen Turnieren ins Straucheln geraten – bei der Weltmeisterschaft 2022, bei der Uruguay, damals unter Trainer Diego Alonso, überstand man nicht einmal die Gruppenphase. Unter Bielsa haben die Uruguayer jüngere, athletischere Spieler in die Nationalmannschaft und das System Bielsa eingeführt und sich von Altlasten rund um Legenden wie Suárez, Cavani und Godin weitgehend gelöst.

Uruguay macht mehr Druck nach vorne, kann aber mit schnellen Flügelspielern wie Facundo Pellistri und Brian Rodriguez sowie den direkten Tiefenläufen von Nunez auch effektiv kontern, wenn sie gezwungen sind, in einem tieferen Block zu spielen. Und wie durch frühere Stationen zu vermuten ist, spielt gerade das „Angreifen“ gegen den Ball eine essenzielle Rolle.

Pressing: Hybride Ansätze mit Fokus auf Mannorientierungen

Bielsas Grundsätze

Der größte Erfolgsfaktor war bei Bielsa schon immer das Spiel gegen den Ball, auch bei Uruguay. Grundsätzlich möchte Bielsa in einer a+1-Struktur agieren, das heißt, es soll ein Verteidiger mehr in der Defensivlinie zur Verfügung stehen als gegnerische Stürmer. Einfach gesagt: Spielt der Gegner mit einem Stürmer, so stellt er zwei Innenverteidiger auf, spielt der Gegner aber mit einer Doppelspitze, so agiert er mit einer Dreierkette. Diese Herangehensweise sichert die Flexibilität im Angriffspressing und auch das mannorientierten Schemata. Das bedeutet gleichzeitig, dass man in dieser Art des Pressings in erster Linie mit a-1 steht, das heißt, dass der Gegner einen Innenverteidiger mehr besitzt als man Pressingspieler. Dieses Konzept des freien Mannes in der Verteidigungslinie gab diesem Pressingsystem, das stets zwischen Risiko und Ertrag schwankt, eine zusätzliche Sicherheit. Es ist nämlich nicht sehr unwahrscheinlich, dass ein gegnerischer Spieler in der Lage ist, sich von einem eigenen Spieler zu lösen. Wie also reagiert das Abwehrsystem auf einen gegnerischen Spieler, der sich in die eigene Hälfte bewegt? Die Antwort auf diese Frage ist relativ einfach: Sie reagieren intuitiv und improvisierend. Das bedeutet, dass die Mannschaften von Bielsa gecoacht und trainiert wird, um solche Bedrohungen zu erkennen und ihre Orientierungsaufgaben entsprechend anzupassen. Hierbei legt Bielsa großen Wert bei der Zusammenstellung seines Kaders, gerade Handlungsschnelligkeit und Spielintelligenz sind große Themen. Deswegen führte er das Team auch in eine Verjüngungskur.

Bielsas Herangehen bei Uruguay

Dies tun so meist in ihrem Hauptsystem, nämlich ein 4-1-4-1, aber es sieht oft aus wie ein 4-4-2 bzw. ein 4-2-4, denn gegnerische Mannschaften pflegen in ihr Aufbauspiel zur Vergrößerung der Zwischenräume oft einiges an Breite ein. Tendenziell schiebt so einer der beiden zentralen Mittelfeldspieler durch eine Mannorientierung und das breite Agieren der Flügelspieler hoch. Die Verteidigungslinie agiert besonders eng, um ein Durchschieben aus zentralen Räumen und lange Bälle zu unterbinden. Sobald der Pass zu einem der gegnerischen Außenverteidiger gespielt wird, so wird auf die Ballseite verschoben und kollektiver Druck ausgeübt. Hierbei variiert Bielsa von Spiel zu Spiel, denn teilweise läuft man bereits in der ersten Pressinglinie mannorientiert auf die Innenverteidiger an, während es oft gegen stärke Gegner erst in zweiter Linie mannorientiert angegangen wird. Diese Variationen fußen tendenziell dennoch auf dieselbe Basis, denn die Innenverteidiger, die nicht mannorientiert aggressiv angelaufen werden, dürfen dennoch nicht zu viel Höhe generieren, denn sonst wird man aus der Struktur ausbrechen und den Angriffsablauf stören.

