Abwartend an der Spitze
Ein Tabellenführer, der primär mit tiefer Verteidigung glänzt? Das Spitzenspiel gegen Flamengo illustrierte beide Seiten der Medaille in der Spielweise von Corinthians. Eine allgemeiner ausgerichtete Spielanalyse.
Mit einem furiosen Saisonstart und einer auch kurz vor Hinrundenende noch andauernden „Ungeschlagen“-Serie haben sich in dieser Spielzeit in Brasilien wieder die Corinthians zum Titelfavoriten gemausert. Das Attribut „unbezwingbar“ wird in Gesprächen über die Mannschaft des jungen, zuvor kaum bekannten Trainers Fábio Carille vor allem auf die Defensive bezogen, in der das Team bisher nur wenig zuließ und die als Basis für viele kühle, knappe Siege diente. In der Tat fokussiert sich Corinthians 2017 stark auf Stabilität – und bevorzugt eine für Tabellenführer in dieser Form eher ungewöhnlich abwartende Spielweise bzw. „muss“ das in Teilen.
Corinthians´ Defensivspiel 2017
Von einer 4-4-1-1-Grundformation ausgehend setzt das Team Carilles den eigenen Plan sehr stark um: Ihre Defensivstärke basiert vor allem auf den sauberen und kompakten Bewegungen der zwei Viererketten. Die beiden Sechser Gabriel und Maycon pendeln geschickt und anpassungsfähig durch den Raum, schaffen es beim leichten ballnahen Herausrücken jeweils immer wieder sehr gut und bedacht, große Deckungsschatten diagonal nach hinten zu werfen. In der Umsetzung heben sie sich durch ihre Aufmerksamkeit vom Spiel anderer Teams ab. Das gilt auch für die Mitarbeit der offensiven Flügel, die sich oft tief zurückziehen – teilweise in die letzte Linie, meist knapp davor – und ballnah ihren Nebenmann gut absichern. Am Flügel bilden sie bogenförmige Staffelungen, in mittigeren Situationen schieben sie hinter dem herausrückenden Achter etwas enger ins Zentrum.
Daran schließt wiederum auch die Abwehrreihe sehr konsequent an. Die vier Defensivkräfte zeigen im Herausrückverhalten eine gute allgemeine Grundqualität und vor allem passendes Timing, wirken durch Training abgestimmt. Alles in allem hat die systematische Arbeit von Coach und Spielern die Corinthians absolut zurecht an die Spitzenposition in der Statistik der wenigsten Gegentore gebracht – aktuell nur acht nach 17 absolvierten Begegnungen. Bei einem unbedachten gegnerischen Pass ins Mittelfeldzentrum reagieren die Corinthians dann umgehend mit Zugriff. So hatten sie auch in dieser Begegnung vereinzelt einige sehr starke Balleroberungen mit massiven Überzahlen – lauernd, sobald sich die Möglichkeit dazu ergab.
Was der Mannschaft noch abgeht jedoch, ist die konsequente Orientierung nach vorne und die Kohärenz zu Beginn der Pressingphasen – kurz gesagt: eine wirklich effektive erste Linie. Zwischen den beiden vorderen Akteuren, die sich sehr unterschiedlich formieren können, und dem Mittelfeld dahinter sind die Anbindungen nicht optimal ausgebildet. So wirkt beispielsweise die Rolle des nominellen Zehners in den Anfangsmomenten des standardmäßig gewählten Mittelfeldpressings nicht ganz klar definiert. Gegnerischen Mannschaften bieten sich daher in den ersten Aufbauphasen schon gewisse Möglichkeiten, die ersten zwei Pressingspieler zu umschiffen.
