Atalantas Mannorientierungen stoppen Juventus
Atalanta Bergamasca ist die größte Überraschung der aktuellen Serie-A-Saison. Nach 34 Runden liegt das Team auf Rang fünf und damit auf einem Platz zur Qualifikation für die Europa-League. Auch Juventus musste am vergangenen Wochenende die Stärke von Atalanta erkennen und fand kein passendes Rezept gegen deren extreme Mannorientierungen.
Wesentlich verantwortlich für den Erfolg von Atalanta ist Trainer Gian Piero Gasperini, der den Genoa CFC bereits zwei Mal in die Europa League führen, seine einzige Chance bei einem Großklub aber nicht nutzen konnte – bei Inter wurde er einst nach nur drei Spieltagen entlassen. Gasperini ist bekannt dafür, seine Teams stets in einem 3-4-3 mit starkem Flügelfokus spielen zu lassen, bei gegnerischem Ballbesitz wird extrem mannorientiert verteidigt. Bei Atalanta findet Gasperini dazu gut passendes Spielermaterial vor und konnte sehr viele junge Talente in die Mannschaft einbauen.
Gegen Juventus spielte Atalanta sein übliches 5-4-1/3-4-2-1, wobei die bisher groß aufspielenden Talente Franck Kessie und Andrea Petagna nur auf der Ersatzbank blieben. Statt Petagna begann dafür Flügelspieler und Star des Teams Alejandro Gomez erstmals im Sturmzentrum. Die von Max Allegri trainierten Turiner begannen mit ihrer aktuell besten Besetzung im seit einigen Wochen üblichen 4-2-3-1.
Atalantas Manndeckungen
Interessant war es zunächst zu beobachten, wie sich die Defensive von Atalanta aus ihrem 5-4-1 an das 4-2-3-1 von Juventus anpasste. Die Pärchen, welche sich durch die Manndeckungen von Gasperinis Team ergaben, wurden schnell ersichtlich. Im Mittelfeld spielte Kurtic auf Dani Alves, Freuler auf Pjanic, Cristante auf Khedira und Hateboer auf Alex Sandro. Gomez spielte zwischen den Turiner Innenverteidigern. In der Abwehr blieb Conti auf Mandzukic und Spinazzola auf Cuadrado. Die drei zentralen Verteidiger suchten sich ihre Gegenspieler etwas flexibler, wobei Masiello die Aufgabe bekommen hatte, Dybala kalt zustellen, und dadurch regelmäßig weit im Mittelfeld zu finden war. Toloi und Caldara übernahmen abwechselnd Higuain, rückten aber auch immer wieder Mal auf Dybala vor.
Soweit die Ausgangssituation. Juventus, als überlegener Tabellenführer nach Bergamo gereist, war initiativ und versuchte das Spiel zu gestalten, musste nun aber Wege finden, diese extrem mannorientierte Defensive, wie man sie nur noch selten sieht, zu bezwingen. Dies stellte sich als ein äußerst schwieriges Unterfangen heraus.
Juventus begann die Partie ohne groß ersichtlichem Plan, wie man mit der Defensive des Gegners umzugehen hat. Higuain und Dybala hatten vor allem in der Anfangsphase viel zurückfallendes Movement, konnten sich dabei aber nicht von ihren Gegenspielern lösen, sich nach Zuspielen nicht aufdrehen und die Bälle auch sonst kaum brauchbar weiterverarbeiten. Die engen Deckungen hatten auch einige Fouls zur Folge und bereits nach der ersten Viertelstunde waren mehrere Spieler von Juventus davon bereits sichtbar genervt.
Durch Atalantas starke Orientierung an den Gegenspielern war die Orientierung an den Mitspielern geringer, was zur Folge hatte, dass die Abständen zwischen den Spieler größer waren und vor allem die vertikale Kompaktheit sehr schwach war – wobei es in den freien Räumen aber auch keine freien Spieler gab. Vor allem Abwehr und Mittelfeld agierten nahezu unabhängig voneinander, was oft in einem riesigen Zwischenlinienraum resultierte.