Ablauf 1: Fokus auf das horizontal verschiebende Hybridpressing

Das Wichtigste dabei sind zwei wichtige Rollen, um den Ball und die Gegner zu umspielen: 1. Sobald die gegnerische Mannschaft nach außen spielt, müssen der bzw. die Stürmer, der Flügelspieler und der zentrale Mittelfeldspieler gegnerische Spieler finden, die sie „mannorientieren“. Durch diese enge Manndeckung wird es für den gegnerischen ballführenden Spieler am Ball schwieriger, einen vertikalen Passweg zu finden, und er wird wahrscheinlich direkt in eine Mannorientierung hinein spielen. Das ist eine weitere Stärke von Uruguay: Alle Verteidiger, egal ob außen oder innen, sind hervorragend im Bodenzweikampf. Die Verteidiger rücken oft früh aus ihrer Struktur heraus (siehe Bild) und attackieren dann den Spieler, um ihn daran zu hindern, sich zu drehen und nach vorne zu spielen, im Idealfall kommt der Verteidiger sogar vor dem Angreifer an den Ball. Insgesamt sind sie auf der Ballseite sehr aggressiv und intensiv, um den Ball zu erobern. 2. Unabhängig von der Intensität, mit der die gegnerische Mannschaft den Ball auf die andere Seite gepresst wird, kann es zu einer nachteiligen Situation kommen, wenn das Spiel verlagert wird (siehe rechts). Daher ist es für die Spieler auf der anderen Seite extrem wichtig, die Gegner im kompakten Raum zu halten und sich nicht herauslocken zu lassen. Kann der Gegner die Seite verlagern, so ist sofortiges horizontales Verschieben und das Finden der direkten Gegenspieler essenziell.

Oft können gerade bei schnellem gegnerischen Aufbauspiel nicht direkt die Mannorientierungen gesucht werden, hierbei müssen Bielsas Spieler Intelligenz aufweisen und frühzeitig den Passweg versperren. Das heißt, dass es verschiedene individualtaktische Aufgaben innerhalb des Pressingszykluses gibt: Aufgabe A besagt, dass man immer wissen muss, wo der Gegner ist. Aufgabe B ist die Einschätzung der Kompaktheit und der Entfernung und Aufgabe C ist das Stoppen der Progression des gegnerischen Ballbesitzes mittels Mannorientierungen oder durch Zusperren des Passweges. Der Druck soll dabei immer aus dem Rücken des Gegners geschehen, um auf Freilaufbewegungen reagieren zu können. Es hängt dabei auch mit der Position des Balles zusammen: Ist der Ball in der Mitte, wird man vermehrt versuchen, die Passwege zu versperren. Befindet sich der Ball am Flügel, so nutzt man auch die Auslinie als Mitspieler und presst aggressiv und mannorientiert den Gegner.

Diese Flexibilität und Improvisation zwischen Mann- und Raumorientierung ist essenziell, damit das System nicht in sich zusammenfällt. Für mich zeigt das auch indirekt auf, wieso Bielsa bei der Nationalmannschaft etwas weniger idealistisch (dazu später mehr) agieren muss und mehr als bei seinen vorherigen Stationen direkt auf ein raumorientierte geprägtes Pressing setzt, es fehlt schlichtweg die Zeit, dass er diese essenziellen Handlungsstränge seinen Spielern eintrichtert, gerade den Ball als ständigen Referenzpunkt in Verbindung mit dem Gegner zu setzen, kann auch mental wie physisch sehr anstrengend sein. In Länderspielphasen fehlt dafür oft die notwendige Frische.

Im folgenden Beispiel sehen wir eine (in diesem Fall hypothetische) Uruguay-Mannschaft, die den Ball Richtung des Linksverteidigers drängt. Sie tun dies, indem der ballferne Flügelspieler (hier Araujo), der als zweite Spitze agiert, und so den ballfernen gegnerischen Innenverteidiger anbindet. Sobald der Torwart den Ball zum rechten Innenverteidiger spielt, versuchen Araujo und Nunez mit bogenartigen Läufen, den Ball an die linke Seitenlinie des Gegners zu bringen. Auf diese Weise lassen sie die gegnerischen Spieler jedoch unbehelligt. Um ein einfaches Ausweichen aus dem Pressing zu verhindern, springen Ugarte, La Cruz und R. Araujo auf die freien Spieler zu, um sie eng zu decken. Valverde rückt hier etwas aus seiner eigentlichen Halbraumposition heraus, um im Zugriffsbereich des ballfernen Außenverteidiger zu liegen, im Laufe der gegnerischen Progression auf den Außenverteidiger wird er weiter einrücken, um so den Raum zwischen den zentralen Mittelfeldspielern zu minimieren und maximalen Druck auf die Ballseite ausüben zu können.

