Türchen 8: Helmut Haller

Klares Bewegungsspiel war oft ein stilistisches Charaktermerkmal bei Helmut Haller. Dann und wann setzte er auch technische Glanzpunkte, wie im Duell um die italienische Meisterschaft 1964. Vor allem sorgte er in jener Partie aber für eine herausragende Leistung in der Raumbesetzung und im rückwärtigen Raumfüllen.

Vorerst der Letzte auf der Liste war Mario Götze. Im illustren Kreis der deutschen Fußballer, die in einem WM-Finale ein Tor geschossen haben, befindet sich auch Helmut Haller. In seinem Fall war es das legendäre Endspiel von 1966, das schließlich durch das Wembley-Tor entscheidend geprägt werden sollte. Weit früher an jenem Samstagnachmittag, vor diesen sportlich dramatischen Ereignissen, hatte Haller den ersten Treffer des Tages markiert und die DFB-Auswahl in der 12. Minute zwischenzeitlich in Führung gebracht. Nicht zuletzt dadurch hat er sich in der Erinnerung des Verbandes nachhaltig einen Platz gesichert.

Gleichzeitig ist Haller das größte Aushängeschild des Augsburger Fußballs. Vor dem Stadion steht eine Statue von ihm. Lange Zeit war er der einzige Spieler eines Klubs aus der Fuggerstadt, der als solcher für das deutsche Nationalteam auflief. Überhaupt wurde nach ihm kein Akteur des FC Augsburg bzw. dessen Vorgängervereinen für eine Weltmeisterschaft nominiert, bis Hong Jeong-Ho und Paul Verhaegh 2014 in Brasilien dabei waren. Einer der wenigen Finaltorschützen und der erste große Repräsentant des Augsburger Fußballs: Insgesamt speist sich aus dieser doppelt besonderen Position ein kleiner Legendenstatus Hallers oder zumindest eine spezifische Bekanntheit.

Noch etwas kommt hinzu: Haller war in den 1960er-Jahren auch einer der ersten deutschen Spieler, die ins Ausland wechselten, damals zumeist nach Italien. Im Sommer 1962 ging er zum Bologna FC und erlangte damit auch – noch vor der Einführung der Bundesliga – den Status als professioneller Fußballer. Später folgte noch ein Wechsel zu Juventus, wo er ebenfalls einige Jahre blieb, bis zur Rückkehr nach Augsburg. Letztlich spielte Haller von 1962 bis 1973 in Italien und gewann in dieser Zeit dort insgesamt drei Mal mit seinen Teams den Meistertitel.

Bewegungsspiel und Rückstöße

Zwei größere Schwerpunkte prägten Hallers Spiel vor allem: Zum einen sein Bewegungsspiel und Verhalten im Strafraum, zum anderen weiträumige Rückstöße. Wenn er sich klar auf die Besetzung des Sechzehners fokussierte, entwickelte er guten Zug in die Spitze und eine funktionale, recht präzise Art und Weise der Tororientierung. Diese Facette trat gerade im späteren Verlauf seiner Karriere nochmals stärker hervor, als Haller generell etwas direkter und häufiger tororientierter wurde. Bei seinen Rückstößen holte er sich weit hinten die Bälle ab, teilweise sehr arbeitsam in den Flügelzonen.

Die unten erwähnte Szene aus dem WM-Finale 1966

Je nach Situation und Einbindung kurbelte er teilweise früh Spielzüge an oder spielte großräumig attackierende Pässe oder Verlagerungen in die Spitze. Beispielsweise gab es im WM-Finale 1966 gegen England einige Szenen, in denen er als nomineller Rechtsaußen bis komplett auf den anderen Flügel rochierte, um dort das Leder zu fordern und Angriffe zu starten. In anderen Spielen des Turniers wirkte er fast wie ein Eröffnungsspieler aus den tiefen Außenbereichen, der seinen Gegenspieler herauslocken und dann längere Zuspiele auf den dahinter ausweichenden Seeler bringen sollte, um so schnell in offensive Freiräume zu gelangen.

Bolognas Spiel um den Titel

Bei diesen typischen Mustern leitete und trieb Haller vor allem an, die anschließenden Verbindungszonen wurden entweder von den Mitspielern besetzt und von ihm angespielt oder sie wurden durch weiträumige Aktionen überbrückt. Die normalerweise gelegentlichen Szenen, in denen er darüber hinaus – zumeist mit einzelnen vertikalen Doppelpässen – selbst die Verbindungszonen bespielte, häuften sich in einer seiner besten Partien überhaupt, in der er nochmals wesentlich mehr Präsenz dort entwickelte – dem Entscheidungsspiel um die italienische Meisterschaft 1964. Da zwei Teams nach der Ligasaison punktgleich waren, musste es zum einzigen Mal in der Geschichte ein Finale um den „Scudetto“ geben.

