Türchen 16: Wataru Endo

Am 16. Dezember wartet im Kalender der vielleicht stärkste Sechser der Bundesliga: Wataru Endo ist längst nicht mehr wegzudenken aus Stuttgart.

Die Bundesliga hat ein Sechser-Problem. Diese Diagnose stelle ich seit einigen Jahren. Nicht jeder ist mit dieser Diagnose einverstanden. Wie kann eine Liga ein Sechser-Problem haben, in der Jude Bellingham, Leon Goretzka, Kevin Kampl, Maximilian Arnold, Niklas Dorsch, Jamal Musiala, Florian Neuhaus und Charles Aranguiz kicken?

Das Problem: Kaum einer dieser Spieler ist ein klassischer Sechser. Sie alle turnen auf dem ganzen Spielfeld herum, rücken häufig nach vorne, bestechen durch ihre unheimliche Laufstärke und Dynamik. Das ist der moderne Fußball: Wer nicht die gesamte Länge des Spielfelds beackert, ist als Mittelfeldspieler in der Umschalt-Liga Bundesliga kaum zu gebrauchen.

Ein klassischer Sechser ist nach meiner Definition aber ein anderer Spielertyp. Dynamik ist hier nicht die vorrangige Stärke, sondern strategisches Geschick. Positionell agiert ein Sechser vor der Abwehr und sichert den Raum vor der letzten Linie ab. Als Spielertyp ist er Bindeglied zwischen allen Mannschaftsteilen: Aus dem Zentrum heraus verteilt er Bälle und verbindet Abwehr mit Angriff sowie Flügel mit Flügel. Er muss stets zwei Schritte vorausdenken, sowohl in seinen Pässen als auch in der Frage, wie er seine Position besetzt. Sergio Busquets ist hier natürlich das Paradebeispiel, das Bundesliga-bezogene Beispiel wäre der von uns vielfach gefeierte Daniel Baier.

Doch wer verkörpert diesen Spielertypen in der Bundesliga sonst noch? Joshua Kimmich, selbstredend, aber dahinter wird es schon dünn. (Zumindest seit Makoto Hasebe in die Innenverteidigung versetzt wurde.) Wer kreiert heute schon mit seiner Spielintelligenz Dynamik für seine Kollegen und nicht etwa mit seinen technischen wie körperlichen Stärken für sich selbst? Viele der oben genannten Kandidaten scheiden da aus.

Der vielleicht spielintelligenteste Bundesliga-Spieler

Eigentlich hält nur ein Spieler die Fahne der Sechser hoch, die zwei bis drei Aktionen vorausdenken, Gegen- wie Mitspieler durchschauen und mit jeder Aktion das Mannschaftswohl im Sinn behält: Ellyes Skhiri. Ernsthaft, Jungs, wie konnten wir bei der Kalenderplanung Skhiri auslassen?

Nein, der Artikel dreht sich natürlich um Wataru Endo. Der Japaner ist ein Spätzünder. Erst mit 25 Jahren wagte er den Schritt aus der japanischen Liga nach Europa. Es dauerte nur wenige Monate, bis ihn die Scouts des VfB Stuttgart entdeckten. Nach kurzer Akklimatisierungszeit beförderte ihn Tim Walter in die erste Elf, ehe er unter Nachfolger Pellegrino Matarazzo zum Schlüsselspieler heranwuchs. Mittlerweile führt er die Stuttgarter Elf sogar als Kapitän auf das Feld.

Endo ist ein Sechser, wie er im Bilderbuch steht. Als Abräumer sichert er vor der Abwehr ab: Er füllt die Lücken, die seine Kollegen im Pressing hinterlassen. Kommt der Ball in seine Zone, rückt er aktiv heraus und stört den Gegner. Spielt der VfB im 3-1-4-2, sichert er die Zone zwischen den Linien praktisch im Alleingang. Endo verfügt über einen sechsten Sinn, wann der Ball in seinen Bereich kommt. In der vergangenen Saison gewann kein Bundesliga-Spieler mehr Zweikämpfe. In der aktuellen Saison liegt er auf Rang drei, hinter Freiburgs Lucas Höler und Bochums Danilo Soares.

Noch beeindruckender sind jedoch Endos Fähigkeiten im Ballbesitz. Als Sechser bewegt er sich ständig im Raum vor der Abwehr. Nicht immer läuft er dabei zum Ball. Vielmehr füllt er die Lücken im System seiner Mannschaft auf. Er achtet darauf, wann die Spieler vor ihm aufrücken, um die vakanten Positionen zu füllen. Endo balanciert mit seiner Art die Bewegungen seiner Mitspieler aus: Wird er auf rechts benötigt, schiebt er hierhin; tut sich eine Lücke auf links auf, rückt er dorthin.