Wie man sieht, stehen dem gegnerischen ballführende IV nicht viele Möglichkeiten offen. Uruguay hat die Passmöglichkeiten um sich herum eingeschränkt, sodass es keine guten Optionen für progressiven Pässe gibt, auch durch die aggressive Positionierung von M. Araujo, dem zweiten Stürmer, gibt es kein einfaches Umkehrspiel durch den Torwart. Die Optionen für Gegner scheinen zu sein: Aufbauen durch das Pressing und riskieren, den Ball in einer gefährlichen Zone in der Nähe des eigenen Tors zu verlieren, hierbei stets den Druck ersuchen; oder den Ball lang in ein 3 gegen 4 in der Abwehrreihe zu schießen, was Uruguay mit deren kopfballstarke Innenverteidigung entgegenkommt.

Aber der Gegner hat in diesen Fällen einen Vorteil: Er kennt (ungefähr) die Art und Weise, wie Uruguay diese Mannorientierungen strukturieren wird, und weiß daher, wo sich die Schwachstellen auftun werden, z. B. wenn man Uruguay vertikal auseinanderzieht.

Gehen wir noch einmal zurück und betrachten wir die Situation, in der Uruguay in die Mannorientierung gegangen ist: Die größte Schwachstelle, die sich aufgetan hat, liegt zwischen der Verteidigungslinie und dem Mittelfeld, da die Mittelfeldspieler aufgesprungen sind, um den Raum hinter der vorderen Pressinglinie zu verdichten, wurde im Rücken der Mittelfeldlinie Raum frei, den die Innenverteidigung nicht direkt verteidigen kann. Hierbei ist es oft essenziell, wie der ballnahe zentrale Mittelfeldspieler (La Cruz) dann den Passweg zustellt und inwieweit der Stürmer (Nunez) im Bogenlauf Druck ausübt. Gegen bspw. Panama kam es genau durch diese Räume oft zu gefährlichen Angriffen: Sie versuchten gar nicht, gegen den Druck anzuspielen. Bereits der Torhüter spielte tief in Richtung ihres Stürmers, auch die Innenverteidiger von Uruguay hatte überraschend große Probleme beim Rausrückverhalten gegen diese Bälle. Diese Taktik hätte Panama beinahe den Ausgleich ermöglicht und zeigte, wie effektiv das Spiel mit langen Bällen unter Druck sein kann. Wie man im obigen Beispiel sieht, versuchen Gegner dann auch durch Einrücken der Flügelspieler zwischen den Linien 2v1-Situationen zu schaffen, was die Zuordnungsprobleme bestärkt. Dazu ergeben sich Räume durch den herausgerückten Außenverteidiger, hier könnte es mittels Durchschieben aus vorderen Linien gefährlich werden. Gerade das Problem mit den Außenverteidigern löste Bielsa dadurch, dass er sie nicht mehr aggressiv herausrücken ließ, sondern dem Gegner etwas Raum in der Breite gab, um dann wiederum im Zentrum mehr Zugriffsmöglichkeiten auch zwischen den Linien zu besitzen.

Darüber hinaus scheinen viele dieser hybriden Ansätze, wie es auch dieser ist, eine Art Mantra in sich zu tragen, dass man lieber eine Schwäche in den tiefen Positionen des Feldes zulässt. Ein Hybrid-Pressing weist entweder Schwächen im vertikalen, wenn gerade die Defensivlinie vulnerabel ist, oder horizontalen, wenn man gerade in der Breite auf Probleme stößt, auf. Der Trend geht gerade in Richtung Hybrid, denn sie bieten die defensive Struktur von Zonensystemen und ermöglichen gleichzeitig die Störung durch aggressiveres mannorientierten Pressing. Bei Bielsa zeichnet es sich bspw. dadurch aus, dass er schon bei Leeds tendenziell einen hybriden Spieler im defensiven Mittelfeld bzw. der Innenverteidigerposition ohne direkte Anbindung haben wollte und es nun auch im zentralen Mittelfeld, hier mit Valverde, einen solchen gibt: Die Zentrumsspieler werden mit zwei Deckungsaufgaben betraut, die sie in verschiedenen Phasen des Spiels in Relation mit Ball und Gegner übernehmen. Für mich und einige andere Analysten sind das dann »Hybridspieler«, denn sie ermöglichen es Teams, zwischen zonen- und mannorientierten Ansätzen zu wechseln, ohne dass die Struktur völlig zusammenbricht.