In der Anfangsphase dieser Begegnung zwischen Hallers Bologna und dem großen Inter-Team jener Jahre, ausgetragen in der italienischen Hauptstadt, agierte der deutsche Offensivakteur bereits sehr zurückfallend. Aus diesen Situationen spielte er zunächst noch recht einfache Pässe oder Einleitungen. Es zeigte sich auch in dieser Partie, dass Haller dieses Zurückfallen grundsätzlich gut zu wählen vermochte, ebenso wie die folgende Ballverteilung. Mit der Zeit traten dann zunehmend die kleinräumigen Kombinationseinleitungen aus den Flügelzonen und in diesem Fall auch häufiger den Halbräumen hinzu. Im Kurzpassspiel war Hallers Entscheidungsfindung insgesamt jedoch nicht optimal, da seine Zuspiele häufiger mal in für den Mitspieler ungünstige Situationen hinein gingen.

Haller holt sich tief den Ball ab: In dieser Szene ist der kurze Vertikalpass auf den seitlich entgegen kommenden (und hier auch etwas zu sehr zum Ball drängen) Perani aber suboptimal, da Facchetti diesen direkt unter Druck setzen und bedrängen kann.

Feine Fußtechnik in den Verbindungszonen

Die in dieser Partie verstärkt prägende Facette waren zusätzliche Einbindungen – also in Form etwas kürzerer Rückstöße – zur Ergänzung des Angriffsspiels im zweiten Drittel. Dort bot sich Haller einfach und schnörkellos als unterstützende Anspielstation für schnelle Stafetten an, meistens gruppentaktisch zwischen zwei bis vier Spielern. Dazu konnte er einige starke Ablagen und Weiterleitungen beitragen. Zum einen hatte er in diesen Bereichen also mehr Präsenz als sonst oft. Zum anderen glänzte in dieser Begegnung die teilweise herausragende technische und auch koordinative Umsetzung. Eine seiner wichtigsten Qualitäten war rein die starke, feinteilige Fußtechnik, zu der auch der recht flexible Umgang mit verschiedenen Teilen des Fußes und vor allem kleine Finten damit gehörten.

Eine zügige vertikale Aktion Bolognas nach einem gescheiterten Inter-Angriff über rechts: Nach Foglis Pass spielt Haller eine brillante, äußerst saubere und gut gewichtete Ablage mit der hinteren Hacke auf den durchlaufenden Bulgarelli

Überhaupt führte das zu einer sehr guten Ballführung, die Hallers Spiel in seinen besten Jahren entscheidend ausmachte. Vor allem stand sie in einer – speziell für die damalige Zeit – besonders harmonischen Verbindung zu den jeweiligen Bewegungsabläufen: Das Mitziehen des Balles mit der Sohle oder dem äußeren bzw. dem zuvor eigentlich nicht führenden Fuß nutzte er oft und recht fein, gerade während Körpertäuschungen oder in Zwischenmomenten innerhalb von Bewegungen. In einigen Momenten dieser Partie war die Umsetzung besonders gut. Technische Glanzpunkte entstanden, wenn sich die Ballführung spektakulär mit Hallers Pirouetten verband: In diesem Finale gelangen ihm einige herausragende Drehungen, in der Sauberkeit und quasi „Reibungslosigkeit“ der Abfolge beeindruckend.

Timing in der Raumbesetzung

Trotz vieler guter, speziell gruppentaktischer Ansätze hatte Bolognas Team – zumal in jener Epoche mannschaftlich – nicht die stabile Kohärenz, um solche Szenen wirklich zuverlässig bis zu sauberen Abschlusssituationen durchzubringen. Zudem trafen sie hier auf einen defensivstarken Gegner, der kurz zuvor erst den Landesmeister-Pokal gewonnen hatte. In den Kombinationen, die er etwas bestimmender selbst eingeleitet hatte, war es auch Haller selbst, der sich einige Male im Detail verzettelte, etwa in der Folgeraumwahl. Überhaupt zeigte sich sein klares, eigentlich gutes Bewegungsspiel im Offensivdrittel hier nicht in Bestform: In jenen Feldbereichen startete er in diesem Finale einige unpassende Tiefenläufe in („halb-tote“) Bereiche, die in der Situation eigentlich nicht nachhaltig effektiv oder wirksam nutzbar waren.

