Preview: Schafft Kroatien im Gruppenfinale noch den Turnaround? – MX
Am Montagabend kommt es pünktlich zum letzten Spieltag der Gruppe B zu einem weiteren Topspiel zwischen der verjährten goldenen Generation aus Kroatien und der leicht im Chaos versinkenden Elf aus Italien. Kann die im Pressing schwächelnde Mannschaft vom Balkan die mit Flügelfokus agierenden Italiener ärgern? Wir wagen eine Vorschau.
Personal und Formationen
Beide Mannschaften setzten im Laufe der Qualifikation wie auch im Turnierverlauf eine Basis mit leichter Anpassung auf Umstände und Gegner.
Italien agiert grundsätzlich in einem 4-2-3-1, jedoch agieren sie eher als relationales Team und die Struktur ist freiheitlicher. Zu den genauen Umständen später mehr. Rein personell werden sie wohl ein paar Veränderungen zur Niederlage gegen Spanien vornehmen müssen, gerade mit einem seiner Lieblingsspieler Frattesi sowie auch Jorginho im zentralen Mittelfeld war Spalletti unzufrieden, daher sind dort Wechsel in der Startelf nicht unwahrscheinlich.
Ähnlich sieht es bei den Kroaten aus. Sie konnten Albanien nur ein 2:2 nach einer sehr schwachen ersten Halbzeit abtrotzen. Nominell handelt es sich bei ihnen nominell um ein 4-3-3, dabei sind Wechsel in der ersten Elf zum Vergleich zur zweiten Partie in dieser Europameisterschaft wahrscheinlich. Die eingewechselten Pasalic und Sucic überzeugten nach ihrer Einwechselung und trugen einen nicht zu unterschätzenden Teil zum noch gewonnen Punkt bei, dahingehend könnten sie für Brozovic und Majer hineinrücken, denn schon im Vergleich zur ersten Partie griff Zlatko Dalić mit einigen Wechseln durch.
Die Probleme im kroatischen Pressing
Grundsätzlich agiert Kroatien im Pressing in einem dynamischen 4-4-2 bzw. 4-2-3-1, denn Andrej Kramaric bewegt sich meist im Laufe des Pressingversuchs neben Petkovic in der ersten Pressinglinie. Systematisch sind die zweite wie die dritte Pressinglinie grundsätzlich eng gestaffelt und daher sind die horizontalen Bewegungen von essenzieller Bedeutung, die Stürmer in der ersten Pressinglinie agieren in ihrer Breite eher reaktiv auf die gegnerische Innenverteidigung. Jene Umstellung auf zwei Stürmer im Pressing hängt unzulänglich damit zusammen, dass diese im Anlaufen auf die Innenverteidiger klassischerweise auch den Deckungsschatten zu den Sechsern des Gegners halten sollen, das wäre mit einem Stürmer so nicht gegen einen solchen Aufbau möglich.
Hierbei lohnt sich aber ein Blick in die genauere Staffelung. Die Pressingformation wirkt phasenweise wie ein sehr unbalanciertes Konstrukt, denn wie bereits gesagt sind die Übergänge im System fließend. Kroatien möchte tendenziell in zweiter Linie in einer Mischung aus einer mannorientierten und ballorientierten Herangehensweise sehr aggressiv anlaufen. Dabei möchte man den Gegnern wenig Raum lassen, damit diese den Ball nicht weiter nach vorne treiben können, die beiden Spieler in Front sollen Druck ausüben und möglichst den Ball auf eine Seite lenken. Hierbei ist es essenziell, dass vor allem Petkovic mit Geschwindigkeit und Intensität presst, um die Zeit für Bewegungen im gegnerischen Aufbau zu reduzieren. Das war gegen Albanien tendenziell eher selten der Fall, dahingehend konnte Albanien mit ihren Innenverteidigern weit andribbeln und so früh an Höhe im Aufbauspiel gewinnen. Oft löste man dann relativ früh über die Außenverteidiger auf, infolge wollte man über die Flügelspieler hinter die gegnerische Abwehrlinie kommen, dass die guten Ansätze der Albaner in wenig Ertrag ummünzten, war vor allem dem guten Rausrückverhalten der kroatischen Außenverteidigung, also Juranovic und Perisic, geschuldet, die oft die fehlende Intensität der vorderen Linien ausbügelten.