Ablauf 2: Fokus auf die Kompaktheit

Der hohe PPDA-Perzentilwert der Mannschaft (94,2) im Vergleich mit anderen Mannschaften aus der Qualifikation zur Copa ist im Vergleich zur Konkurrenz relativ niedrig. Dies ist ein wichtiger Indikator dafür, dass die Intensität des Pressings überdurchschnittlich hoch ist. Das hängt aber nicht wenig damit zusammen, dass man in dieser Qualifikation gegen nominell schwächere Mannschaften traf, denn in Testspielen gegen stärke Mannschaften baute man auf ein anderes System.

Wie man sieht, ist der Aufbau tendenziell ähnlich, aber dennoch gibt es durchaus große Unterschiede. Ganz grundsätzlich werden den gegnerischen Innenverteidiger, hier in einem Dreieraufbau wie Brasilien, sehr viel Raum zum Andribbeln gegeben, direkte Mannorientierungen sind Fehlanzeige. Dadurch verliert man etwas an Höhe im Pressing und ist näher beim eigenen Tor. Die zentralen Mittelfeldspieler haben tendenziell noch einen Hang zu Mannorientierungen, um gerade Aufbauspieler wie den gegnerischen Sechser zu isolieren. Grundsätzlich ist dieses Schemata noch mehr an den Ball gebunden, gerade das horizontale Verschieben erfolgt erst beim Spiel von Innenverteidiger zum Flügelverteidiger. Es geht in diesem Ablaufmuster darum, dass man den Raum zwischen den Linien mit den beiden zentralen Mittelfeldspielern (Ugarte; Valverde) für den Gegner minimiert und auch 1g1-Duelle in bspw. der Abwehrlinie verhindert, was gerade gegen individuell starke Teams wie Brasilien von Vorteil sein kann. Pellistri wie Araujo müssen nun aber in letzter Linie den Innenverteidiger wie den Flügelverteidiger tendenziell anlaufen, durch diese Doppelrolle kann es gerade über Dreiecke zu gegnerischer Progression kommen. In diesem Beispiel wird dazu aufgezeigt, dass Ugarte indessen vor der Frage steht, ob er den Flügelspieler, den Araujo eigentlich im Deckungsschaten hielt, deckt oder doch direkt in Richtung Ball herausrückt. In diesem Pressingschemata ist gerade die Abwehrlinie sehr flach, weswegen Vina nicht auf den Flügelspieler herausrücken kann und Ugarte im Zwiespalt steht, tendenziell wäre hier mehr Flexibilität wünschenswert.

Verhindert man aber diese Dreiecke und das weite Andribbeln der Innenverteidiger, so steht ein festes Gerüst gegen den Ball durch die Minimierung des Raums zwischen und hinter den Linien. Jedoch haben Gegner oft in der Breite Raum und genau in diesen direkten Situationen können sie dann ihre individuelle Klasse auf den Platz bringen.

Boxverteidigung

Wurde das Pressing doch überspielt und der Gegner läuft auf die Abwehrlinie zu, so versucht man so viele Spieler wie möglich hinter den Ball zu bekommen. Dadurch erhält der Gegner zwar kontrollierten Ballbesitz, aber ehe genug Leute hinter dem Ball sind, versucht man wieder mannorientiert auf den Gegner zu gehen. Dabei wählt man aber eher einen konservativen Ansatz und stellt den Gegner in einem sehr kompakten 4-2-3-1-Ansatz, hierbei versucht man den ballführenden Spieler von nachrückenden Mitangreifer zu trennen und Passwege zu versperren. Dabei werden tendenziell Räume in die Box für den ballführenden Spieler offen, dabei ist auffällig, dass die Spieler ihr Blickverhalten, ihrer Körperstellung und ihrem Stellungsspiel oft zu viel dem Ball zugewendet sind und so in einen Reagiermodus verfallen. Tendenziell rückt auch der ballferne Außenverteidigung aufgrund der engen Kettenanordnung in oder nahe der Box zu weit ein und verliert so den Überblick über den Raum in seinem Rücken. Man tut sich also sehr schwer, dass man gerade gegen inverse Flügelspieler eine Position zu finden, wo man Ball, Raum wie Gegenspieler im Blick hat.

