Corinthians unter Tite 2015

Im vergangenen Dezember endete die Saison 2015 in der brasilianischen Liga. Der Titel ging verdientermaßen an die Corinthians unter Tite, die konstanteste und kompletteste Mannschaft des Wettbewerbs und einer der stärksten Meister der vergangenen Jahre. Grund genug für ein Teamporträt.

Rückkehren im Januar

Sport_Club_Corinthians_PaulistaManche hatten Anfang 2015 schon geahnt, dass es ein großes Jahr für die Corinthians werden würde. Zunächst kehrte Erfolgstrainer Tite, der spätestens seit dem ersehnten Gewinn der Copa Libertadores 2012 sowie dem umjubelten Klub-WM-Sieg gegen Chelsea im Anschluss von den Fans verehrt wird und schon seit einigen Jahren als einer der taktisch modernsten Coaches des Landes gilt, nach einer Pause zurück. Nicht, dass sein Vorgänger Mano Menezes enttäuscht hätte, aber Tite war dann für viele Beobachter noch einmal eine andere Nummer, in den man große Erfolgshoffnungen setzte.

Danach gab es ein gutes Omen – die Rückkehr der Corinthian Casuals. Diese 1939 aus einer Fusion von Corinthians FC und Casuals FC hervorgegangene Mannschaft spielt heute in der dreizehnten englischen Liga, doch ihr Vorgängerteam Corinthians FC wurde auf einer Südamerikareise im Jahr 1910 zur Inspiration für die brasilianischen Corinthians. Das Vorbild kehrte erstmals 1988 als Amateurteam nach Brasilien zurück und bestritt ein Testspiel gegen eine Ehemaligen-Auswahl der Corinthians. Diese Partie ist deshalb so bekannt, weil zum einzigen Mal die Vereinslegenden Sócrates und der zu jenem Zeitpunkt bereits nicht mehr aktive Rivelino gemeinsam in einem Team aufliefen.

Entsprechend genießt die Freundschaftsbegegnung in Fankreisen Kultstatus. In den letzten Minuten jener Begegnung tauschte Sócrates die Trikots und spielte für die Schlussphase bei den Casuals mit. Schließlich kam es im Januar 2015 zur Neuauflage der Begegnung in São Paulo, diesmal jedoch im Zuge der Saisonvorbereitung von Tites Team. Wirklich zu überzeugen wusste der Favorit gegen den tapferen unterklassigen Gegner nicht, hielt sich allerdings auch ein wenig zurück. Es war mehr ein Showevent, ein symbolischer Akt, den die Gastgeber letztlich noch mit 3:0 gewannen. Der besondere Anlass diente als Mut- und Hoffnungsmacher für eine große Saison.

Furioser Saisonbeginn

Als dann die Regionalmeisterschaft von São Paulo und die Qualifikationsrunde für die Copa Libertadores anstanden, schienen sich diese kleinen, leisen Träume zu erfüllen – die Corinthians starteten mit einer bemerkenswerten Frühform. Gegen den Ball hatten sie zügig das Grundniveau einer soliden, disziplinierten 4-1-4-1-Defensive erreicht und nach vorne zeigten sie sich angriffslustiger, als in anderen Phasen unter Tite. Sie waren über ihre gezielten Schnellangriffe sehr gefährlich und sorgten mit Dynamikkombinationen manches Mal für Spektakel.

Gerade gegen Mannorientierungen erwiesen sich ihre Bewegungsmuster als effektiv: Der jeweilige Neuner – teilweise spielte wie schon in Tites erster Amtszeit Mittelfeldroutinier Danilo in vorderster Front – fiel für Ablagen zurück, lockte die Gegner heraus und Emerson Sheik von links sowie vor allem Elias von der Achterposition attackierten die Lücken. Das war jeweils in abgestimmt choreographierte Spielzüge eingebettet und sorgte mehrfach für ansehnliche Kombinationen – am deutlichsten beim Derbysieg gegen São Paulo beim ersten Tor. Überhaupt gab es einige beeindruckende Angriffe, die in schönen Treffern mündeten.

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Das 1:0 gegen Sao Paulo und deren Mannorientierungen: Elias lässt den diagonalen Pass von Fágner auf Danilo durchlaufen und erhält von diesem eine kurze Ablage (schwarze Pfeile). Anschließend spielt er diesem den Ball direkt wieder quer (blau), woraufhin Danilo auf den mittlerweile nachgerückten Jádson ablegt (grau). Danilo hat die Innenverteidiger herausgezogen, Elias attackiert die Lücke und erhält von Jádson nach der Ablage das Zuspiel in den Lauf. (In der Dynamik zum Tor hin – in einer Grafik nur schwer darstellbar – verschieben sich die Spieler nach hinten, so dass der Pass letztlich in den Strafraum hineingeht und Elias dort volley aus etwa 12 m einschießen kann.)

