Österreich presst sich zum Gruppensieg
Mit einem 2:3 Sieg über die Niederlande zogen die Österreicher am Dienstag überraschend vor Frankreich und den Niederlanden als Gruppensieger ins Achtelfinale ein. Es war ein durchaus taktisch geprägtes Spiel mit diversen Anpassungen während des Spiels auf beiden Seiten. Die Niederländer hatten auch aufgrund von mehreren Umstellungen in der Startelf Österreichs große Probleme mit dem gegnerischen Pressing.
Neu formierte Startelf auf beiden Seiten
Ralf Rangnick veränderte seine Startelf gegenüber dem Sieg gegen Polen um gleich vier Positionen. Wöber rückte für den verletzungsbedingt fehlenden Trauner in die Startelf. Der offensivstarke Prass ersetzte nach zuletzt bereits guter Leistung von der Bank Mwene. Die entscheidenden Änderungen fanden allerdings in der Offensive statt. Hier ersetzten die technisch versierten und 1vs1 stärkeren Wimmer und Schmid die eigentlich gesetzten Laimer und Baumgartner, wodurch Sabitzer auf die Zehn rückte.
Auch Koeman nahm drei Änderungen in der Startelf im Vergleich zum Spiel gegen Frankreich vor. Dumfries wurde durch Geertruida ausgetauscht, welcher mehr Qualitäten im Spielaufbau mitbringt. Der zuletzt blass gebliebene Frimpong wurde durch Malen, von dem man sich mehr Zug zum Tor versprach, ersetzt. Koeman setzte außerdem wie schon beim Sieg gegen Polen auf ein Dreiermittelfeld mit Veerman für Simons, was im Laufe der Partie noch eine größere Rolle spielen sollte.
Österreichische Überlegenheit in der Anfangsphase
Österreichs hybrides Pressing setzte den Niederländern in den ersten 25 Minuten mächtig zu. Die Österreicher pressten zunächst Mann gegen Mann in erster Linie gegen den niederländischen 4-2-3-1 Aufbau. Arnautovic, Sabitzer und die beiden Außenspieler pressten dabei die Viererkette. Grillitsch und Seewald schoben aggressiv auf die beiden Sechser nach und hatten somit Reijnders als freien Mann hinter sich im Deckungsschatten, da die Innenverteidiger nicht ins Mittelfeld raussprangen. Sobald der Spielaufbau auf eine Seite gelenkt wurde, rückte der ballferne Außenspieler ins Zentrum auf den ballfernen Sechser oder Reijnders. Österreichs ballferner Sechser konnte somit Reijnders zwischen den Linien aufnehmen und eine +1 Überzahl in der letzten Linie kreieren.
Sie pressten mit unglaublicher Intensität und Aggressivität auch in den letzten Metern. Das Pressing diente als Mittel der Chancenkreation und war auf hohe Ballgewinne ausgelegt und weniger auf die Erzwingung langer Bälle. Ein Nachteil dieser hohen Intensität in den letzten Metern ist jedoch die Anfälligkeit, per Dribbling überwunden zu werden. Österreich schaffte es vor allem durch kluges Anlaufverhalten, eine Häufung solcher Situationen zu vermeiden.
Die Idee der Niederländer, das Pressing zu bespielen, war Reijnders zwischen den Linien zu finden, sei es durch linienbrechende Pässe der Innenverteidiger oder lange Bälle auf Depay, der auf Reijnders ablegt. Wenn einmal Reijnders zwischen den Linien gefunden wurde, wurde es brandgefährlich im Umschalten. Es wurde sehr direkt und schnell in die Spitze gespielt über Malen und Gakpo als Umschaltspieler. Doch dies gelang den Niederländern zu selten. Sie wirkten zu statisch im Spielaufbau, auch da Österreich einen exzellenten Job im Pressing machte, um die eigentliche 2vs3 Unterzahl im Mittelfeld zu kompensieren.