Kurz zusammengefasst

  • Die Pressingweise ist grundsätzlich sehr fordernd für die Spieler und bedarf eines hohen Levels an Fitness, Konzentration und Spielintelligenz
  • Aufgrund dieser hohen Anforderung musste Bielsa von seinem sehr ideellen und intensiven Ansatz mit Mannorientierungen über den ganzen Platz teils abrücken
  • Diese Flexibilität gibt den Spielern Stabilität, dennoch weisen die Systeme jeweils Probleme auf, was aber völlig normal ist
  • In der Box bringt man seine Spieler sehr gut hinter den Ball und stoppt Nachrücker den ballführenden Spieler zu unterstützen, aber tendenziell verfällt man situativ zu sehr vom Agieren in ein Reagieren

Aufbauspiel: Über die Halbräume zum Tor

Schon bei Leeds agierte Bielsa in einem 4-3-3-Grundsystem, so auch bei Uruguay. Die Ausgangssituation Stuttgarts ist meist wie auf der Grafik ein 2-4-3-1. Zwei breit agierende Innenverteidiger als Aufbauspieler mit zwei Außenverteidigern, die die Breite des Spielfeldes komplett nutzen, auch weil die Flügelspieler Gegner in den Halbräumen anbinden. Ein Sechser ist davor eng positioniert und versucht sich stets aus dem Deckungsschatten der Stürmer freizulaufen und so weitere Spieler des Gegners aus dem System herauszuziehen. Die beiden äußeren zentralen Mittelfeldspieler teilen sich auf, denn während einer fast bis in die letzte Linie rückt und so eine 4v4-Situation gegen eine Viererkette herstellt und so auch die gegnerischen Ketten etwas zusammenfallen lässt. Nunez versucht immer den Zwischenraum von Innen- und Außenverteidiger zu suchen, um dann rechtzeitig in die Tiefe starten zu können. Tendenziell ergeben sich auch durch horizontales Verschieben gerade der Zentrumsspieler wie Valverde und La Cruz auch Möglichkeiten zum Überladen der Flügel.

Mit Vina und Araujo hat Bielsa zudem zwei verschiedene Spielertypen auf der Außenverteidigerposition. Während Vina ein sehr offensiver Flügelverteidiger ist, der gerade in der Antizipation für Strukturen und Möglichkeiten im Aufbauspiel Weltklasse ist, steht mit Araujo ein gelernter Innenverteidiger auf dem Papier. Dies macht sich Bielsa zunutze, setzt den Fokus auf die spielstarke linke Seite, und lässt gerade Vina immer wieder durchlaufen, um die gegnerische Abwehrlinie weiter zu überlasen, dabei oft im Zusammenspiel über bspw. Dreiecke mit dem Flügelspieler und dem hochgeschobenen offensiven Mittelfeldspieler. Araujo hingegen sichert derweil oft in der Restverteidigung in einer Dreierkette mit den beiden Innenverteidigern ab. Teils schieben auch beide Außenverteidiger hoch, dafür muss der defensive Mittelfeldspieler (Ugarte) etwas tiefer agieren.

Bei diesen Durchlaufbewegungen der Außenverteidiger werden sie und auch die ballnahen Mittelfeldspieler von gegnerischen Spielern verfolgt; da die Spieler nun die tiefe Abwehrreihe besetzen, ist der Innenverteidiger auf der gegenüberliegenden Seite frei, da der Gegner Räume lässt. Von dort aus sind die Passwege in das letzte Drittel offen und Räume nicht besetzt, und die Mitspieler können die horizontalen Räume zwischen den Verteidigern besetzen und in den Strafraum eindringen. Hierbei fällt auch direkt ein weiterer wichtiger Punkt auf: Die Boxbesetzung der Nationalmannschaft ist hervorragend. Durch die hohe Besetzung der letzten Linie kann man sehr aggressiv einlaufen, dabei wird der lange und kurze Pfosten besetzt und auch der 11-Meter-Punkt als Referenzpunkt genommen.

