Türchen 8: Lesen der Bewegung (und der Körperhaltung) des Gegenspielers

Wie die Aufmerksamkeit für einen bestimmten Gegenspieler sich im Verschieben auswirkt und eine vielversprechende Position im Halbraum versandet, weil die Folgeaktion ungeduldig und antizipierbar wird.

Es gab schon bessere Sevilla-Derbys als das Remis aus dem vergangenen Monat, aber auch eine solche Partie kann lehrreiche Einzelmomente bereithalten, gerade hinsichtlich individueller und individualtaktischer Details.

Die Ausgangssituation war Ballbesitz Sevillas auf dem linken Flügel, von wo aus ein Rückpass auf den noch in herausgekippter Position stehenden Rakitic ging. Über diesen lief der Ball durch die hinterste Aufbaureihe zum rechten Innenverteidiger Badé, der aus der nominellen Überzahl in der ersten Linie ins Andribbeln startete.

Überraschend war, wie stark sich Roca – auf einer der Sechserpositionen bei Betis – von den kurzen Bewegungsfolgen Soumarés beeinflussen ließ – letztlich auch zu stark. Soumaré startete einen kleinräumigen Sprint nach vorne an, brach ihn kurz danach wieder ab und machte wiederum eine unmittelbare kleine Folgebewegung dynamisch nach hinten. Damit zog er Rocas Aufmerksamkeit auf sich, der sich davon beschäftigen ließ und während der Verlagerung zu Badé die mannschaftliche Verschiebebewegung nicht vollständig mit vollzog. Dadurch wurde der Abstand zu Ayoze Pérez sehr groß, dieser folglich isoliert und ein größeres Passfenster auf Ocampos geöffnet, der sich bereits frühzeitig vom rechten Flügel in den Halbraum zwischen die Linien begeben hatte. Wie stark Roca nur auf den Gegenspieler in seiner unmittelbaren Nähe achtete und wie wenig bzw. wie spät er dann verschob, war in der Form ungewöhnlich.

Eine wichtige Rolle spielten individualtaktische Details auch beim anschließenden Pass von Badé auf Ocampos, der vergleichsweise einfach möglich wurde. Zunächst gelang die technische Ausführung nicht optimal, da Badé – aus einem gar nicht so schlechten Winkel in Folge des Andribbelns – keinen guten Druck in dem Zuspiel entwickeln konnte.

Das machte für Ocampos die Ausgangslage nicht einfacher, aber auch seine Folgeaktion ließ wiederum Luft nach oben. Eigentlich bot die Szene großes Potential für Sevilla, stellte sie doch die Spieler des Stadtrivalen vor die Frage, wie man durch wen Druck auf Ocampos ausüben könnte (ergänzt auch durch gutes Herüberschieben von El-Nesyri gegen den ballnahen Innenverteidiger). Vor allem Roca schob im weiteren Verlauf der Szene sehr gut nach und versuchte die Abstände zu verkleinern, vom Grundprinzip auch Ayoze Pérez. Zusätzlich zum Nacharbeiten von oben entschied sich mit Außenverteidiger Miranda auch der nominelle Gegenspieler von Ocampos dazu, aus der Kette herauszurücken.

Das bedeutete ein Risiko angesichts der Abstände: Der Weg für Miranda war weit und sein Vorstoß daher ambitioniert, barg eher die Gefahr, bei vernünftiger Ausführung auch selbst wieder überspielt zu werden – durch eine Weiterleitung auf den aufrückenden Navas nach außen, der dann genau den Raum in Mirandas Rücken hätte attackieren können, den jener durch das Herausrücken erst freigegeben hätte.

Dazu kam es aber nicht, weil Ocampos keine Ruhe in der Aktion entwickelte: Er versuchte letztlich, den Pass von Badé mit dem ersten Kontakt auf Navas weiterleiten. Ein zweiter Kontakt hätte sich nicht nur angeboten, um die Wahrscheinlichkeit einer technisch gelungenen Ausführung zu erhöhen, denn letztlich traf Ocampos das Leder nicht gut, verursachte dadurch einen bremsenden Spin und der Ball ging leicht in den Rücken von Navas.

Vor allem wäre zudem die Folgeaktion weniger ausrechenbar gewesen, wenn Ocampos den ersten Kontakt als An- bzw. Mitnahme gesetzt hätte. Für Miranda und auch dessen Abwehrkollegen wäre im Moment des ersten Kontakts nicht klar gewesen, ob mit dem zweiten Kontakt tatsächlich der Pass auf Navas gekommen wäre oder nicht doch eine Drehung ins Tempo. Der potentielle Vorteil, mehrere Optionen zu haben und ggf. auf eine erzwungene Antizipation der Gegner reagieren zu können, fiel weg.

Besonders ausgeprägt gestaltete sich die Konstellation aber zusätzlich erst noch deshalb, weil Ocampos’ Körperhaltung sogar schon vor seinem ersten Kontakt vergleichsweise deutlich erkennen ließ, welchen Pass er spielen wollte. Miranda las diese Körpersprache und brach seine angefangene Herausrückbewegung sehr früh wieder ab, fiel stattdessen in seine Ausgangsposition in der Kette zurück.

Also war die Möglichkeit, den Verteidiger aus der hintersten Reihe herauszulocken, für Sevilla schnell vergangen. Weil Miranda so frühzeitig wieder umkehren konnte und dementsprechend nur einen solch kurzen Rückweg überbrücken musste, wäre er auch dann wieder problemlos und rechtzeitig in seine Position und damit hinter den Ball gekommen, wenn der Pass von Ocampos auf Navas sauberer gewesen wäre.

Am Ende ging der Ball nach einem Duell zwischen Navas und Ayoze Pérez ins Seitenaus und es blieb eine kleine nette Beispielszene zum Thema des korrekten – wenn auch in diesem Fall für Miranda vergleichsweise einfachen – Lesens des Gegenspielers (und der schnellen Reaktion in der Konsequenz darauf). Roca hatte Soumaré zuvor sehr aufmerksam „gelesen“, aber nicht unbedingt „richtig“ in Bezug auf dessen Intentionen und Handlungsspielräume in jener Situation.

AG 8. Dezember 2023 um 13:51

Ein schönes Beispiel dafür, wie schnell das Spiel geworden ist bzw. wie schnell die Entscheidungen unter Druck getroffen werden müssen. Hier natürlich insbesondere, da Ocampos zwischen den Linien war. Denn erst der Fehler von Roca hatte den Raum und die Zeit geschaffen, unter der eine Verzögerung sinnvoll war. Diesen Fehler aber sehen, erkennen, einschätzen und ausnutzen (bzw. sich umentscheiden gegenüber einer Standardvariante) ist extrem schwierig.

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