Klassisch Niederländisches Pressing – mit den typischen Vor-und Nachteilen und der folgerichtigen Antwort Österreichs
Dem gegenüber konnten die Niederländer selten hoch pressen. Wenn doch, ließen sich Reijnders und Schouten herausziehen und schoben im Pressing neben Depay, um die österreichischen Innenverteidiger und den im Aufbau als Sechser fungierenden Grillitsch Mann gegen Mann unter Druck zu setzen. Durch die breite Positionierung der Außenspieler war Veerman der einzige zentrale Spieler und hatte viel Raum abzudecken. Unter niederländischem Angriffspressing schafften es die Österreicher im Spielaufbau mit Seiwald als rechtem Achter im Aufbau, zusammen mit dem hochstehenden Posch und dem einschiebenden Schmid die rechte Seite zu überladen und sorgten damit dafür, dass Veerman, als einzig verbliebener Zentrumsspieler sich stets für die überladene rechte Seite entschied. Dadurch entstand auf der linken unterladenen Seite sehr viel Raum. Durch das Abkippen Sabitzers, welcher sich somit den gegnerischen Innenverteidigern entzog, konnte das Pressing damit problemlos bespielt werden. Normalerweise zeichnet sich das mannorientierte Pressing der Niederlande durch viel Druck auf die ballführenden Gegner aus. Durch die Unterzahl im Zentrum und dem der fehlenden Kompaktheit geschuldeten frei werdende Raum auf der unterladenen Seite war der Zugriff nicht mehr vorhanden.
Zudem waren die Niederländer sehr passiv in ihrem Rausschiebeverhalten aus ihrem 4-1-4-1 Mittelfeldpressing. Depay, als holländischer Neuner fungierend, musste gegen die beiden österreichischen Innenverteidiger zunächst alleine anlaufen und weite Distanzen als alleinige Spitze zurücklegen. Da diese sich somit im 2vs1 respektive 3vs1 (mit TW) befanden, konnte die Niederlande keinen Druck auf die ballführenden Innenverteidiger ausüben. Depay konnte entsprechend seltenst einen der beiden Innenverteidiger isolieren und unter Druck setzen. Den Niederländern fehlte somit gegen den Ball die Spielkontrolle, da sie weder im Angriffs- noch im Abwehrpressing Druck ausüben konnten und folglich lediglich reagieren konnten.
Durch den fehlenden Druck beim Anlaufen der Niederländer auf Österreichs Spielaufbau, aber auch durch das extrem starke Pressing und Gegenpressing waren die Österreicher in der Lage, weite Teile der ersten Halbzeit zu kontrollieren. Im Ballbesitz spielte Österreich gegen das niederländische Mittelfeldpressing eine Art 2-4-3-1. Beide Außenverteidiger schoben etwas höher und die Außenspieler rückten nach innen. Sie hielten die Abstände zwischen ihnen und Sabitzer und Arnautovic sehr eng, wodurch gute Voraussetzungen für Gegenpressingmomente geschaffen wurden. Das Binden der gegnerischen Außenverteidiger durch die einrückenden Flügelspieler führte dazu, dass sich häufig die Möglichkeit ergab, den eigenen Außenverteidiger im freien Raum zu finden und man zu Flanken kommen konnte. Der niederländische Flügelspieler war so im Dilemma, ob er tief bleiben sollte, um den aufrückenden Außenverteidiger aufzunehmen oder Druck auf den andribbelnden Innenverteidiger ausüben sollte. Österreich wusste diese 2vs1 Aktionen zu nutzen. Im niederländischen Block fehlte es dann an Abstimmung. Oft stimmte das Übergabeverhalten der Mittelfeldspieler nicht und es konnten wiederholt Lücken gerissen werden. Das gleiche passierte auch vor dem 0:1, als Wimmer sowohl Geertruida als auch de Vrij gebunden hatte und Depay kaum Druck auf den anlaufenden rechten Halbverteidiger Lienhart ausüben konnte. Schmid band Schouten, der im niederländischen 4-1-4-1 für den Raum zwischen den Linien zuständig war. So konnte Arnautovic frei empfangen, aufdrehen und den aufrückenden Prass im offenen Raum finden. Wimmers Tiefenlauf zwang die Defensive weiter zum eigenen Tor zurück und ermöglichte Prass Flanke. Die Anpassungen Rangnicks in Vorbereitung auf die Holländer machten sich überaus bezahlt.
