Türchen 20: Clint Dempsey

Für eine Nation, die in der Selbsterzählung der eigenen Geschichte das Eingehen von Risiko preist, bleiben die USA in ihrer fußballerischen Story weitgehen hinter eben jenem abenteuerbereiten Geist zurück. Aber ab und zu taucht dann doch ein Sonderfall auf, der die Wahrnehmung amerikanischer Fußballer nicht nur im Ausland, sondern auch innerhalb des eigenen Landes infragestellt.

Dieser (ursprünglich auf Englisch verfasste) Artikel ist ein exklusiver Beitrag von AR, Autor bei unserem englischsprachigen Ableger spielverlagerung.com, für diesen Adventskalender. Der Text erscheint hier in deutscher Übersetzung.

Clint Dempsey stammte aus bescheidenen Verhältnissen im östlichen Texas und auch seine fußballerische Laufbahn begann in wenig auffälligen Wettbewerben. Nach dem tragischen Tod seiner älteren Schwester, einer vielversprechenden Tennisspielerin, als diese 16 Jahre alt war, änderte sich seine Situation. Dempsey konnte auf einem national höheren Niveau spielen, nachdem bis dahin ein großer Teil der Finanzkraft der Familie in die sportlichen Aktivitäten der Schwester geflossen war. Dafür nahm er Wege von dreieinhalb Stunden zum Training in Kauf.

Dieser Hintergrund bedeutete eine erste Erklärung für Dempseys verblüffende Mischung aus Entschlossenheit, Engagement und Unberechenbarkeit. Im Laufe seiner Karriere, mit seinen sechs Saisons in der Premier League bei Fulham und Tottenham als Höhepunkt, schuf sich der vielseitige, fast positionslose Angreifer erfolgreich eine Nische als kompromissloser Strafraumläufer, der dahin ging, “wo es weh tut”, und als unkonventioneller Kombinationsspieler in tieferen Zonen, mit einer Vorliebe für eindrucksvolle Tore aus der Distanz.

Nullsummenspiel

Dempseys gesamte Karriere könnte mit dieser einen Formulierung beschrieben werden: Wenn er große Erfolge erzielte, folgten diese zumeist einem Mechanismus, nach dem seine Gegner auch in gleicher Richtung, oftmals physisch, zu leiden hatten, oder durch Ausmanövrieren seines Gegenüber.

Am deutlichsten zeigten sich diese physischen Risiken in seinen Strafraumläufen, die – trotz seiner fehlenden “Idealposition” – stets ein entscheidendes Element der taktischen Ausrichtung jeglicher Mannschaften darstellte, in denen er spielte. Während die Läufe als solche meistens Standard-Bewegungen durch den Sechzehner waren, führte Dempsey sie mit weniger Hemmung aus als die meisten Stürmer.

USA – Brasilien im Finale des Confed-Cups 2009

Beispielsweise fielen viele seiner Tore aus besonders kurzen Distanzen auf unorthodoxen und potentiell “verletzungsgefährdenden” Wegen. Ein typischer Fall war, dass er flache Hereingaben von der Grundlinie verwertete, indem er zwischen mehreren Defensivspielern hindurch rutschte und den Ball mit einem äußerst knappen Kontakt ins Netz bugsierte. Zudem konnte der Ausgang aus dieser gewagten Umgebung den Zusammenprall mit dem Pfosten im hohen Tempo beinhalten, unbeeindruckt von diesem buchstäblichen Hindernis mit dem Torerfolg im Blick.

Bei dieser Art von Toren hatte Dempsey einen bemerkenswerten Hang zur unorthodoxen Verwertung der Gelegenheiten. Ob im Fallen, im Rutschen oder im Stolpern – es ging ihm darum, irgendwie auch nur die minimalste Berührung des Balles zu schaffen. Bei der Weltmeisterschaft erzielte er einmal gegen Portugal sogar ein Tor mit seinen Weichteilen. Kaum ein Mittel stand im Strafraum für den Texaner außer Frage.

Dieselbe Entschlossenheit für Tore galt auch in Luftduellen, in denen Dempsey in wechselnder Regelmäßigkeit mal Gegenspielern und mal sich selbst Schaden zufügte. Er arbeitete in der Luft oft mit den Ellenbogen und kämpfte mit Trikotzupfern und Griffen selbst um kleinste Vorteile im 1gegen1. So erregte er Aufmerksamkeit, als er John Terry das Jochbein brach. Sieben Jahre später wurde Dempsey in einer ähnlichen Situation einmal von einem brutalen Tritt im Gesicht getroffen, spielte aber weiter.