Ballbesitzanteile zwischen Strategie und Präsenz
In der Folge müssen die Corinthians dem Gegner in einigen Phasen vergleichsweise viele Spielanteile zugestehen. Aufgrund der wenig druckvollen ersten Linie lastet vieles auf dem hinteren Block: Dieser kann viel Stabilität generieren, in dieser Konstellation lässt sich aber nicht allzu viel Präsenz und Zugriff nach vorne erzeugen. Andererseits tendieren die Corinthians schon von ihrer strategischen Grundhaltung häufiger dazu, sich eher abwartend auszurichten. So überließen sie auch schwächeren Mannschaften bei eigenen Heimspielen schon mal die Initiative. Ihre in manchen Abschnitten und Partien sehr geringen Ballbesitzzahlen speisen sich also aus zwei verschiedenen Quellen.
Zuletzt kontrollierte etwa Fluminense das Match gegen den Tabellenführer über enorm weiträumige Vorstöße des linken Innenverteidigers mit Ball, ergänzt durch verschiedene Herauskippbewegungen. Wegen ihres etwas zu tiefen Dreiermittelfelds brachten sie aber nicht genügend Präsenz hinter die Doppel-Sechs der Corinthians. Im Stadtduell mit Palmeiras hatten diese sich zeitweise eine Abwehrschlacht geliefert bzw. liefern müssen, da sie aus der tiefen Verteidigungsposition immer wieder im vor der Pause starken Gegenpressing des Rivalen hängen blieben, aufgrund des misslungenen Umschaltens kaum mehr Entlastung fanden und tief zurückgedrängt waren – ein potentieller Problempunkt.
Flamengo spielt sich warm
Ähnlich gestalteten sich die Spielanteile nun gegen Flamengo aus, Vizemeister des Vorjahres und auch aktuell wieder in der Verfolgergruppe. Die Mannschaft von Zé Ricardo verfügt über ein flexibles Bewegungs- und Positionsspiel als eine ihrer essentiellen Stärken, die ihnen in dieser Begegnung – gerade Mitte der ersten Halbzeit – einige sehr lange Zirkulationsphasen ermöglichte. Die Außenverteidiger wechseln immer wieder zwischen breitegebenden und stärker einrückenden Positionierungen, die Sechser im zweiten Drittel ihre Muster im Freilaufen. Dass dabei die Verbindungen mal komplett verloren gingen, wurde durch gewisse Leitlinien verhindert:
Bei herauskippenden Bewegungen stand der andere Achter nie viel breiter als zwischen Mitte und ballfernem Halbraum, weiträumiges Aufrücken in der Vertikalen fand nur bei gleichzeitig tieferer Einbindung Diegos statt. Der ehemalige Bundesliga-Star schuf sich von der Zehnerposition seine Präsenz, fokussierte etwa in der ersten Halbzeit vermehrt den linken Halbraum in der Schnittstelle zwischen Marquinhos Gabriel und Gabriel. Von dort versuchte er kurze Ablagen zu spielen oder sich bei gegenläufigem Aufrücken Cuellars vor die beiden gegnerischen Viererketten aufzudrehen. Im Wechsel mit den Abkippbewegungen gelang es Flamengo somit in gewisser Regelmäßigkeit, die ersten beiden gegnerischen Pressingakteure zu umspielen.
Wichtig dafür war auch die nötige Raumnutzung und bei Bedarf Kleinräumigkeit in diesen Zonen: Die sich bietenden Möglichkeiten gegen die eher nach hinten orientierte Ausrichtung Corinthians´ wurden konsequent genug ausgenutzt, die entsprechenden Räume neben deren Stürmern über das Bewegungsspiel zwischen Sechser- und Achterräumen auch besetzt und nicht – etwa mit zu sehr auf den positionellen äußeren Rahmen orientierter Zirkulation – überspielt. An dieser Stelle haben mehrere Mannschaften der brasilianischen Liga in der jüngeren Vergangenheit ihr Aufbauspiel gestärkt.