Nach nur vier Spielen in der Copa Libertadores hatten die „Timão“ mit vier Siegen – unter anderem gegen Titelverteidiger San Lorenzo aus Argentinien – bei bloß einem Gegentor das Weiterkommen bereits sicher. In dieser Phase gehörten sie zu den absoluten Top-Favoriten auf den Titelgewinn und in mancher Berichterstattung ging es nicht mehr um Siege, sondern darum, ob die Corinthians die beste Gruppenphase aller Teilnehmer abliefern würden oder jemand anderes. Gleichzeitig marschierten sie ungeschlagen durch die Campeonato Paulista, waren in den großen Derbys sehr erfolgreich und galten auch hier als erster Titelfavorit.

Von der „besten Mannschaft Brasiliens“ in die „Krise“ und wieder zurück

Doch nach diesem herausragenden Start begann ab Ende April eine kleine Krisenphase, die vor allem im Mai besonders heftig ausfiel und im Endeffekt sowohl die Titelchancen in der Regionalmeisterschaft als auch in der Copa Libertadores zunichtemachte. Dort hatte sich die Mannschaft im Achtelfinale gegen den unangenehmen Außenseiter Guaraní aus Paraguay die Zähne ausgebissen. Insgesamt zeigten sich die Pressestimmen verwundert über diesen Leistungsabfall der Mannschaft, die zwar tatsächlich nicht mehr so stark war, aber auch ein wenig unter Wert geschlagen wurde.

Es handelte sich bei diesem „Absturz“ um ein Gemisch von Faktoren in zahlreichen Bereichen, in denen das Team jeweils ein wenig schwächer war als zuvor – was sich dann in der Kombination bemerkbar machte. Zudem ballten sich in dieser Phase – speziell auch im Anschluss zum Start der Ligasaison – viele der starken Gegner genau in dieser Phase. Die kleine Krise fiel zusammen mit gewissen personellen Problemen und Umbrüchen: So langsam deutete sich der Abschied Guerreros an und zwischenzeitlich musste man wegen der Copa América auf Elias verzichten.

Zudem gab es kleinere Verletzungssorgen und die Suche nach der richtigen Besetzung für den linken Offensivbereich dauerte an, nachdem Emerson Sheik immer mehr aus der Mannschaft rutschte. Vieles, was die Mannschaft im erfolgreichen Verlauf der brasilianischen Meisterschaft bis zum Jahresende ausmachen sollte, deutete sich auch hier schon an oder war grundsätzlich vorhanden, aber noch nicht so stark ausgebildet und stabil. Das betraf beispielsweise die Ballzirkulation, die oft nur punktuelle Dominanz aufzubauen wusste und aus der phasenweise zu hektisch und frühzeitig die Tiefe gesucht wurde.

Als gegen Guaraní in der Libertadores einen Rückstand aufgeholt werden musste, merkte man gewisse Unsicherheiten in der Performance des druckvollen Rhythmus und der klaren Ballbesitzdominanz. Die Corinthians spielten manchmal zu zögerlich in Freiräume oder versuchten diese nur schematisch mit einzelnen Spielern zu besetzen, fokussierten aber nicht dynamisch genug die Anschlussunterstützung in die Zonen herein, sondern waren intuitiv zu sehr auf sichere, ausgewogene Besetzung darum herum eingestellt. Generell lief das Einrücken Jádsons noch nicht so harmonisch ab und war zu stark auf den Zehnerraum alleine fokussiert.

Insgesamt verlor sich dadurch gelegentlich die ausgewogene mannschaftliche Präsenz in halbrechten Bereichen, weshalb Fágner im Aufbau etwas leichter isoliert werden konnte. So entstanden einige Ballverluste, die mit geringerer Gesamtabstimmung nicht so gut gegengepresst oder überwunden werden konnten, wie in späteren Phasen. Überhaupt wurden die beiden Außenverteidiger zu diesem Zeitpunkt noch etwas stärker – teils effektiv einleitend wie beim Treffer gegen São Paulo, teils aber etwas unbalanciert beispielsweise mit zu vielen Flügellinienpässen – eingebunden und schulterten für das Aufrücken dann zu viel Last und Verantwortung.