Besonders gegen Teams, die bewusst in der Raumorientierung ihr Kettenverhalten sehr eng gestalten, kann man durch Herauslocken der gegnerischen Außenverteidiger oft den Raum hinter der Linie angreifen. Die Innenverteidiger versuchen, direkt auf den ballnahen Flügelspieler zu spielen, der sich leicht fallen lässt, sodass der Außenverteidiger auf derselben Seite die Innenräume angreifen kann. Allgemein arbeitet Bielsa bei Uruguay sehr viel mit entgegengesetzten Bewegungen, ein weiteres Beispiel ist hierfür, dass sich Nunez fallen lässt und dafür La Cruz in die Tiefe geht. Tendenziell ergeben sich auch einige Passoptionen zwischen den Linien durch bspw. Valverde oder einen abkippenden La Cruz, dies ergänzt die überlappenden Außenverteidiger, die den Gegner in eine gewisse Enge treiben. Es ist vor allem das Timing und die Abgestimmtheit dieser Angriffsmuster, die den Einfluss von Bielsas Trainingsmethoden und seinem Spielverständnis zeigt. Vor allem, wenn es darum geht, in weiten Räumen gegen einen tief stehenden Block Kombinationen zu schaffen, tun sich einige Teams schwer, Uruguay liebt hingegen diese Situationen. Das spürt man auch, wenn ein Gegner Angriffe am Flügel stoppt, denn dann reagiert Uruguay flexibel und versucht über die horizontal rausschiebenden zentralen Mittelfeldspieler eine Seitenverlagerung zu initiieren und so erneut die extreme Breite auszunutzen. Diese Antizipation im Freilaufverhalten auf Gegner und Spiel macht sie so unausrechenbar.

Auffällig ist hierbei, dass die Angriffe typischerweise über die ballspielenden Innenverteidiger starten, die erst versuchen das gegnerische Pressing zu locken, dann andribbeln, und so den freigelaufenen defensiven Mittelfeldspieler suchen. Dieser soll sich dynamisch aufdrehen und dann in den Gegnerdruck bzw. den tiefen Block hinein spielen zu technisch starken Spielern wie La Cruz, die dann in die Tiefe startende Spieler aus dem Flügel in die Box bedienen. Diese stabile Basis wird hierbei von einigen Antizipationen auf den Gegner und Variationen geprägt, hier sind ein paar Beispiele:

  • Der defensive Mittelfeldspieler kippt zwischen die beiden Innenverteidiger ab und zieht so einen Gegenspieler aus dem Zentrum heraus, wodurch dann die Unterstützung im Laufe des Aufbauspiels aus der überspielten Linie fehlt
  • Zentraler Mittelfeldspieler kippt aus dem Halbraum weit in die eigene Hälfte ab, zwingt den direkten Gegenspieler zur Verfolgung und schafft so Möglichkeiten mittels eines Dreiecks einen geblockten Spieler freizuspielen
  • Flügelspieler kippt weit ab und schafft so eine Überladung eines kleines Raumes mit einem andribbelnden Innenverteidiger, horizontal verschiebenden zentralen Mittelfeldspieler und einem hoch geschobenen Außenverteidiger
  • Rotationen im zentralen Mittelfeld im Laufe des Spiels, um Gegnerstrukturen weiter zu zerstören und weitere Dynamik in das Aufbauspiel zu bringen