Libero Picchi hatte den Ball hier mal seitlich nach vorne getragen, Corso spielt quer auf Tagnin. Dessen Pass kommt an Bulgarelli vorbei auf den zurückfallenden Milani, der das Leder nicht ganz sauber kontrolliert. Bulgarelli sucht von der anderen Seite Zugriff, um den Ball aufzunehmen. Allerdings rückt auch Tagnin nach. Haller erkennt diese Situation und schiebt in den angrenzenden Raum nach hinten, in welchen das Leder letztlich auch tatsächlich springt, nachdem weder Bulgarelli noch Tagnin entscheidend herankommen.

Nach einem Abwurf des Torwarts war Capra schnell am Flügel aufgerückt, seinen Steilpass hatte Facchetti aber abfangen bzw. unterbinden können. Suárez bekam den Ball unter Kontrolle: Das gute diagonale Anlaufen Bulgarellis konnte er – auch unter Druck durch den nachsetzenden Perani – per Lupfer auf den zurückfallenden Mazzola überspielen. Der offensivste Mittelfeldmann Inters agierte in dieser Partie recht hoch und wurde neben Mittelstürmer Milani von Bologna eher wie ein zweiter Angreifer durch ihre beiden teilweise recht geschickten Verteidiger Furlanis und Tumburus verfolgt. Auch auf der anderen Seite gab es einige direkte Zuordnungen in der Abwehr: Da Bologna durch die rechtslastige Spielweise des eigentlichen Rechtsaußen Perani keinen festen Spieler auf links hatte, wurde normalerweise Haller von Burgnich eigentlichem (halb)rechten Verteidiger der Dreierkette vor dem Libero gedeckt, Perani zumeist von Facchetti. Das führte dazu, dass Burgnich häufiger auch in zentralen Positionen zu finden war.

Insgesamt hatte Hallers Leistung gar nicht unbedingt so viel Effektivität in der Offensive oder so großen direkten Einfluss auf den 2:0-Erfolg seiner Mannschaft – aber umso mehr indirekt darauf, dass Bologna so gut im Spiel war und sich entfalten konnte. Seine Rückstöße bildeten nicht nur ein prägendes Element des Aufbauspiels, sie fanden in verschiedensten Situationen statt. Dabei fand Haller in dieser Begegnung ein herausragendes, teilweise brillantes Timing für das Rückwärtspressing und das Aufsammeln von losen Bällen in der Rückwärtsbewegung. Diese vermochte er durch seinen technisch starken Auftritt und die geschmeidigen Pirouetten auch entsprechend nach hinten zu sichern. Oftmals gab er dann schnell Präsenz wieder ab und rückte zügig nach vorne auf. Ohne Ball besetzte Haller in dieser Partie sehr oft genau die richtigen Räume.

Wieder eine starke Aktion von Suárez, diesmal der Pass genau durch die Lücke zwischen zwei Gegnern auf Corsos Lauf, der gegen Janichs Herausrücken dann dynamisch querlegt. Mazzola wird vom Verteidiger aber gut bedrängt, das Leder springt unkontrolliert weg. Haller füllt erneut Raum nach hinten, hat den schnellsten Zugriff auf den Abpraller: Gegen den gut nachsetzenden Mazzola geht er im Abstoppen in eine sofort anschließende Drehung über, schirmt den Ball mit dem Standfuß ab, dreht so auch den Körper bzw. Rücken „vor“ den Gegenspieler und zieht das Leder mit der rechten Hacke in einer Aktion als Querpass auf den Mittelfeldakteur neben ihm. Dieser wiederum legt ihm das Leder einfach sofort wieder ab, Haller kann recht schnell wieder weiter nach vorne starten.

Netter Nebenaspekt: In der Folge entwickelt sich eine Art Konter, in der Haller mehrmals seine Zwischenbewegungen in der Ballführung einbringt. Hier dreht er sich erst nach links, dann nach rechts und nutzt dann die ausweichende Bewegung von Bulgarelli, der letztlich Tagnin etwas weiter nach außen bindet, um zwischen den beiden ballnahen Gegenspieler auf den einmal fast über das komplette Feld ziehenden Lauf Peranis in die Restformation durchzustecken.