Die Flügelspieler, also hier Majer und tendenziell je nach Bewegung Kovacic, wollen instinktiv den Ball erobern in ihrer Position, hierbei laufen sie den gegnerischen Außenverteidiger teils ballnah zu aggressiv an und verpassen daher ihre eigentliche Aufgabe: das Zustellen des vertikalen Passweges. Der Winkel, indem die Flügelspieler gegen diese flache Außenverteidigung anlaufen, ist aufgrund der engen Staffelung der zweiten Pressinglinie zu spitz, um den gegnerischen, abkippenden Außenverteidiger im Deckungsschatten zu halten. Infolge ist es essenziell, dass die Linien kompakt bleiben, damit und Kramaric verlagert sich im Laufe des gegnerischen Angriffes immer mehr in die Mitte, um für Gleichgewicht zu sorgen und die Möglichkeit eines Rückwärts- oder Seitenpasses durch die Mitte zu unterbinden.
Gegen eine flach angeordnete Viererkette wie bei Albanien, stellen sich die Bewegungen der ersten Pressinglinie komplex dar. Denn durch die Außenverteidiger können auch die beiden Innenverteidiger breiter agieren, dahingehend stehen auch beide Stürmer entfernter voneinander. Diesen Raum zwischen den Stürmern hat dann Albanien genutzt und mit einem defensiven Mittelfeldspieler Asllani besetzt, dazu kippten immer wieder Zentrumsspieler weit ab und lockten so die zweite Linie heraus, um dann über das Dreieck mit Asllani auslösen zu können. In dieser Szene und über weite Strecken des Pressings fehlt die Variabilität: Brozovic geht offensiven Mittelfeldspieler aus seiner eigentlichen Position herausgehen, dabei gibt er Asllani den Raum ohne einen Ersatz.
Das Problem in ihrem Pressing liegt dabei auch nicht zu einem kleinen Teil in der Mischung aus ballorientiertem und mannorientiertem Pressing. In der oben dargestellten Situation ist Modrić offensichtlich mannorientiert, während Brozović und Kovačić in ihrer Linie ballorientiert. Auch wenn Modrić seinen Mann deckt, kann er nicht verhindern, dass sein Gegenspieler in jener Szene über das Dreieck, mit einem Kontakt auslöst, dahingehend verpuffte der Effekt der Mannorientierung. Tendenziell fehlte also hier auch die Abstimmung auf den Gegner: Infolge dieser Situation wollte Albanien das Zentrum überladen, dadurch rückte Kramaric zentraler und ließ so Raum für den albanischen Außenverteidiger, welcher dann durch den kroatischen in der Breite abgesichert wurde. Der albanische rechte Flügelspieler hingegen schob etwas ein und ließ sich in den Raum zwischen den Linien fallen, der im Kroatischen 4-4-2 eine große Problemzone darstellt, dazu ist es schwer aus einem flachen 4-4-2 heraus auf Überladungen zu reagieren. Da Kroatien jedoch einen zahlenmäßigen Vorteil im Zentrum und auf dem linken Flügel geschaffen hat, lassen sie auf der rechten Seite viel Platz. Die Abstände, die Brozović und Kovačić zurücklegen müssen, sind zu groß, um sofort Druck zu erzeugen. Das bedeutete, dass Albanien den Ball nach rechts verlagern konnte und den Raum hinter dem kroatischen Mittelfeld stets in den Fokus nehmen konnte.
In der obigen Szene schwankte also der Vorteil von einer numerischen Überzahl durch das System im Zentrum zu einem Nachteil aufgrund fehlender Anpassung um. Ein weiterer Punkt ist auch, dass der Abstand zwischen den Pressinglinie zu groß wurde, denn wäre das Pressing kompakter, so wären auch Mannorientierungen wie die von Modrić effektiver als wenn er diesen langen Weg gehen muss, auch das Abkippen wäre weniger effektiver und würde weniger Fragezeichen ergeben. In der Abwehrlinie tendenziell eine numerisch in der gleichen Anzahl zu stehen wie der Gegner, ist ebenso eher suboptimal. Tendenziell bin ich ein Freund dieses hybriden Mittelfeldpressings, aber ich denke, durch ein eindeutiges mannorientiertes Pressingsystem hätten sie mehr direkte sowie klare Anhaltspunkte beim Gegner und müssten nicht im Spiel improvisieren.