Zwischenraumfragen im Angriffsdrittel
Weiter vorne ging aber gerade jene Konsequenz in der Raumnutzung den guten Ansätzen von Flamengo aber noch ab, nachdem sie das letzte Drittel mit viel Druck erreicht hatten: Sie schafften es nicht entscheidend, von den offensiven Flügelpositionen wieder zurück ins Zentrum zu kommen. Das war gegen das gute Defensivverhalten der Corinthians auch schwierig, wenn der ballnahe Sechser geschickt zwischen seinen beiden Kollegen hervorrückte und das defensive Mittelfeld insgesamt sich über die Schnittstelle von Innen- und Außenverteidiger schob – das alles bei starker kollektiver Aufmerksamkeit. Zur linken Abwehrseite hin sind sie oft noch etwas tiefer gestaffelt, wenn der ballferne Flügelspieler sich fast bis in die letzte Linie einreiht und Rodriguinho von seiner Zehnerposition im ballfernen Halbraum zurück pendelt, um das horizontale Verschieben der Doppel-Sechs aufzufüllen.
Tatsächlich blieben Ansätze insgesamt häufig im Abwehrpressing der Corinthians hängen. Trotzdem hätte Flamengo noch energischer die Zwischenräume suchen müssen. Häufig gab es beispielsweise das Szenario, dass Éverton Ribeiro von außen andribbelte – mit Diego im Halbraum diagonal hinter ihm, Rechtsverteidiger Pará im Halbraum vorgestoßen und eventuell Cuellar zusätzlich in den Offensivräumen. In dieser Konstellation hatte man vielleicht nicht so viel technische Qualität wie in anderen, dafür aber teils schön angepasste Strukturen. Insgesamt agierte Flamengo aber zu zögerlich, gegen die unangenehme Defensivstaffelung dort hinein zu spielen. Die Momente, in denen dies mal leichter möglich gewesen wäre, verpassten sie zu häufig und ließen den Ball doch wieder in der Zirkulation laufen. Abwägung war hier ein entscheidender Faktor.
Wenn solche Szenen ausgespielt wurden, herrschte noch ein zu starker Fokus auf Dynamikauslösung: Oft versuchten die Spieler mit einer kleinräumigen Aktion einzuleiten und konzentrierten sich dann für den Anschluss zu sehr auf den explosiven Weg in die Tiefe, etwa auf Nachstöße oder Kreuzbewegungen. Teilweise boten die Gäste solche Läufe auch an, wenn sie nicht wirklich passten und hinter einen Pulk gegnerischer Spieler führten. Entstehende Abpraller versandeten dann gewöhnlich oder wurden vom gegnerischen Abwehrpressing aufgefressen. Letztlich betrieb Flamengo viel Aufwand, spielte sich über das zweite Drittel oft gut nach vorne und hatte auch die eine oder andere Halbchance.
Jedoch kamen sie lange Zeit kaum zu klaren, eindeutigen Tormöglichkeiten. So entstand der Ausgleich in der zweiten Halbzeit schließlich über die Offensivpräsenz und den dauernden Druck, den sie gegen die tiefe Verteidigung des Tabellenführers aufgebaut hatten – per Eckball. Im folgenden finalen Abschnitt der Partie, als beide Teams (wieder) offensiver zu spielen versuchten, aber im Nachrückverhalten zunehmend Nachlässigkeiten auftraten, waren sie über die sich häufenden Konter und Gegenkonter dem Sieg sogar näher. Die Corinthians konnten nach dem Gegentor für die Schlussphase keine entscheidende Steigerung im Angriffsspiel mehr zulegen:
Schnelles Durchspielen der Vorbereitungen
Eine solche Situation bei wenig verbleibender Restzeit liegt ihnen nicht besonders, da ihr Spiel mit Ball generell gerne auf Nadelstiche setzt und nicht so sehr darauf ausgerichtet ist, einen Gegner über längere Phasen nach hinten zu drücken. Gerade in eher passiven, verteidigenden Phasen und danach agieren die Corinthians vorne gruppenstrategisch noch zu hektisch. Ausgiebig laufen lassen sie den Ball ohnehin zumeist nur im zweiten Felddrittel, (in einzelnen Spielen gegen bestimmte Gegner haben sie dann darüber direkt sehr hohe Ballbesitzquoten), oft ziehen sie ihre Szenen bei Erreichen der Angriffszonen dann schnell und vertikal durch. Unter dieser Voraussetzung entscheiden sie sich bei moderater Offensivpräsenz so schon früher mal zur Risikoaktion. Dabei bieten sie eigentlich auch in diesem Bereich sehr viel Potential.