Die Manndeckungen von Atalanta waren recht strikt, wobei die Gegenspieler sehr weit, aber nicht überall hin verfolgt wurden. So unterschieden sich etwa die Mannorientierungen in Abwehr und Mittelfeld ein wenig. Das Zurückfallen von Higuain und Dybala wurde sehr eng verfolgt, so dass kein Aufdrehen innerhalb der Defensivformation möglich war. Bei Abkippen oder Herauskippen von Pjanic und Khedira wurde dagegen nicht mannorientiert nachgegangen und den Mittelfeldspielern wurde außerhalb des Defensivblocks Platz gegeben. Allerdings rückten Cristante und Freuler durchaus etwas mehr hervor, um nicht zu weit von ihren Gegenspielern entfernt zu sein, was den Zwischenlinienraum vergrößerte.
Die Schwarz-Blauen pressten in der ersten Halbzeit stets auf Höhe des Mittelkreises. Das Pressing war eher verhalten und es wurde nur wenig Druck auf die Innenverteidiger ausgeübt. Gomez arbeitete defensiv sehr gut mit und leitete den Ball oft von Bonucci, an dem er sich etwas stärker orientierte, auf Chiellini, welcher bekanntlich im Spielaufbau der schwächere der beiden Innenverteidiger ist. Chiellini versuchte immer wieder mit Ball am Fuß ein wenig vorzurücken, wobei Cristante dann aggressiv auf ihn herausschob. Cristante tat dies in einem hohen Tempo, aber keineswegs unbedacht. Bevor er das Pressing startete, vergewisserte er sich stets, dass ein anderer Spieler auf Khedira schiebt. Kurz nahm er Kontakt mit Toloi oder Gomez auf, die zumeist schnell reagierten und Cristante so den Rücken freihielten.
Juves Probleme in Ballbesitz
Stellt sich die Frage: Welche Mittel gibt es, um solch eine mannorientierte Defensive zu überwinden? Wesentlich sind etwa das Öffnen von Passwegen und dazu auch das Spiel über den Dritten, um den Ball auf Spieler in offener Stellung ablegen zu können. Generell lässt sich auch sagen: Extreme Defensivstrategien erfordern auch extremere Angriffsvarianten. Damit sind etwa stärkere Überladungen von bestimmten Zonen gemeint und weitläufigere Freilaufbewegungen, welche die Gegenspieler zwingt einen Spieler frei zu lassen oder ihre ursprüngliche Zone sehr weit zu verlassen. Interessant sind auch gegenläufige Bewegungen beziehungsweise Freilaufbewegungen entgegen der Dynamik des Angriffs. Positionsrotationen und Auftaktbewegungen sind ebenfalls Möglichkeiten, um sich entscheidende Vorteile gegenüber den Gegenspielern zu verschaffen.
Juventus probierte in der ersten Halbzeit durch die Positionierungen der Außenverteidiger die gegnerischen Mannorientierungen zu manipulieren. Diese waren zum Teil sehr tief, wobei sich ihre Gegenspieler nur ein wenig aus der Position locken ließen und dies nicht den gewünschten Effekt brachte. Zum Teil waren sie auch ganz hoch, wodurch sie ihre Gegenspieler mit nach hinten drückten und diese dadurch auf einer Höhe mit den Verteidigern agierten. Zudem arbeitete Juventus viel mit sehr tiefen Sechsern, wodurch der Zwischenlinienraum vergrößert und Passwege in die Spitze geöffnet wurden. Ein hin und wieder erfolgreiches Mittel stellten Dribblings dar, entweder durch aufrückende Läufe aus der Tiefe von den beiden Innenverteidigern oder Khedira, die Lücken in der gegnerischen Defensivformation anvisierten und sie einfach durchliefen, oder von Dybala, der sich vereinzelt mit Ball von seinem Bewacher lösen konnte.
