Türchen 2: Juan Fernando Quintero
Neben Kopfballungeheuer Yerry Mina wurde Juan Fernando Quintero bei der Weltmeisterschaft 2018 zum unerwarteten Hoffnungsträger Kolumbiens – und zeigte speziell beim 3:0-Sieg über Polen eine besondere Leistung.
Dass Quintero auf der großen Weltbühne des Fußballs so aufzeigt, war überraschend. Zwar konnte er sein Talent auch schon in internationalen Topligen zeigen, doch gilt er in Europa als gescheitert. Der 25-jährige Mittelfeldspieler ist zwar noch im Besitz des FC Porto, mittlerweile aber bei River Plate aktiv.
2012 holte der damalige Serie-A-Aufsteiger Pescara Calcio das kolumbianische Talent nach Europa – als Ersatz für den nach Paris abgewanderten Marco Verratti. Ein Jahr später sicherte sich der FC Porto Quinteros Dienste. Doch seine Karriere entwickelte sich nicht nach Plan, unter anderem ein geplatzter Transfer zu Arsenal soll ihn aus der Bahn geworfen haben. Nach einer erfolglosen Leihe zu Stade Rennes ging er 2017 zurück in seine kolumbianische Heimat, 2018 schließlich zu River.
„Ich bin nicht dick, ich habe nur einen großen Hintern“, rechtfertigte sich Quintero bei seiner Ankunft in Buenos Aires. Den Fokus auf Fußball schien er zu diesem Zeitpunkt bereits verloren zu haben. Während der Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Russland trat er etwa in Musikvideos auf, zum Einsatz für Kolumbien kam er allerdings nicht. Überraschenderweise wurde er dennoch von Teamchef José Pékerman für die WM nominiert. Es sollte sich bezahlt machen. Pékerman wurde dies wohl spätestens beim Spiel gegen Polen klar. Nach Minas Treffer zum 1:0 lief er zu Quintero, um ihm seine Meinung mitzuteilen: „Genie! Genie! Genie! Du bist ein Genie!“.
Quinteros Renaissance
Davinson Sánchez, Juan Cuadrado, James Rodríguez, Radamel Falcao… an internationalen Topspielern mangelt es der kolumbianischen Auswahl sicherlich nicht. Umso beeindruckender ist jedoch die dominante Rolle, die Quintero in der Mannschaft bei der WM einnahm.
Obwohl Pékerman mit James Rodríguez ein Weltklassespieler im offensiven Mittelfeld zur Verfügung stand, baute er zusätzlich noch Quintero in die Startelf ein. Zudem fand der Coach eine geschickte Einbindung seiner Offensivkräfte. Im Falle von Quintero nicht einfach, so wirkt der 1,69 Meter große Mittelfeldspieler etwas aus der Zeit gefallen. Er ist ein klassischer Zehner, Spielmacher, etwas pummelig und gefühlt spaziert kein Spieler auf dem Platz so viel herum wie er. Um seine Stärken in Ballbesitz gut einzusetzen, sollte er das Spiel aus tieferen Zonen gestalten, aufgrund seiner Schwächen bei gegnerischem Ballbesitz aber eben nicht dort verteidigen.
Pékerman löste dies mit einer 4-3-3-Grundformation, bei der Quintero einen Hybrid aus rechter Achter und Zehner spielte. Die Position am linken Flügel wurde mit James Rodríguez besetzt, die rechte mit Juan Cuadrado. Der Bayern-Legionär bewegte sich sehr weiträumig und positionierte sich üblicherweise im linken Halbraum oder rückte noch weiter in das Zentrum ein, Juves Cuadrado hingegen hielt auf rechts die Breite, wodurch häufig eine Art verschobenes 4-3-1-2 entstand. Bei gegnerischem Ballbesitz wurde zumeist durch Cuadrado eine Fünferkette gebildet, Quintero verteidigte in der ersten Pressinglinie im 5-3-2 oder stellte in einem 5-2-2-1 eher passiv einen gegnerischen Sechser zu.
Im ersten Gruppenspiel war davon allerdings nur wenig zu sehen. Grund dafür war eine rote Karte in der erst dritten Spielminute, welche schließlich zu einer 1:2-Niederlage gegen Japan führte. Torschütze für Kolumbien: Juan Fernando Quintero, der mit einem Freistoß unter der Mauer durch den zwischenzeitlichen Ausgleich erzielte. Am zweiten Spieltag musste dafür Polen erkennen, welche Qualitäten die kolumbianische Mannschaft mitbringt.
Polen agierte bei gegnerischem Ballbesitz in einer 5-2-2-1-Grundordnung in einem recht passiven Mittelfeldpressing. Kolumbien konnte nach einer hart umkämpften Anfangsphase das Ballbesitzspiel durch variable Bewegungen im Mittelfeld und recht hohe Präsenz in den tieferen Zonen kontrollieren. Quintero hielt seine angestammte Position nur selten, bewegte sich teils zentral zwischen den Linien und ließ sich dann häufig gegen die Dynamik zurückfallen, um das Spiel aus dem rechten Halbraum zu gestalten.