Gegen den Ball hielten die Corinthians sich mit gelegentlichen Angriffspressingphasen, die in der Ligasaison oft zum richtigen Zeitpunkt eingestreut werden würden, zurück, bis auf das Rückspiel gegen Guaraní. Es überwog das mit Mittelfeldpressing verbundene 4-1-4-1, welches jedoch gelegentlich mechanischer ausgeführt wurde. Die Herausrückbewegungen gestalteten sich noch nicht so harmonisch und so wirkten die gelegentlichen Umformungen ins 4-3-2-1 bisweilen etwas plump, zumal überhaupt die Kohärenz innerhalb des Mittelfelds phasenweise etwas instabil, inkonstant und nachlässig war.

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Heimniederlage am 4. Spieltag im Klassiker gegen Palmeiras: In dieser Szene, die dem 0:1 vorausging, sieht man die noch schwächere Mittelfeldeinbindung. Die Außen agieren noch mit eher unflexiblen losen Mannorientierungen, Renato Augusto bleibt passiv und letztlich sind die beiden Sechser für Palmeiras´ Einleitungsversuche recht einfach in zentrale Unterzahl zu bringen.

Zwar überzeugte die Abwehrreihe bereits mit horizontaler Dichte, während die anschließenden Mittelfeldverschiebungen immer mal gute Staffelungen erzeugten. Doch fand das alles noch nicht so intensiv und abgestimmt statt, so dass die sich bildenden situativen Lokalkompaktheiten etwas inkonsequenter waren, als man es später sehen würde. Das galt ebenso für die Einbindung mannorientierter Herausrückbewegungen der Außenverteidiger. Schließlich war die Rückwärtsbewegung zum Strafraum hin zwar gut, aber noch nicht so stabil, wie überhaupt der Zugriff – generell im Mittelfeld – teils leicht unscharf daherkam.

Zum Ende der Copa-Gruppenphase konnte São Paulo das ausnutzen: Sie ließen den Ball lange laufen und bereiteten ihre Szenen sehr klar vor, um dann geradlinige Flügelangriffe gegen die passive Grundstrategie der Corinthians zu fahren und deren Strafraumverteidigung mit einzelnen Bewegungen zu überraschen. Am vierten Ligaspieltag ging auch das nächste Derby gegen Palmeiras verloren, die aus einem 4-3-1-2/4-3-3-0 heraus verschiedene situative kurzzeitige Ballungen am Flügel um die hohen Außenverteidiger erzeugten und die in dieser Partie eher instabile Struktur in Tites Team desorganisierten.

Da es sich bei dieser „Krise“ insgesamt um viele kleine Faktoren, teils unglückliche Verkettungen und personell bedingte Einwirkungen handelte, konnte sie auch genauso schnell wieder überwunden werden, wie sie gekommen war. Nach dem enttäuschenden Aus in Copa und Paulista folgte der durchwachsene Ligastart – doch dann kamen die Corinthians wieder in die Spur. Es zeichnete sich eine neue Offensivbesetzung mit dem jungen Malcom auf der linken Seite und Neuzugang Vágner Love in der Spitze ab, die vorderen Bewegungen wurden harmonischer, die Defensive abgestimmter, die generellen Abläufe synchronisierter.

Kurz vor dem Ende der Hinrunde übernahmen die Mannen von Tite dann irgendwann die Tabellenspitze von Atlético Mineiro, setzten sich immer mehr ab und gaben ihren Vorsprung – letztlich über zehn Punkte betragend – nicht mehr her. Drei der fünf Saisonniederlagen hatte es bis zum achten Spieltag gegeben, ehe spätestens ab Juli einige längere Siegesserien folgten und dabei immer deutlicher wurde, dass die Corinthians das beste und kompletteste Team der Liga waren.

Konstanz und Ausgeglichenheit

tites corinthians 2015So sollten Konstanz und Ausgeglichenheit zu wichtigen Pfeilern werden, die sie von der Konkurrenz abhoben – typische Charakteristika für ein Tite-Team. War dies zuvor häufig mit enormer defensiver, arbeitsamer Stabilität und teilweise einer abwartenden, reaktiven Konterhaltung verknüpft worden, stellte die geschickt organisierte, anpassungsfähige Verteidigung, die 2012 durch verschiedene Anordnungen und einzelne leitende Elemente besonders geglänzt hatte, diesmal aber nicht mehr so sehr das absolute Kernmerkmal des Teams dar.

Sie hatte weiterhin einen wichtigen Stellenwert, aber es gab nun mehr Spektakel und Offensivdrang, so dass die Defensive nicht mehr so eindeutig im (öffentlichen) Fokus stand, weniger auffiel – das Angriffsspiel machte mehr Eindruck. Formativ traten die „Timão“ in einem 4-1-4-1 mit 4-2-3-1-haften Elementen an, das gegen den Ball durch das Vorrücken der Achter auch mal in breite 4-3-2-1-Staffelungen übergehen konnte. Insgesamt zeigten sich die Corinthians – in Tites fast typischer Manier – als pragmatische und mit einer angenehmen Art von Solidität ausgezeichnete Mannschaft.