Letztlich gab es aber durchwegs Probleme bei der Verarbeitung der Vertikalpässe. Der Angespielte hat immer einen Gegenspieler im Rücken und konnte sich kaum aufdrehen. Allerdings waren auch Ablagen nur selten möglich, da dafür die Positionierungen unpassend waren. Mandzukic und Cuadrado blieben zumeist sehr breit und in der letzten Linie, Ablagen von Higuain oder Dybala auf sie waren daher vom Passwinkel etwas schwierig und leicht abfangbar. Pjanic und Khedira waren häufig sehr tief und schafften es nicht rechtzeitig aufzurücken, um sich sofort wieder anspielbar zu machen. Ein gutes Spiel über den Dritten war so nur in wenigen Fällen zu sehen.
Starkes Rückwärtspressing
Beeindruckend war es aber auch, wie Atalanta auf diese Vertikalpässe in den Zwischenlinienraum reagierte. Sie schafften es nämlich ihre Mannorientierung mit großen Druck auf den Ball zu verbinden, was generell ein schwieriges Unterfangen ist bei solch einer Defensivstrategie. Dazu waren die sehr hohe Intensität (welche in der zweiten Halbzeit immer mehr nachließ) und auch die lockerere Deckung in ballfernen Räumen wichtige Punkte, vor allem aber das starke Rückwärtspressing der Mannschaft war wesentlich. Der Zwischenlinienraum war wie bereits angemerkt oft sehr weit offen, allerdings schien dies den Mittelfeldspielern auch bewusst zu sein. Nach Vertikalpässen durch das Mittelfeld hindurch, wurden die direkten Gegenspieler kurz ein wenig außer Acht gelassen und sehr schnell Richtung Ball geschoben. Dadurch blieben Rückpassoptionen auf die Verteidiger offen, allerdings schaffte es Atalanta durch dieses Rückwärtspressing sehr gut Überzahl in Ballnähe herzustellen und Bälle auch zu erobern. Hierbei muss auch nochmal die Defensivarbeit von Gomez als Stürmer lobend erwähnt werden.
Durch die Defensivstrategie von Atalanta entwickelte Juventus logischerweise eine recht hohe Dominanz. Zudem hatte Atalanta nur wenige saubere Balleroberungen, oft konnten sie den Ball nur wegspitzeln und er landete wieder beim Gegner. Trotzdem schafften sie es vereinzelt über Konter gefährlich zu werden, da sie nach Balleroberung einige enge Situationen gut auflösen konnten und schnell Gomez einsetzen konnten, der mit seiner Schnelligkeit und Stärke im Dribbling ein sehr starker Konterspieler ist.
Hatte Atalanta den Ball, so verteidigte Juventus recht passiv. Die Mannschaft von Allegri formierte sich in ihrem 4-4-2 und zeigte dabei ihre gewohnt gute Kompaktheit. Atalanta konnte aus dem Spiel heraus dennoch vereinzelt gefährliche Situationen erzeugen. Sie versuchten gar nicht den Defensivblock der Turiner irgendwie zu penetrieren, sondern legten ihren Fokus wie gewohnt auf das Flügelspiel. Wesentlich dafür ist üblicherweise die Raute zwischen Halbverteidiger, Flügelverteidiger, Sechser und Flügelstürmer.
Gegen Juventus gab es diese Raute etwas weniger zu sehen, da das Spiel am Flügel ein bisschen linearer war. Dafür sorgte Gomez noch für eine zusätzliche Überladung des Flügels, woraufhin der ballferne Flügelstürmer mehr ins Zentrum rückte. Interessant war auch, dass Cristante halbrechts meistens zwischen Toloi und Conti herauskippte und so eine Viererkette gebildet wurde. Mit einer starken Überladung von Flügel und Halbraum konnten auf Außen mehrere Durchbrüche erzielt werden und Hereingaben auf den eingerückten ballfernen Flügelstürmer und Flügelverteidiger gespielt werden.