Aggressivität, Variabilität wie auch die Breite des eigenen Spiels kommen den Südamerikanern auch in Umschaltsituationen zugute. Nach Ballgewinnen attackieren die laufstarken Flügelspieler (vor allem ballfern) immer wieder gut freie Räume der aufgerückten Außenverteidigung. Die Grundlage hierfür liegt auch bei Nunez, der versucht nach Ballgewinn sich weit vor der Abwehrlinie zu positionieren und so diese herauszulocken, damit der Raum hinter der Abwehr bespielbarer wird. Nach Ballgewinnen starten die Flügelspieler sofort in die Tiefe und werden oft, auch durch lange Bälle, direkt mit dem ersten Pass gesucht. Allerdings geht gerade bei dem Zentrumsspieler nicht blind der Blick nach vorne, sondern auch hier wird der Ball als Relationspunkt gesetzt: Durch die Blickrichtung und die Körperhaltung zum Ball, ist es auch nach Ballgewinn einfacher, dass man den Ball auf engem Raum zirkulieren lässt und dann offene Räume bspw. auf der ballfernen Seite findet. Also auch hier ist das Stichwort »Flexibilität« durchaus wichtig, durch diese Mischform aus „first pass forward“ und dem Finden der Struktur verhindert man, dass man kollektiv zu ambitioniert agiert und so für eine zweite Welle nach erneutem Ballverlust sehr anfällig wird.

Nach Ballverlusten ist man dennoch sehr anfällig: Durch das hohe Aufrücken der Außenverteidiger und der zwei zentralen Mittelfeldspieler ist die zweite Linie in der Restverteidigung sehr dünn besetzt und die Abwehrlinie besteht lediglich aus den Innenverteidigern. Gegner versuchen daher direkt mittels langen Bällen hinter die Abwehrreihe zu kommen und durch die Nachrücker die Defensivreihe zu überlasten. Tendenziell geht Uruguay aber sehr gut ins Gegenpressing, gerade durch die hohe Besetzung der letzten Linie, ist man numerisch in einer sehr guten Ausgangslage für Gegenpressing. Dennoch gibt es in jedem Spiel vereinzelt Situationen, wo ein Ball durchrutscht, dann ist es wichtig, dass die Innenverteidigung schneller als die durchlaufenden Gegner ist und auch der Rest sehr schnell hinter den Ball kommt. Eine Lösung hierfür ist, dass der ballferne Außenverteidiger sich defensiv positioniert, dies sah man phasenweise bereits, aber gegen schwächere Gegner verzichtet man auf diese zusätzliche Absicherung.

Kurz zusammengefasst

  • Das Aufbauspiel fußt auf eine stabile Basis und wird durch Variationen und Rotationen ergänzt
  • Trotz längeren Zirkulationsphasen bleibt stets die Dynamik gerade im Flügelspiel erhalten
  • Die Außenverteidiger schieben sehr hoch, was offensiv zwar eine Überzahl ergibt und Gegner vor große Probleme stellt, aber in der Restverteidigung ein Problem darstellt
  • Die Box versucht man an breit abzudecken und besetzt die Zielpunkte (Kurzer Pfosten, langer Pfosten, 11-Meter, Rückraum) jeweils mit festen Zuordnungen, wodurch sich bei Flanken stets Gefahr auftut

Fazit

Wie gut ist Uruguay und Bielsa nun wirklich? Der neue Trainer hat in recht kurzer Zeit bereits eine intensive und eine leidenschaftliche Mannschaft mit einer recht breit angelegten Qualitätspalette geformt. Sie zeichnen sich mit Aggressivität, Laufstärke, solider Organisation, dynamischem Nachrückverhalten und vielen Bewegungen aus und profitieren dabei auch von der individuellen Klasse von bspw. Valverde oder Nunez.

Besonders beeindruckend ist das Engagement seiner Spieler – ihre Bereitschaft, auf Ballbesitz zu drängen und stets Räum zu suchen und zu besitzen. Intensität allein wird nur selten zum Erfolg führen, vor allem gegen komplettere Gegner. Daher ist die Intelligenz, beim Pressing im richtigen Moment aus der Mannorientierung herauszugehen, die Passwege zu blockieren, ebenfalls von entscheidender Bedeutung.

Grundsätzlich dürften sie so stark sein, wie die letzten Monate zeigen: An einem guten Tag, kann diese Mannschaft jeden schlagen. Aber an einem schlechten Tag, kann diese Strategie auch ziemlich risikobehaftet sein und so ineinander zusammenfallen.

MX hat eine Vorliebe für besonders auf Ballbesitz ausgerichtete Mannschaften, steht mittlerweile aber auch auf Relationismus. Neben Der-Jahn-Blog schreibt er auch für miasanrot. Vorher war er im Analysebereich des NLZ von Jahn Regensburg tätig.

Fridolin 1. Juli 2024 um 01:14

Danke das war ein interessanter Einblick in Bielsa’s Uruguay

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