Kroatien spielt mit zwei inversen Flügelspielern mit dem Ball, Lovro Majer und Andrej Kramaric. Aufgrund der Bewegung dieser beiden fehlt es dem kroatischen Angriffsspiel häufig an Breite. Um dieses Problem im Ballbesitz zu vermeiden, sollen beide Außenverteidiger sehr hoch und breit schieben, um Kroatien mehr Möglichkeiten im letzten Drittel zu bieten. Die beiden Außenverteidiger lassen dann sehr viel Raum, der nicht aufgefüllt werden kann, in ihrem Rücken. Diesen Raum hat gerade Spanien nach Ballgewinnen immer wieder über das schnelle Vertikalspiel attackiert und das könnte auch Italien über die schnellen Flügelspieler tun.
Wie könnte Italien darauf reagieren?
Am Anfang muss man sagen, dass Italien grundsätzlich eine eher relationale Aufbauweise wählt, mit mehr Freiheiten für die Spieler. Aber es gibt dennoch eine gewisse Struktur, so baute man häufig mit einem 3+2-Aufbau auf, je nach Sechserpositionierung aber auch ein 3+1+1. Das erwarte ich auch gegen Kroatien, denn oft wollten Gegner einen defensiven Mittelfeldspieler isolieren, dies nutzte Spalletti aus und versuchte dafür über die Mannorientierung Räume für Mittelfeldmotor Barella zu generieren. Wie wir von oben wussten, setzt Kroatien auch auf eine Manndeckung im zentralen Mittelfeld, das könnte je nach Aufstellung Jorginho oder Cristante sein. Barella wird oft aufgrund seiner dynamischen Spielweise nicht in jene Mannorientierung genommen.
Barella kippte schon gegen Spanien oft in Richtung des ballnahen Innenverteidigers ab und konnte so je nach Bewegung über ein Dreieck mit Dimarco auslösen oder auch Cristante (oder Jorginho) suchen, die stets aus der gegnerischen Mannorientiertung heraus versuchen aus dem Deckungsschatten der Stürmer zu entfliehen. Dadurch öffnet er Passwege in den Raum zwischen den Linien, eine Schwachstelle Kroatiens, für Scamacca oder Chiesa. Tendenziell ist es auch eine sinnvolle Option Cambiasso noch ein Stück breiter als gegen Spanien zu platzieren, um diese Schwäche des kommenden Gegners auszunutzen, gerade über Barella könnten jene Verlagerungen stattfinden, denn er hält im Ballbesitzspiel auch das Tempo sehr hoch, was für diese Verlagerungen von großer Bedeutung ist, damit Kroation nicht auf Cambiassos Seite horizontal verschieben kann.
Kroatien wird auch gegen eine Dreierkette wohl im 4-4-2 anlaufen, so taten sie es nämlich auch bereits in Qualifikationsspielen. Hier muss der ballferne Stürmer auch den ballfernen Halbraumspieler im Deckungsschatten isolieren, um Verlagerungen zu verhindern. Dazu muss Kroatien am Montag gewinnen, daher erwarte ich ein höheres Pressing. In diesem Zusammenhang wird bei druckvollem Draufgehen der Kroaten, möglicherweise schon zum Start, auch interessant, welche Rolle eine mögliche Asymmetrie durch Dimarcos hohe Schieben erhalten wird. Diese breite, hohe und dynamische Positionierung wird eine spannende Herausforderung, denn wie bereits erläutert, könnte Italien über diesen Kniff einige Schwachstellen der Kroaten bespielen.
Bei einem hohen Pressing würde einer der beiden kroatischen Stürmer das Spiel im tiefen Aufbau des Gegners auf eine Seite lenken. Hierbei wäre es wieder wichtig, dass die Außenspieler den vertikalen Passweg zustellen und der ballferne Stürmer Barella zustellt. Auch ein direktes Auslösen über Pellegrini im Raum zwischen den Linien ist eine Option, hier wäre ein aggressives Herausrücken eines Innenverteidigers notwendig. Grundsätzlich wäre es möglich, aber da Kroatien schon gegen Albanien mit diesen Abläufen zu kämpfen hatte, wirkt es gegen ein noch technisch stärkeres Team und ein schnelleres Aufbauspiel wie das von Italien, eher wie ein Eigentor. Vielmehr ist es realistisch, dass Kroatien anfangs wieder etwas tiefer agiert und dann versucht über ein Mittelfeldpressing Ballgewinne zu erzielen. Dabei wird es essenziell, dass man die Linien kompakter als gegen Albanien hält, sonst wird Italien den Raum zwischen den Linien nutzen.
Welche Szenarien könnten im Ballbesitzspiel von Kroatien eintreten?