Dempseys spezielle Spielweise brachte es fast zwangsläufig mit sich, dass die von ihm ausgehende Zerstörung auch auf ihn wiederum zurücktraf. Doch er hatte fast masochistische Freude daran, weil ihm das Toreschießen letztlich kurzfristige Schmerzen stets überwog.

Lotteriesieger

Die Hochphase seiner Karriere verbrachte Dempsey als hängende Spitze. In seiner Zeit in England verband er die Elemente des klassichen Torjägers und einer Falschen Neun, im Zusammenspiel mit Stürmern wie Bobby Zamora oder Andy Johnson. Bei der Nationalmannschaft replizierte Jozy Altidore in jener Phase dieselben Dynamiken. Im Resultat standen interessante bindende Wechselwirkungen, in denen Dempsey Räume geöffnet wurden, um den Ball zwischen der gegnerischen Mittelfeld- und Abwehrlinie zu erhalten und eine Aktion zu gestalten.

Nachdem er das Leder dort angenommen hatte, versuchte er oft schnelle Drehungen zum Ausweichen aus dem ersten Druck und Anschlusspässe direkt in gefährliche, chancenrelevante Bereiche. Angesichts der damals geringen Kompaktheit in der Premier League und im internationalen Fußball allgemein (zumindest verglichen mit heutigen Standards) reichte es oft, nur einen einzigen Gegner auszuspielen oder sich einige Meter in den Raum abzusetzen, um sich eine Abschlussposition aus der Distanz zu schaffen. Zudem konnte er im Zentrum einzelne Überladungen gegen Mannschaften kreieren, die sich nicht trauten, aus der Kette aggressiv nach vorne zu treten.

Seine Abschlüsse waren sehr optimistisch und eigentlich ein gutes Argument gegen beständige Distanzschüsse als mannschaftliche Strategie. Viele seiner Versuche aus der Ferne brachten den Torhüter nicht ernsthaft ins Schwitzen, wenn auch einer von ihnen irgendwie, bei der WM 2010, Rob Green überlistete.

Doch vor dem Hintergrund derartiger Szenen setzte Dempsey jene Tendenz fort, in ihrer oft ähnlich unkonventionellen Art, wie sie sein Strafraumspiel ausmachte. Letztlich brachte der Amerikaner eine Sammlung spektakulärer Distanztore zusammen, ob durch elegante Chips, Volleyschüsse aus unsicherem Stand oder präzise, unerreichbare Freistöße. An Dempseys Spannweite zwischen Wucht und Grazie kam kein anderer amerikanischer Spieler seiner Zeit heran. Individuell bewegte er sich auf einem Niveau wie man es von US-Stürmern noch nicht gesehen hatte.

Fazit

Der frühere Nationaltrainer Bruce Arena beschrieb Dempseys Spiel reichlich unverblümt: “Er versucht Scheiße”. In einem gewissen Sinne verkörpert Dempsey das Klischee einer vergangenen Ära des Fußballs, das Klischee von Angreifern , die das Spiel an sich reißen, um es zum Besseren für das eigene Team zu verändern.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet, ist die Bandbreite seines Fähigkeitenprofils eine faszinierende Vorausschau auf die Melange zukünftiger Stürmer, die eine zunehmende Notwendigkeit für spezielle Qualität in engen Räumen mit der größeren allgemeinen Notwendigkeit einer hohen Arbeitsrate und Physis – angesichts ihrer nunmehr integralen Bedeutung im Pressing und der Aktivität gegen den Ball – werden zusammen bringen müssen. In gewisser Weise verhinderte letztlich die Geschwindigkeit, dass er höhere Ehren im europäischen Fußball erreichte. Aber Dempsey liefert eine gute Vorlage der verschiedenen Verantwortlichkeiten von Stürmern für Mannschaften, die auf fluide Angriffsweisen im vorderen Drittel ausgerichtet sind.

Wie er auf dem Feld Risiken einging, erinnert an einen BMX-Fahrer: mitunter extremes Risiko in Bezug auf die Bedingungen, nach denen er performt; aber bei guter Ausführung potentiell mit der Möglichkeit, zugleich zu begeistern und zu verblüffen.

savona 21. Dezember 2020 um 12:01

Nicht nur im Spiel gegen Portugal fiel er bei der WM 2014 auf. Sondern auch im Spiel gegen das deutsche Team, in dem er der gefährlichste Angreifer der US-Amerikaner war.

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