Niederländische Anpassungen
Koeman reagierte auf die Probleme und ersetzte Veerman in der 35. Minute durch Simons. Er veränderte die Statik sowohl gegen als auch mit Ball. Gegen den Ball agierten die Niederländer nun im Mittelfeldpressing phasenweise aus dem eigentlichen 4-1-4-1 heraus in einem 4-0-4-2, indem der Sechser Rejinders (bzw. teils Schouten) sowie Xavi jeweils eine Reihe vorschoben. Dies hatte zur Folge, dass Simons und Depay immer wieder im 2vs2 gegen die österreichischen Innenverteidiger anlaufen konnten und somit mehr Druck und Kontrolle auf den Spielaufbau der Österreicher auf Höhe der Mittellinie ausüben konnten. Linienüberspielende Pässe, wie sie Lienhart unter anderem beim 1:0 noch problemlos spielen konnte, wurden eine Seltenheit. Zudem setzte Koeman mit Van Dijk und De Vrij Sabitzer je nach abkippender Seite durch einen der Innenverteidiger unter Druck. Jener Innenverteidiger befand sich dauerhaft „auf dem Sprung“ zu Sabitzer und folgte in die Zwischenräume mannorientiert. Gleichzeitig hatten Geertruida bzw. Aké damit die Aufgabe defensiv hinter dem herausrückenden Innenverteidiger den entstandenen Raum abzusichern. Somit konnte Sabitzer im Mittelfeld keine Überzahl mehr erzeugen.
Im selteneren Angriffspressing reagierten die Niederländer nun auch nach dem Wechsel. Die vorschiebenden Depay, Simons und Schouten übten Druck gegen den 2-1 Aufbau der Österreicher aus. Im Zentrum agierten dementsprechend der hoch stehende Schouten sowie der etwas tiefer positionierte Reijinders gegen Seiwald und Grillitsch mannorientiert. Damit der entgegenkommende Sabitzer auf der unterladenen Seite nicht das gesamte Pressing auflösen konnte, agierte ähnlich wie im mid Block ein Innenverteidiger auf dem Sprung als Mann gegen Mann Presser gegen Sabitzer. Entsprechend konnte sich Österreich kaum noch aus dem Angriffspressing der Holländer befreien. Dass diese jedoch nicht öfter höher attackierten lag wohl am enorm hohen Risiko, da man nicht nur große Räume hinter den Innenverteidiger offenbarte, sondern auch 4vs4 in der letzten Linie spielte. Die beiden Umstellungen Koemans im Angriffspressing sowie im Mittelfeldpressing sorgten dafür, die defensive Kontrolle über das Spiel zumindest kurzfristig wieder herzustellen.
Mit Ball kippten Depay und Simons teils beide teils gegenläufig in den Zehnerraum und konnten einen Innenverteidiger herausziehen um die Tiefe zu öffnen. Dieser entstehende tiefe Raum konnte entweder durch die gegenläufige Bewegung oder durch den ins tiefe Zentrum von der Seite aus kommenden Malen besetzt werden, wodurch man nach langen Bällen schnell zu Abschlüssen kam. Die Niederländer hatten dennoch weiterhin Probleme, Kontrolle über das Spiel mit Ball zu bekommen. Auch weiterhin war man im Spielaufbau dem Druck Österreichs ausgesetzt.
Aufbau im 3-Raute-3
Nach der Halbzeitpause nahmen die Niederländer eine ungewöhnliche Änderung im Spielaufbau vor. Statt zuvor im 4-2-3-1 baute man nun aus einem 3-Raute-3 heraus auf. Aké rückt ein als linker Halbverteidiger und Geertruida interpretierte seine Rolle nun invers als rechter Achter. Diese Umstellung kam vor allem ihm zugute und legte mehr Fokus auf seine Stärken im Spielaufbau. Simons agierte nun als die Spitze der Mittelfeldraute und war das Zentrum des niederländischen Offensivspiels.
Österreich hatte seine Probleme, im Pressing mit der Umstellung klarzukommen. Arnautovic und die beiden Außenspieler pressten nun die Dreierkette der Niederländer Sabitzer schob hoch auf den Secher und die Sechser schoben auf die niederländischen Achter. Somit fungierte Simons als freier Mann zwischen den Linien. Die Österreicher versuchten, sobald der Spielaufbau auf eine Seite gelenkt wurde, mit dem ballfernen Flügelspieler ins Mittelfeld auf den ballfernen Achter zu fallen, sodass der ballferne Sechser auf Simons schieben konnte. Doch die Niederländer schafften es mehrmals aufgrund des flexiblen Spielsystems, das Pressing über den ballnahen Achter zu durchspielen und Simons zu finden. Das Schiebeverhalten der Österreicher war nicht mehr kompakt genug und man konnte somit linienüberspielende Pässe schwerer verhindern. Die Unterzahl im Zentrum ließ sich nicht mehr gut kompensieren. Aufgrund dessen kontrollierten die Niederländer die ersten 20 Minuten der zweiten Halbzeit.