Italien ist längst nicht mehr eine Mannschaft, die nur Raum und sehr defensiv verteidigt. Stattdessen pressen sie in einer raumorientierten Mann-gegen-Mann-Struktur in ähnlicher Weise wie Kroatien, denn Spalletti möchte ein hohes Pressing anstreben. Ausgeführt wird dies in der Verteidigung mit einer Viererkette, jedoch richtet man das gesamte System immer auf den Gegner aus.
Den Sechserraum möchte man mit dem eigenen zentralen Mittelfeld und den Stürmern isolieren, dies ist der raumorientierte Teil des Pressings. Der mannorientierte Teil des Pressings spielt sich dabei von Flügelspieler auf Außenverteidiger ab, dabei gewährt man je nach Spielphase und Gegneranpassung dem Innenverteidiger Raum oder läuft ihn direkt an, aber man drängt ihn immer dazu, dass er seinen Pass zum Außenverteidiger spielen soll, dort wird dann der Raum verengt und Passwege nach vorne wie nach hinten werden zugestellt. Aus dieser Position folgen dann oft lange Bälle des Gegners, da eben die Passwege zugestellt wurden und die Gefahr eines Ballverlustes einfach viel zu groß ist. Die kopfballstarke Innenverteidigung soll dann aktiv herausrücken und den Angriff entschärfen.
Man könnte jedoch über das Dreieck Außenverteidiger-defensiver Mittelfeldspieler-Flügelspieler auslösen, hierfür ist ein vertikales Abkippen des Flügelspielers und ein Einschieben des Sechsers notwendig. Hierbei ist es essenziell, dass der defensive Mittelfeldspieler den Ball mit einem Kontakt weiterleiten kann, dies wäre bei Kroatien bspw. Luka Modrić, der jene technische Anlage auf alle Fälle besitzt.
Ein weiterer Punkt ist der Raum zwischen den Linien, wie entgegengesetzte Bewegungen. Hier ist zwar Italien grundsätzlich durch die Mannorientierungen in den Zweikämpfen, aber oft kann der Gegner dennoch Räume öffnen. Hier wirkt es für mich tendenziell sinnvoll, dass Kroatien sich nicht auf die Pressingfalle im Sechserraum oder bei den Außenverteidigern einlässt und direkt die Abwehrlinie mit diesen entgegengesetzten Bewegungen attackiert.
Im Wesentlichen geht es bei Kroatien im Aufbauspiel darum, die Stärken der Spieler in ein bestmögliches Umfeld zu bringen, in dem sie sich entfalten können. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie keine klare Spielphilosophie haben. Vielmehr sind sie nämlich auch ein auf Ballbesitz ausgerichtetes Team. Durch diese Stärken der Zentrumsspieler um Modrić, versuchen Gegner oft diese Räume zu isolieren, weswegen Dalic seine zentralen Spieler oft sehr tief im Aufbau agieren lässt und auch die Flügelspieler etwas einschieben. Dementsprechend wird auch Italien leichte Anpassungen vornehmen müssen: Durch die numerische Unterzahl im zentralen Mittelfeld, wird bei Auslösung Kroatiens über den Außenverteidiger der ballferne Außenverteidiger, für den eingerückten Flügelspieler früh aus seiner Kette herauskommen müssen. Auch die Stürmer müssen mehr Blick auf den Sechserraum im Deckungsschatten haben, denn dieser ist nicht wie sonst von den eigenen zentralen Mittelfeldspielern zusätzlich abgesichert.
Fazit
Es dürfte mit ziemlicher Sicherheit die Begegnung werden, in der es schon um brutal viel geht. Kurzzeitig spürte man Italien wieder Aufbruchstimmung nach enttäuschenden Jahren, dann folgte wieder leichte Bestürzung nach der Niederlage gegen Spanien, dabei gibt es auch schon leise Kritik an Spalletti. In Kroatien hofft man, dass die »Oldies« noch einmal ihre Stärken auf den Platz bringen können und eine Katastrophe mit nur einem Punkt in der Gruppenphase abwenden. Auf dieses interessante Duell kann man sich wirklich freuen, alleine schon aus Gründen der Nostalgie!
MX hat eine Vorliebe für besonders auf Ballbesitz ausgerichtete Mannschaften, steht mittlerweile aber auch auf Relationismus. Neben Der-Jahn-Blog schreibt er auch für miasanrot. Vorher war er im Analysebereich des NLZ von Jahn Regensburg tätig.
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