Mit links
Dort konnte er seine große Waffe einsetzen: den linken Fuß. Praktisch alles was Quintero macht, macht er mit links. Dabei folgen seine Aktionen relativ simplen Mustern. Im Dribbling führt er den Ball durchgehend mit dem linken Außenrist, bewegt sich so stets vom rechten Flügel oder dem rechten Halbraum aus diagonal Richtung Zentrum. Währenddessen scannt er das Spielfeld nach möglichen Anspielstationen, deutet dabei zwischendurch gerne mal an, den Ball abspielen zu wollen. Entscheidet er sich für ein gegnerschlagendes Dribbling, dann kappt er plötzlich den Ball ab und versucht mit einem kurzen Antritt vorbei zu gehen. Es ist sein Standardmove, den er doch immer wieder überraschend einsetzen kann. Speziell in Unterzahlsituationen macht er dies hervorragend. Die Gegenspieler wissen wohl, dass er rechts vorbeigeht, aber nicht ob er vorbeigeht.
Wie sein Dribbling, so funktioniert auch sein Passspiel. Zunächst ist es ganz klar nach links gerichtet, immer wieder bringt er so Quer- oder Diagonalpässe an. Doch wenn jeder Gegenspieler glaubt, dass ein Zuspiel nach links erfolgt, kappt er im letzten Moment ab und kann einen überraschenden Pass nach rechts spielen.
Polen schaffte es nicht, ihn früher unter Druck zu setzen und somit ein Ausspielen dieser Stärken zu verhindern. Kolumbien spielte mit beiden Sechsern relativ nahe an der eigenen Abwehr, Quintero ließ sich von der Zehn aus zurückfallen, wodurch es viele Spieler in tieferen Zonen gab. Polen wollte oder traute sich nicht weit genug mit ihren Mittelfeldspielern herauszurücken, um die Ballzirkulation in diesen Zonen zu unterbinden. Andererseits bedeutete dies, dass es für die Kolumbianer nur wenig Anspielstationen nach vorne gab. Quintero fand sie trotzdem.
Genialer Kreativspieler
Es war vor allem der linke Halbraum, den er immer wieder erfolgreich bespielte. Mit seinem diagonal nach innen gerichteten Dribbling konnte er die Orientierung der polnischen Doppelsechs auf sich ziehen und dann die Schnittstelle zwischen dem ballfernen Sechser und dem rechten Mittelfeldspieler bespielen. Dort tauchte dann der umtriebige James auf, der mit seinen horizontalen Bewegungen im Zwischenlinienraum der polnischen Defensive das Leben schwer machte.
Mit beeindruckender Leichtigkeit brachte Quintero diese Zuspiele an. Sein Passspiel ist extrem antriebig, ständig versucht er gegnerische Linien zu überspielen und gefährliche Situationen zu erzeugen. Dabei bringt er diese Pässe zumeist sehr sauber an und überzeugt vor allem mit sehr guter Passgewichtung, was Folgeaktionen erleichtert.
Dennoch mangelt es seinen Zuspielen öfters an der nötigen Präzision. Zwar ist diese immer noch äußerst gut, doch ist es schlicht die Menge an schwierig auszuführenden Pässen, welche eine höhere Erfolgsquote verhindert. Gerade in der Anfangsphase gegen Polen sind einige Fehlpässe dabei, wobei sie auch stets herausragend gewesen wären, wenn erfolgreich angekommen. Alibipässe gibt es bei Quintero keine. Seiner riskanten Spielweise ist er sich selber bewusst, so scheint er stets die möglichen Auswirkungen seiner Aktionen zu bedenken und geht geradezu reflexhaft ins Gegenpressing. Es sind einige der wenigen Aktionen, die er im Sprint erledigt. Die meiste Zeit trabt er auf dem Platz herum, ist langsam, aber auch konsequent in Bewegung.
Mit Fortlauf des Spiels gegen Polen wird er dominanter, die guten Aktionen häufen sich. In Minute 20 mal wieder eine seine üblichen Aktionen: Er bekommt von der rechten Seite in zentraler Position vor dem Strafraum den Ball. Alles wartet auf einen Pass auf links als er plötzlich den aufgerückten Aguilar – der nur im letzten Drittel höher als Quintero spielte und stets die Strafraumbesetzung übernahm – auf halbrechts einsetzt. Aguilar hätte frei im Strafraum abschließen können, verpasste den Ball jedoch knapp. Kurz vor der Halbzeitpause dann eine ähnliche Situation: Nach einem kurz abgespielten Eckball wartet alles auf Quinteros Flanke, der jedoch überraschenderweise nochmal James freispielt. Aus kurzer Distanz kann dieser den Ball auf Mina bringen. Kopfball, 1:0 Kolumbien.