Über das recht gute Freilaufverhalten der Sechser und die Direktpässe auf weiträumige Rückstöße Jôs, der – vor allem gegen mannorientierte Abwehrreihen – mit seiner Technik für dynamikschaffende Weiterleitungen sorgen soll, haben sie gute Anlagen zur Spieleinleitung. Ein zentrales Element für die entscheidende Beschleunigung der Offensivaktionen sind die kleinen gruppentaktischen Abläufe aus den Flügelzonen oder äußeren Halbräumen. Diese gehen oft von den – auch diagonal – andribbelnden Außenverteidigern aus. Ihre Vordermänner setzen einrückende Bewegungen vor allem in unterstützender Form um und bieten sich dann nur kurz für Doppelpässe an, ehe sie in der Folgeaktion eher raumschaffend agieren.
Dazu gesellt sich meistens Rodriguinho mit seinem anpassungsfähigen Raumgespür. Gegen Flamengos mannorientierte Außenverteidiger konnten sie über diese Muster einige Male stark Dynamik aufnehmen. In der Folge fokussieren sie enorm konsequent diagonale Tiefenläufe – oft von Jô, aber auch kreativ aus dem ballfernen Halbraum, wie durch Maycon bei einem zu unrecht aberkannten Treffer in Halbzeit eins. Einige andere Ansätze blieben aber in der guten 4-2-3-1-Pressingstruktur Flamengos hängen, die mit ihren engen Flügelpositionierungen und den zwei versetzten Mittelfeldbändern recht gut außen zuschob.
Abschlussbemerkung
Der späte Ausgleichstreffer legte aus Sicht des Gastgebers das „Risiko“ offen, das eine zurückgezogene,stabilitätsorientierte Spielweise gegen den Ball mit sich bringen kann: den Zugriff auf die Partie und zunehmend eigene Entlastungsmöglichkeiten zu verlieren. Damit büßt man Präsenz ein, während der Gegner an Dominanz gewinnt. Im Interview nach dem Spiel machte übrigens Fágner als einen der Knackpunkte aus, dass man einer so guten Mannschaft wie Flamengo so viel den Ball gelassen habe. Gerade in Phasen, in denen die eigenen Spielanteile besonders gering sind, muss der Tabellenführer noch mehr Ruhe in Strafraumnähe entwickeln, spielt derzeit auch eigentlich sinnvolle Querlagen teils überambitioniert aus.
Die Corinthians setzen ihren Stil sehr gut um und verteidigen teils herausragend, wandeln aber auf einem schmalen Grat, dass sie sich zu weit zurückziehen und zu sehr auf ihre gute Raumabdeckung im tiefen Pressing verlassen bzw. wegen der strategischen Auswirkungen taktischer Aspekte zu stark zurückgedrängt werden – dass sie also die Ausgewogenheit verlieren. „Zu wenig Ballbesitz“ ist ungünstiger als der oft kritisierte „zu viel Ballbesitz“. Die Balance in der Entwicklung und der weitere Saisonverlauf von Corinthians dürften also sehr aufschlussreich werden: Inwieweit kann Fábio Carille seine bisher eindrucksvolle Arbeit fortführen und die Pressingsystematik erweitern, inwieweit kann bzw. will er die Ballzirkulation auch in höheren Zonen und das strategische Repertoire ausbauen? Das alles dürfte schon interessante Punkte genug bieten – und man hat über Flamengo noch gar nicht wirklich ausführlich gesprochen.
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