Die Phrasendrescher, Folge 1: Hundertprozentige Chance

In der ersten regulären Ausgabe des „Phrasendrescher“-Podcasts analysiert unsere Crew den beliebten Fußballbegriff der „hundertprozentigen Chance“.

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Was sind moderne Fußballphrasen? Wie sind sie entstanden? Und wie erkennt man sie? Im neuen Podcast „Die Phrasendrescher“ debatieren Sportjournalist Tobias Escher, Trainer Martin Rafelt und Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker die Tücken der Fußballsprache. In jeder Ausgabe analysieren sie eine neue Fußballphrase – aus fußballanalytischer, sprachlicher wie journalistischer Sicht. Dabei soll es nicht in erster Linie um klassische Phrasen gehen, sondern um Begriffe aus der modernen Fußballanalytik, die mehr und mehr zu Phrasen verkommen.

In der ersten regulären Folge dreht sich alles um die „hundertprozentige Chance“. Wie ist dieser Fußballbegriff entstanden? Was hat er für eine Bedeutung? Und ist er mehr als nur eine hohle Phrase? Darüber debatiert die Crew ausführlich. Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker seziert den Begriff aus sprachlicher Sicht, während Martin Rafelt die Verbindung zum Expected-Goals-Wert herstellt.

Der Podcast ist zunächst auf zehn Ausgaben angelegt. Jeden Dienstag soll eine neue Ausgabe erscheinen; aber nagelt uns nicht darauf fest. „Die Phrasendrescher“ ist ein Freizeitprojekt, das wir unentgeltlich neben unserer eigentlichen Arbeit durchführen. Trotzdem wollen wir versuchen, den wöchentlichen Rhythmus einzuhalten. Auf Ideen und Feedback eurerseits freuen wir uns sehr!

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fluxkompensator 26. März 2021 um 04:39

Zum Thema Daseinsberechtigung einer Phrase wäre grundsätzlich interessant, was Phrasen für eine Funktion haben (im Fußballkontext bzw in der Berichterstattung): Sicher, deren Verwendung als sprachliche Abkürzung (kann kein Fachbegriff sein) leuchtet ein, aber gibt es bei der von Simon beschriebenen Tendenz zur „Verwissenschaftlichung des Fußball“ (auch hier in der Berichterstattung, nicht im Bereich Fußballarbeit) nicht auch einen Trend zur Oberflächlichkeit? Die Phrase bzw. deren vermehrte Verwendung hat dabei den zusätzlichen Zweck, diese analytische Lücke zu kaschieren. Vielleicht wäre das auch im gesellschaftlichen einzuordnen: Was wird nachgefragt? Also der Überhang der Dimension von Fußball als (seichte) Unterhaltung.

Aber das ufert aus jetzt. Toller Podcast, tolle Leute!

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osch@d 25. März 2021 um 17:01

Mal meine Definition einer 100%-Chance: der ballführende Spieler kann den Ball frei aufs Tor bringen, hat also Zeit und Raum präzise genug (effektiv für den Torerfolg) zu schießen und braucht sowenig Energie beim Schuss, dass diese Präzision erwartbar ist.

Man unterstellt bei Misserfolg nicht, dass es an den körperlichen oder technischen Voraussetzungen mangelt, sondern dass ein psychologisches Versagen vorliegt. Stress löst z.B. ein Muskelzucken aus, was nicht dahingehört oder einen Wahrnehmungsfehler, der das Timing versaut.

Andersherum unterstellt man einem Fußballer, dass er in einer Situation ohne Druck den Schuss im Schlaf erfolgreich ausführen könnte.

Einen 11-Meter würde ich von daher nicht zu den 100%-Chancen zählen, denn der Korridor für einen erfolgreichen Schuss ist gar nicht so groß. Springt der Torhüter zur richtigen Seite, ist da zum Teil nur 50 bis 100cm Luft und zwar nur bei einem strammen Schuss, der die Genauigkeit senkt.

Wenn man da jetzt den Schusswinkel berechnen würde, um in diesen 50 bis 100cm zu landen, dann sind das nicht besonders viele Grad. Wenn ich gerade richtig rechne, dann wären das für einen Meter etwa 6 Grad Varianz, die ok wären im Schusswinkel.