Die Nummer Zehn trägt die Präsenz zusammen

Gerade in der Anfangsphase hatte Bologna gewisse Schwierigkeiten im Zugriff: In dieser Partie bot Trainer Fulvio Bernardini quasi eine Fünferkette auf, mit zwei Verteidigern vor Janich und zwei leicht asymmetrischen Flügelspielern. Im Mittelfeld nahm Bulgarelli einen etwas offensiveren Allrounder-Part ein als Fogli, der halbrechts viel in tiefen Zonen mitarbeitete, aber auch häufiger bis ganz auf die andere Seite rückte. Als Offensivspieler blieben neben Haller noch der ausweichende Mittelstürmer Nielsen und Perani als eigentlicher Flügelstürmer, der sich auch in vielen Phasen wie ein Rechtsaußen verhielt. Auch wenn später er und zuvor Fogli häufiger situativ die andere Bahn auffüllte, zeigte sich Bolognas taktisches Konstrukt so stark rechtslastig.

Durch die offenen nebenformativen Räume im linken Teil konnte Inter aufbauen, die mannorientierten Verteidiger zurückdrängen und so dementsprechend hatte Bologna über viele Phasen der ersten Halbzeit zu wenig Präsenz. Durch das starke rückwärtige Raumfüllen war Haller sehr wertvoll darin, seiner Mannschaft Spielanteile und kontrollierte Momente zu verschaffen – ein hohes Gut und eine Grundlage, auf der vieles einfach leichter fällt, sowohl dem einzelnen Akteur wie dem Kollektiv. Der deutsche Offensivstar glänzte nicht mit spektakulären Offensivszenen, sondern er verbesserte die Ausgangsbedingungen für sein Team. Bezeichnenderweise wurde der verzögerte Konter zum 2:0 durch einen von Haller in der Rückwärtsbewegung aufgenommenen losen Ball eingeleitet.

Die Entstehung des 2:0, Bologna nach der Führung bereits weiter zurückgezogen, Perani hier wieder mal nach links gerückt: Tagnin treibt von der Seite an, spielt dann quer nach innen an Bulgarelli vorbei auf Suárez. Dagegen zeigt Fogli eine verrückte, enorm explosive, aber auch überambitionierte Herausrückbewegung und kommt auf der kurzen Innenbahn nicht an den Ball. Suárez dreht sich als Reaktion auf Foglis Bewegung recht gut, kann durch diesen Aufwand das Leder aber nicht mehr vor sich festmachen. Haller ist wiederum gut in diesen Raum zurückgefallen, Corso reagiert ein bisschen zu spät und so kann Haller den losen Ball zu Perani spitzeln. Dieser startet den Gegenzug, Fogli geht im Zentrum weiträumig mit und bereitet später mit einem abknickenden diagonalen Lochpass das Tor durch Nielsen vor.

Eine weitere Szene: Der Ball wird aus dem Strafraum nach vorne getragen und vertikal auf den sich nach hinten anbietenden Jair gespielt, den sein Gegenspieler Pavinato hier energisch verteidigt. Nach dem Zweikampf springt der Ball in den Halbraum, Haller zeigt abermals sehr gutes Timing und sichert das Leder, bevor es zum Duell der bereits längerfristig ballnah zur Seite schiebenden Mittelfeldakteure.

savona 11. Dezember 2018 um 12:02

Helmut Haller war in den 60er Jahren ein herausragender Spieler der deutschen N11. Besonders bei der WM 1966 war er neben seiner Wichtigkeit für den Spielaufbau auch der beste Torschütze im deutschen Team, mit u.a. den Führungstreffern im Halbfinale gegen die UdSSR und im Finale gegen England. Aber auch in den Jahren davor und danach – und ganz besonders in den schwierigen Qualifikationsspielen für die WMs 66 und 70 – war immer die Frage: bekommt Haller die (damals noch nicht so wie heute regulierte) Freigabe vom Verein? Ähnliches galt für Schnellinger. Wenn sie nicht erteilt wurde, bedeutete es von vornherein eine deutliche Minderung der Erfolgsaussichten.

Danke also für diese Würdigung. Dieses Spiel gegen Inter, der überraschende Gewinn des Scudetto gegen den aktuellen Gewinner des Europapokals der Landesmeister, Hallers nennenswerter Anteil daran sowie der Umstand, dass er aufgrund dessen – wenn ich mich recht entsinne – daraufhin die Wahl zum Fußballer des Jahres in Italien gewann – all dies fand damals auch in der im Vergleich zu heute betulichen deutschen Medienlandschaft Beachtung.

Ich werde mir demnächst mal dieses Entscheidungsmatch im Netz ansehen. An dieser Stelle hätte früher Schorsch, der wohl ungefähr mein Jahrgang ist, mein nostalgisches Geplauder mit einiger fachlicher Expertise und mindestens ebenso vielen Erinnerungen angereichert. Von ihm habe ich hier leider schon länger nichts mehr gelesen. Schade – mir hat’s immer Spaß gemacht.

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