Um jederzeit am richtigen Ort zu sein, muss Endo viele Szenen antizipieren, ehe sie passieren. Häufig sieht man, wie er bereits einige Meter vorrückt, noch ehe der eröffnende Pass gespielt wurde. Doch er weiß genau, wohin seine Mitspieler passen – und rückt dann schon vorzeitig auf, um im Anschluss im Zentrum anspielbar zu sein. Wer einmal genau auf Endo achtet, wundert sich teilweise, mit welcher Akkuranz er Situationen voraussagen kann mit seinen Laufwegen.

Eckpfeiler im System

Endo wird von Stuttgart aber nicht nur als mannschaftsdienlicher Lückenstopfer genutzt. Er ist integraler Teil des Aufbauspiels. Unter Matarazzo eröffnet der VfB fast jeden Angriff flach. So sieht es die Spieldee des Trainers vor. Dreiecks- und Rautenspiel sind auch in der eigenen Hälfte gefordert. Dazu beteiligen sich überdurchschnittlich viele Spieler an den Aufbauaktionen der Stuttgarter.

Als zentraler Mittelfeldspieler ist Endo auch in dieser Hinsicht Schlüsselspieler der Stuttgarter. Immer wieder bietet er sich als Anspielpartner im Dreieck an, immer wieder legt er Bälle auf die Außen- oder Innenverteidiger ab. Manchmal baut er aber auch Dynamik nach vorne auf; etwa wenn der Ball zu einem vorgeschobenen Außenverteidiger spielt, der wiederum die Kugel zu Endo ablegt. Dann darf Endo den Angriff in die gegnerische Hälfte tragen.

Diese durchaus riskante Form des Spielaufbaus kommt Endo zugute: Er kann seine Stärken in der Positionsfindung und im Passspiel einbringen. Man kann sogar soweit gehen, dass das System ohne diese Stärken kaum funktionieren würde: Er baut auf, sichert für seine Kollegen ab, bewegt sich in die entscheidenden Räume. Je besser Endo ins Spiel findet, umso stärker agiert der VfB.

Das ist, um diesen kleinen Exkurs zu schlagen, auch etwas die Schwäche der Stuttgarter in dieser Saison. Das Stuttgarter 3-1-4-2 mit der Asymmetrie nach rechts war bereits in der vergangenen Saison defensiv nicht äußerst stabil. Nach einigen Abgängen und zahlreichen Verletzungen funktioniert das System jedoch offensiv nicht mehr so geschmeidig, dass man die ein bis zwei eingepreisten Gegentreffer pro Spiel hinnehmen kann. Alternative Formationen – etwa ein 3-4-3 oder ein 4-2-2-2 – haben jedoch den Nachteil, dass Endo sich den Raum vor der Abwehr mit einem anderen Spieler teilen muss. Das ist nicht nur redundant, weil Endo den Raum auch sehr gut allein schließen kann. Es schränkt ihn in seinen Bewegungen zugleich ein. Matarazzo ging diesen Weg, um die defensive Stabilität zu erhöhen. Zugleich verlor der VfB dadurch aber auch einiges an Potential im Aufbauspiel, speziell im Übergang zwischen eigener und gegnerischer Hälfte.

Es muss ja aber nicht immer alles eitel Sonnenschein sein bei unseren Systemträgern. Genau dadurch erkennt man ja eben einen solchen Systemträger: Wird er nicht mehr optimal eingebunden, hat das Auswirkungen auf das gesamte System. Insofern passt Endo perfekt in diesen Kalender – und ist zugleich einer der wenigen Bundesliga-Spieler, der all die klassischen Charakteristika eines Sechsers in sich vereint.

leansoccer.de 18. Dezember 2021 um 13:54

Seit Spieltag 16. und 17. der Saison 21/22 würde ich Marc Roca zu den besten 6ern dazu zählen.

Warum er nie eine richtige Chance bekommen hat, versteh ich nicht?

leansoccer.de

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tobit 18. Dezember 2021 um 14:16

War einer der Spieler, die letztes Jahr kurz vor Schluss kamen und wohl absolut kein Wunschspieler von Flick. Entsprechend lange hat der ihn gar nicht berücksichtigt. Seine Saison 19/20 bei Espanyol war auch etwas schwächer gewesen als sein Durchbruchsjahr 18/19. Nicht gerade optimale Voraussetzungen um bei einem Topklub ohne Vorbereitung einzusteigen. Dieses Jahr hat er wieder die komplette Sommervorbereitung verpasst, was bei Nagelsmann sehr wichtig ist. Der hat auch in Leipzig und Hoffenheim wichtigere Leute nach verpasster Vorbereitung erstmal länger Rückstand aufholen lassen. Das grundsätzliche Talent zu einem sehr guten Sechser hat Roca auf jeden Fall, er muss nur so langsam mal auf Spielzeit kommen und es beweisen … ist ja auch schon 25.

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Kvist4 16. Dezember 2021 um 23:21

Schöner Artikel!
Fast schon etwas ironisch, dass Endo dieses Jahr zumeist etwas nach vorn geschoben agiert und auch mehr Läufe in den Strafraum aufweist.

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