Bin aber gerade k.o. und hab vielleicht auch Scheiß gerechnet. 😉

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Cow 25. März 2021 um 01:24

Cooler Podcast. Aber ich sehe eine sinnfällige Interpretation der Phrase die keinen so offensichtlichen Widerspruch in sich trägt, das wird sogar kurz angesprochen, aber geht dann eher unter: hundertprozentig bezieht sich nicht auf die Wahrscheinlichkeit des Torerfolgs, sondern ist eine Kategorisierung im Sinne von Klarheit. So wie z.B. ein hunderprozentiges Foul eines wäre, dass jeder Schiedsrichter pfeifen würde, weil die Handlung des Spielers eindeutig einen Regelverstoß darstellt (sofern er es richtig wahrnimmt, also spätestens nach Wiederansicht auf dem VAR Monitor).
Ihr tänzelt mit der Diskussion über Halbchancen gefühlt auch ein wenig um diese Idee herum, genau wie mit der Beobachtung dass vor allem 1 gegen 1 Situationen gegen den Torhüter als hundertprozentige bezeichnet werden. Wenn sich der Schiri bei der Frage „War das ein rotwürdiges Foul?“ überlegen muss, ob eine „klare“ Torchance vereitelt wurde, fragt er sich also quasi auch ob es eine „hunderprozentige“ war. Hätte noch ein anderer Spieler eingreifen können? Ging das Dribbling nicht vielleicht eher bereits Richtung Seitenlinie? etc. Aus sprachphilosophischer Perspektive könnte man hier auf den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung einer Bezeichnung verweisen. „Klare Torchance“ und „hunderprozentige Torchance“ haben einen unterschiedlichen Sinn, weil die erste eher neutral eine Spielsituation klassifiziert und die zweite eben, wie ihr richtig dargelegt habt, eher einen Bezug zum Vermögen bzw. Unvermögen des angreifenden Spielers herstellt. Aber beide haben dieselbe Bedeutung, weil sie sich auf dieselben Dinge in der Welt beziehen: sehr vielversprechende Abschlusspositionen. Die Unterscheidung geht glaube ich auf Bertrand Russel zurück und ist Sprachphilosohie 101. Sie wird gern mit dem Wortpaar Morgenstern/Abendstern illustriert, die einen völlig unterschiedlichen Sinn haben, aber sich auf das gleiche Ding in der Welt beziehen: die Venus.

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studdi 24. März 2021 um 09:09

Was mir beim hören noch durch den Kopf gegangen ist: Ist den der Elfmeter eine bessere oder schlechtere Torchance als die Hundertprozentige?!
Wenn man nach der exptGoal Wertung geht ist er wahrscheinlich in den meisten Fällen besser. In der Wahrnehmung denkt man aber meistens „ok ein Elfer kann man auch mal verschissen“ bei der 100% denkt man aber immer sofort: „der muss drin sein“

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rb 24. März 2021 um 08:34

Eine Auseinandersetzung mit „but can he do it on a cold rainy night in stoke“ fände ich spannend.

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savona 23. März 2021 um 15:23

„Den kann man schon mal machen“: ein Kommentatorenspruch, der die Festlegung auf die 100 %ige vermeiden will; vielleicht weil es – wie MR schön differenziert – zwar zu möglicherweise 100 % eine Chance war, aber doch nicht ganz eine 100%ige.

Dass die Phrase weit eher im Fußball als in anderen Sportarten verwendet wird, liegt evtl. an der relativ geringen Zahl an Toren bzw. Erfolgserlebnissen. Im Handball spricht man eher deskriptiv summarisch von schlechter Chancenverwertung oder überhasteten Würfen. Im Tennis von „unforced errors“. Freie Würfe bzw. Punkte werden vergeben. Die Qualität der einzelnen Chance wird aber, zumindest journalistisch, nicht akribisch vermessen. Dem Fußball vergleichbar wegen der geringen Trefferzahl wäre noch Eishockey; ob die Phrase da benutzt wird, ist mir nicht bekannt. Vielleicht schon deswegen nicht, weil vor dem kleinen Tor sich immer noch ein riesenhafter Goalkeeper aufbaut.

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DougStamperl 23. März 2021 um 13:46

Schönes neues Format was ihr Drei da zusammengeklöppelt habt. Verspüre angenehme Pro- bzw. Hauptseminar-Vibes.
Freue mich auf weitere Folgen

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SMV 23. März 2021 um 18:18

Merci!

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AG 23. März 2021 um 13:38

45 Minuten über eine dumme Phrase, super! Ich bin echt gespannt.

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savona 23. März 2021 um 14:37

Gute Mischung aus „interessant“ und „unterhaltsam“.

Leider ist bei 21:50 Schluss.

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savona 23. März 2021 um 14:42

Der Klassiker: x Versuche enden an derselben Stelle. Kaum moniert, klappt es. War wohl ’ne 100 %ige.

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TE 23. März 2021 um 16:49

Huch, funktioniert es denn jetzt besser?

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savona 23. März 2021 um 19:13

Ja, wie gesagt: einmal meckern, dann geht es plötzlich. Vorher konnte ich MRs Passage mit den schwierigen Kopfbällen, weil der Ball mal zu weit links, mal zu hoch etc. kommt, bald auswendig.

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