Nichtsdestotrotz ist fraglich, warum die Niederländer nach Verlagern auf den rechten Halbverteidiger und den damit gewonnenen Raum auf der rechten Seite nicht öfter den entgegen kommenden Malen im 1vs1 einsetzten. Da Geertruida in die Mitte abkippte, brachte das eigentlich Wimmer in die Zwickmühle, zwischen das Zentrum mit Geertruida zu schließen oder den Passweg auf Malen zu schließen. Dieser wiederum hätte eigentlich im 1vs1 gegen Prass enorme Geschwindigkeitsvorteile und den nötigen Raum gehabt. Das hätte zusätzlich dafür gesorgt, den zentralen Pressingblock Österreichs noch weiter auseinanderzuziehen, der Kompaktheit Österreichs stärker geschadet und folglich wären Schnittstellenpässe durchs Zentrum wahrscheinlich auch erfolgreicher gewesen.
Durch die Mittelfeldraute waren die Abstände im Gegenpressing auch wesentlich kürzer, was ebenfalls für mehr Ballbesitz der Niederländer sorgte. So entstand auch das 1:1 aus einem Gegenpressingmoment, initiiert durch die Ballrückeroberung Geertruidas auf der 8er Position, welcher sich noch in der ersten Hälfte dort nicht befunden hätte.
Rangnick reagierte auf die Umstellung und brachte Laimer für Grillitsch, der aufgrund seiner Athletik eher in der Lage war, die durch das Verschieben entstehenden Lücken zu schließen und weite Wege zu gehen. In Folge veränderte Rangnick auch die Struktur im Mittelfeldpressing und wechselte auf ein 4-2-3-1 gegen den Ball. Sabitzer kontrollierte hierbei den Sechser. Die Außenspieler konnten die Achter in Deckungsschatten nehmen und situativ auf die Halbverteidiger schieben. Die Sechser kontrollierten Simons und waren in der Lage, ballnah auf den Achter rauszuspringen, ohne die Kompaktheit im Zentrum zu verlieren. Die Österreicher lauerten in der Folge auf Umschaltgelgenheiten wie beim 2:1 und auch 3:2.
Koeman reagierte noch einmal auf Rangnicks Umstellung und brachte mit Weghorst einen Zielspieler für Flanken und lange Bälle für Malen. Weghorst war durch seine Qualität, Bälle festzumachen, auch direkt am Treffer zum 2:2 beteiligt. Simons schob durch den Wechsel auf rechts, womit man keinen Breitengeber mehr auf der rechten Seite hatte. Dies erschwerte zusätzlich das Knacken des österreichischen Blocks. Eine Einwechslung für Depay wäre durchaus sinnvoller gewesen.
Fazit
In der Gesamtbetrachtung geht der Sieg für die Österreicher in jedem Fall in Ordnung. Das der enorm guten Spielvorbereitung Rangnicks geschuldete unfassbar intensive Pressing überrollte die Niederlande zum Start der Partie förmlich. Mit und gegen den Ball nahm Rangnick notwendige Änderungen vor. Sein Team war perfekt auf die Niederlande eingestellt. Er reagierte zudem überragend auf die Umstellungen der Niederländer und schaffte es, das Spiel wieder zu beruhigen. Auch aufgrund der einfacheren Turnierbaumseite ist den Österreichern nach diesem Sieg und dem damit verbundenen Gruppensieg einiges zuzutrauen.
Die Niederlande enttäuschten zunächst und konnten sich kaum gegen das österreichische Pressing wehren. Die frühe Einwechselung Simons und die erfolgten Umstellungen, insbesondere der außergewöhnliche Spielaufbau im 3-Raute-3 nach der Halbzeit, brachte die Spielkontrolle wieder in holländische Hand. Dennoch schaffte man es nicht, seine individuelle Stärke dauerhaft aufs Feld zu bringen.
Es war mit Sicherheit aus taktischer Sicht aufgrund des starken Matchplans der Österreicher und der Änderungen während der Partie eines der interessantesten Spiele im bisherigen Turnierverlauf und zählte mit fünf Toren sicher auch zu den unterhaltsamsten.
Autor: FN ist ein junger ambitionierter Analyst und Fan, welcher auf twitter unter @felixnb Analysecontent veröffentlicht.
Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl.
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