Quintero macht den Unterschied aus im Spiel. Bis zu seiner Auswechslung ist er an jeder weiteren gefährlichen Aktion von Kolumbien beteiligt. Zwei Torchancen leitet er ein, in dem er Cuadrado gut einsetzt. Zunächst mit einem beeindruckenden Flugball über lange Distanz, als er nach einem polnischen Angriff einen losen Ball bekommt und während seiner Drehung Richtung Zentrum im Augenwinkel Cuadrados Sprint am Flügel erkennt. Dann wenige Minuten später mit einem flachen Pass durch die Schnittstelle zwischen Halbverteidiger und Flügelverteidiger.
Schließlich bereitet er das 2:0 mit einem Steilpass auf Falcao vor, der dank passender Passgewichtung den Ball auch direkt mit dem ersten Kontakt Richtung Tor mitnehmen konnte und dann souverän abschloss. Kurz nach Quinteros Auswechslung sorgt Cuadrado schließlich für den 3:0-Endstand.
Als sich James Rodríguez im Spiel gegen Senegal verletzte und daraufhin gegen England fehlte, lagen große Hoffnungen auf Quintero. Doch ohne James funktionierte Pékermans Offensivkonstrukt nicht mehr wie zuvor, Quintero blieb verhältnismäßig unauffällig. Im Elfmeterschießen folgte schließlich das Ausscheiden.
Obwohl Quintero durch seine Leistungen bei der Weltmeisterschaft das Interesse europäischer Klubs auf sich ziehen konnte, ging es für ihn wieder zurück zu River Plate. Dort bringt er auch weiterhin gute Leistungen und hat großen Anteil am Einzug ins Finale der Copa Libertadores. Allerdings befindet der 25-Jährige sich damit weiterhin abseits der großen europäischen Fußballbühne, welche seinem Potenzial gerecht werden würde. Umso mehr Freude machte es dafür, seine Auftritte bei der WM in Russland bewundern zu dürfen.
8 Kommentare Alle anzeigen
Michael 9. Dezember 2018 um 23:08
Und eine Woche nach seinem Portrait entscheidet er das Copa Libertadores Finale mit einem überragenden Tor. Großartiger Spieler!
Lulola 9. Dezember 2018 um 23:08
Als hätte er hier mitgelesen, mal eben das Copa Libertadores Finale von der Bank kommend entschieden!
cali 8. Dezember 2018 um 16:56
Der war schon bei u20-WM 2013 (?) überragend.
Kleine Korrektur:
Die zitierten Worte richtete Pékerman an ihm nach Falcaos Treffer, den Quintero mit einem wundervollen Pass vorbereitet hatte.
AB 9. Dezember 2018 um 10:59
Da herrscht interessanterweise etwas Unklarheit. Einige Quellen behaupten, die Worte seien nach dem ersten Tor gefallen. Andere behaupten es sei nach dem zweiten Tor gewesen. Das hält sich so ziemlich die Waage.
Ja, 2013 war es. Da hat er damals mein Herz erobert.
Peda 5. Dezember 2018 um 10:08
Alleine Quinteiros Laufbahn in der Nationalmannschaft ist ein herrliches Kuriosum:
Bereits 2011 wurde er im zarten Alter von 18 Jahren zum ersten Mal einberufen, damals noch unter Leonel Álvarez. Sein Debüt gab er ein Jahr später unter Pékerman.
In insgesamt acht Jahren kam er nur auf magere 23 Einsätze, davon 15 Testspiele – aber ganze sieben bei WM-Endrunden! In diesen sieben EInsätzen sammelte er noch dazu vier Scorerpunkte.
Einfach geil! 😀
Dom 3. Dezember 2018 um 17:39
Quintero ist schon ein bemerkenswerter Spieler. Unglaublich kreatives und attackierendes Passspiel, immer eine Idee parat und mit dem linken Fuß so ziemlich alle Möglichkeiten, die der Sport bietet. Gerade die tiefe Einbindung in Ballbesitz für Kolumbien war sehr interessant und passend. Man mag sich gar nicht ausdenken, welche Möglichkeiten er hätte, wenn er in den athletischen Bereichen ähnlich stark wäre.
Vielen Dank für dieses Portrait!
August Bebel 3. Dezember 2018 um 00:11
Eine schöne Würdigung eines tollen Spielers, vielen Dank! Quintero war mir schon 2014 positiv aufgefallen und bei der WM 2018 hat er das noch mal übertroffen. Aus rein egoistischer Sicht würde ich mir wünschen, dass er sich noch mal in Europa versucht, vielleicht bei einem offensiv ausgerichteten spanischen oder italienischen Klub der oberen Mittelklasse, aber wenn er in Südamerika glücklich ist, gut für ihn.
Kolumbiens Leistung gegen Polen war insgesamt eine der besseren der WM, dank ihrer Offensive ist mir das Spiel als eines von eher wenigen positiv in Erinnerung geblieben.
ID 2. Dezember 2018 um 23:49
Polen-Kolumbien war die erste Partie, die ich nicht live sehen konnte. Die Highlights haben vor allem dank seiner Leistung den Namen tatsächlich verdient. Toller Spieler, mal sehen, ob er im Rückspiel der Copa Libertadores ran darf. Ist zu hoffen…