Türchen 23: Mit kurzen Abständen gegen Angriffspressing
Eine der größten Probleme im modernen Angriffsspiel ist das Bespielen von (insbesondere mannorientiertem) hohen Pressing. Selbst Pep Guardiola wählt mittlerweile sehr oft die Eröffnung mit hohem Ball gegen ganz hohes Zustellen des Gegners.
Angriffspressing bietet der aufbauenden Mannschaft diverse Probleme, ein sehr direktes: Es ist schwierig, ballferne Spieler zu finden, wenn diese frei gelassen werden. Gegen ein verschiebendes Mittelfeldpressing, kann man normalerweise nach hinten auflösen und über die Innenverteidiger oder den Torwart die fernen Spieler finden. Gegen Angriffspressing sind diese Optionen normalerweise geblockt. Man muss also in den Druck rein.
Dabei zeigt sich oft ein weiteres Problem: Im Auffächern gegen das hohe Zustellen werden die Abstände zwischen den Spielern viel größer als im höheren Aufbau. Dadurch werden Pässe langsam und sind viel leichter abzufangen bzw. Passempfänger sehr leicht anzulaufen. Der Gegner hat zu viel Reaktionszeit.
In diesem Beispiel von 2017 aus einem Vorbereitungsspiel zeigt sich ein alternativer Ansatz von Mauricio Sarris Napoli gegen das hohe Pressing von Diego Simeones Atletico. Neben der kurzen Abstände sieht man weitere interessante Aspekte.
Zunächst sehen wir, dass Napoli sehr konsequent versucht, zunächst durch die Mitte zu kommen. Der Sechser wird zwei Mal angespielt, dazwischen ein Ballkontakt vom Achter, wodurch Atleticos Flügelstürmer etwas rausgezogen wird, was mehr Raum am Flügel öffnet und den Pressingmoment außen verzögert.
Zudem wird am Flügel zunächst der breite IV angespielt, nicht direkt der AV. Dadurch gibt es eine zusätzliche Passoption dort und der Rückpass auf den Torwart wird nicht versperrt.
Der Achter kommt nun mit zum Flügel, sodass dort rechtzeitig ein 3v2 hergestellt werden kann. (Erwähnenswert, dass Atleticos linker Sechser hier nicht sofort rausschiebt, was evtl. dadurch herbeigeführt wurde, dass zuvor der andere Sechser nach vorne durchpressen „musste“; der linke Sechser würde also das Zentrum völlig verwaist lassen.)
Unter hohem Druck spielen Achter und IV einen Doppelpass, was durch die kürzeren Abstände ermöglicht wird; zudem kommt auch der Sechser mit auf die Seite, sodass der ballferne Stürmer von Atleico keinen Zugriff bekommt.
In einer normalen Positionierung hätte man hier oftmals ein ähnliches Dreieck mit LV, IV und Sechser, aber ohne den zusätzlichen Anspielpunkt dazwischen und dadurch mit cirka doppelt so langen Passabständen.
Der schönste Moment. Obwohl Atletico extrem verschiebt, gelingt es Napoli durch das Zusammenziehen links/halblinks eine Raute mit Zwischenpositionen zu erzeugen. Dazu eine doppelte Gegenbewegung: Der Flügelstürmer kommt zum Ball, während der Außenverteidiger tief geht. Dann geht er hinter den IV tief, der dem zurückfallenden Mittelstürmer folgt.
Atletico kommt jedes Mal zu spät und es folgt ein aussichtsreicher 4-gegen-3-Schnellangriff für Napoli.
Hier sieht man nochmals dargestellt, wie weit Napoli auf die Ballseite gekommen ist, um diese Abstände so herzustellen (RIV und RV sind geraten, weil nicht im Bild).
Ausgesprochen bemerkenswert ist außerdem, dass Napoli keinen Spieler hier tief hat, sondern alle mindestens 15 Meter in der eigenen Hälfte sind. Meines Erachtens ist das generell ein sehr logisches Verhalten gegen Angriffspressing, da die Defensive dann ohne Abseits verteidigen, außerdem die Verteidiger womöglich nicht so weit folgen wollen und zudem die vorderen bzw. der vordere (Ziel-)Spieler viel schneller und möglicherweise flach anspielbar wird (wie hier). Die wichtigste Position, die der Gegner am schwersten kontrollieren kann, der Mittelstürmer, wird also nicht dadurch geschwächt, dass er grundsätzlich hoch angespielt wird.
Auf Twitter ist die Szene übrigens noch verfügbar:
1 Kommentar Alle anzeigen
WVQ 24. Dezember 2023 um 15:13
Sehr schön illustriert, vielen Dank!
Und in der Tat ist mein Eindruck auch, daß diese Art von tiefem Rauskombinieren unter hohem Gegnerdruck wieder deutlich seltener geworden ist und (insoweit noch praktiziert) auch wieder deutlich erfolgsinstabiler. Ich frage mich, ob die Hochphase dieses extrem konsequenten Ballbesitzspiels (so Mitte bis Ende der 2010er-Jahre) überhaupt nur möglich war, weil die entsprechenden Pressingmechanismen bei den Gegnern in der Breite (anders als in der Spitze) noch nicht richtig etabliert waren und daher die Erfolgsquote über eine Saison hinweg heute nicht mehr so hoch sein könnte… oder ob Trainer (auch) zunehmend dazu übergegangen sind, das in diesen tiefen Drucksituationen unweigerlich sehr bedrohliche Risiko eines Ballverlustes als grundsätzlich zu hoch anzusehen. Oder ob es weitere Faktoren gibt. Die gegenüber dem besagten Zeitraum heute merklich reduzierte Vorbereitungs- und Trainingszeit wäre sicherlich einer. Und fehlende passende Spielertypen (insbesondere IV, Torwart, 6er) kann man derzeit sicherlich auch bei vielen Mannschaften konstatieren (Bayern wäre ein gutes Beispiel mit einem Trainer, der grundsätzlich nachweislich zu sehr kontrolliertem Spiel auch in diesen extremen Spielphasen neigt)… aber bei Guardiola wiederum kann man das wohl weiterhin kaum sagen, da scheint es eher eine „materialunabhängige“ Grundsatzentscheidung zu sein.