Nach 45 Minuten konnte Atalanta mit 1:0 verdient in Führung gehen. Flügelverteidiger Conti konnte aus kurzer Distanz eine Flanke von Gomez verwerten. Daraufhin verteidigten die Hausherren in der zweiten Halbzeit etwas tiefer und das 5-4-1 wurde durch tieferer Positionierung von Gomez mehr zu einem 5-5-0. Juventus probierte nur wenig herum und Allegri schien überzeugt, dass sich die höhere individuelle Qualität schon noch durchsetzen sollte. Nur Khediras Rolle veränderte sich, sein Bewegungsspiel wurde weiträumiger und er wich mehr auf die Seite aus oder bewegte sich in die letzte Linie. Der Ausgleich fiel schließlich nach einem Freistoß, was angesichts der recht vielen Fouls auch kein Zufall war. Nach 83 Minuten konnte Juventus auch noch in Führung gehen, bekam aber kurz danach dennoch den Ausgleich zum 2:2-Endstand.
Fazit:
Atalantas Spiel mit extremen Mannorientierungen und einem starken Flügelfokus ist unüblich, aber sehr unangenehm zu bespielen. Die Defensivstrategie wurde mit hoher Intensität und guten Übergabemomenten ausgeführt und war vor allem dank des Rückwärtspressings effektiv. Juventus plagte sich trotz der viel besseren individuellen Qualität über die gesamte Spielzeit und konnte diese Manndeckungen nur selten gut bespielen – aus dem Spiel heraus konnten kaum Chancen kreiert werden. Nach dem ExpectedGoals-Modell hatte Atalanta sogar die etwas besseren Chancen (1.76 zu 1.31), was für das Team von Gasperini eine beeindruckende Leistung ist.
6 Kommentare Alle anzeigen
Chris 25. Mai 2017 um 00:14
Extrem gelungene Analyse! Danke!
August Bebel 3. Mai 2017 um 07:42
Schöne Analyse, vielen Dank! Ich hab Atalanta diese Saison nie gesehen und mich schon gefragt, was sie so erfolgreich macht, daher ist es sehr erfreulich, mal einen Einblick in ihre Spielweise zu bekommen.
Peda 2. Mai 2017 um 20:13
PS: wo bleiben meine Manieren…
alles Gute zum Debut, AB! 🙂
Da hast du dir die Latte ja gleich ganz schön hoch gelegt.
Peda 2. Mai 2017 um 16:07
Danke für die Analyse!
Das ist jetzt weniger eine Kritik, als eine Frage, die sich mir bei deiner Formuliernug aufgedrängt hat:
„Atalantas Spiel mit extremen Mannorientierungen und einem starken Flügelfokus ist unüblich, aber sehr unangenehm zu bespielen.“
Ich würde behaupten Atalante ist nicht trotz, sondern wegen der unüblichen Spielweise unangenehm zu bespielen. Ich mag mich täuschen, aber diese Verwunderung über funktionierende Manndeckung kam glaube ich schon öfter in Spielanalysen vor. Aber generell denke ich, dass „unübliche“ (sprich in Liga/Leistungsklasse/Bewerb selten angewandte) Strategien eher erfolgsversprechend sind, weil der Großteil der Gegner nicht daran gewöhnt um Idealfall – wie hier – auch nicht darauf eingestellt ist.
Die Raumdeckung konnte – stark verkürzt gesagt – die Manndeckung ablösen, weil sich damit die Defensivformation nicht mehr durch Laufwege willkürlich aufreißen ließ. Momentan ist eher Raumdeckung State of the Art, daher versuchen Offensivspieler sich zwischen die Linien und in den Schnittstellen zu positionieren, um Zuordnungsschwierigkeiten zu erzeugen. Wenn dir dann plötzlich einer ständig an den Fersen pickt, dann kann das schon eine harte Nuss sein und ist kollektiv während einer Partie nur schwer bis gar nicht zu lösen.
Oder wie seht ihr das?
AB 2. Mai 2017 um 20:13
Kurz gefasst: Stimme dir zu, gerade das Unübliche (und Extreme) macht es unangenehm zu bespielen. Meine Formulierung ist da nicht so ganz passend.
luckyluke 3. Mai 2017 um 09:36
Ich finde die Formulierung gar nicht so unpassend, weil für mich da irgendwie mitschwingt, dass diese extreme Spielweise auch schnell kippen kann, wenn an irgendeinem Punkt irgendetwas nicht mehr 100%ig passt, was solche extremen Spielweisen ja oftmals an sich haben (siehe Leverkusen diese Saison)…