Sie hatten zwar einige dominante Auftritte, einige Phasen mit gepflegtem Aufbau und guten Zirkulationsmomenten, aber waren kein wirkliches Ballbesitzteam, sondern vor allem auf Effektivität, Ertrag und einzelne Momente ausgerichtet. Mit ihrer soliden Stabilität und ihrer Ausgewogenheit – zwei maßgebliche Kennzeichen – erreichten sie immer ein gewisses Grundniveau. Sie agierten flexibel und beweglich, mit diagonalen Elementen in allen Spielphasen, bildeten viele Dreiecke. Schließlich zog sich eine angenehme Ruhe durch ihre Aktionen und Abläufe – ein wichtiges Element, das gerade für die Ballbesitzphasen nochmals wichtiger war.

Tiefe Aufbaupräsenz, gerade halbrechts

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Schematische Darstellung für das Aufrücken aus dem Aufbau: Ralf rückt vor und öffnet dem zurückfallenden Renato Augusto Raum. Gegen die Orientierung des Gegners auf diese Situation erfolgt die Verlagerung zum Außenverteidiger, dem Jádson seitlich raumöffnend zu helfen versucht, um dann eine tiefe Anspielstation zu geben.

Ohne das ganz konsequente und weiträumige Auffächern erzeugten sie ausgewogene, kohärente Grundstellungen für den Aufbau und ließen den Ball sauber laufen. Während der linke Achter situativ auswich, um Raum zu schaffen oder sich mal seitlich anzubieten, lag der Fokus in diesen tieferen Zonen stärker halbrechts. Sowohl Elias als auch Jádson zeigten situative Zurückfallbewegungen, um im Halbraum den Aufbaubemühungen zu helfen. Das brachte dem Team eine gute, kompakte Präsenz in diesen Räumen. Zudem sollten diese – manchmal allerdings schon zu konstanten – Bewegungen bei losen Mannorientierungen einzelne Gegner herausziehen oder allgemein anlockend-raumöffnend dienen.

Gerade in Zusammenhang mit einzelnem kurzem Aufrücken – entweder vorschiebend von Ralf oder einem bereits zuvor nach hinten gegangenen und sich dann wieder lösen Offensivmann – sollte auf diesem Wege das dynamische Aufrücken erleichtert werden. Das Vorrücken des Mitspielers konnte den Raum etwas freidrücken, um sich aufzudrehen. Anschließend folgten kurzes Andribbeln – Ralfs Vorschieben öffnete gute Möglichkeiten zum Vorlaufen – oder, gegen die gegnerische Aufmerksamkeit auf die zentralen Umschiebungen, Verlagerungen nach außen, wo dann der Außenverteidiger schnell mal eine Linie überwinden sollte. Schließlich war gerade Jádson mit seinen Dribblings und öffnenden Pässen nach halblinks oft ein wichtiger Schlüssel für die Übergänge nach vorne.

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Die folgende Szene stammt aus dem Spiel bei Atlético Mineiro Anfang November, dem vorentscheidenden Spitzenduell um den Titel. Mit einem 3:0-Erfolg konnten die Corinthians ihren Vorsprung gegen den ärgsten Verfolger, der auf zwei Punkte hätte verkürzen können, ausbauen und setzten einen wichtige Schritt zum Titel. Hier eine Szene kurz vor der Halbzeit: Jádson fällt im Aufbau zurück und kurbelt an. Hier spielt er einen kurzen Pass auf Ralf, der das Leder liegen lässt, und geht nach. Anschließend verlagert Jádson aufrückend nach links und bewegt sich – nachdem diese Aufgabe geschultert ist- ebenfalls mit herüber.

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Direkt im Anschluss an obige Grafik ergibt sich übrigens diese Anordnung – Jádson hilft weit auf links. (Zu bedenken ist hier, dass Atlético aufgrund einer Verletzung kurzzeitig zu zehnt spielte, die grundlegende Logik und Methodik des Vorgehens der Corinthians lässt sich aber trotzdem gut abbilden.)

Ein nettes Video mit einem weiteren, wenngleich etwas unsauberen Beispiel findet sich hier, erstellt von einer Taktikkolumne einer brasilianischen Webseite.

Gesamtmannschaftlich gab es viele Szenen, in denen spontan und plötzlich, allerdings teilweise auch unstrategisch und vorschnell der Wechsel zum Vorwärtsspiel gesucht wurde. So gab es manchmal zu frühzeitige Pässe aus den hinteren Bereichen auf einzelne sich zurückfallend anbietende Mitspieler. Diese befanden sich lokal aber noch in Unterzahl und konnten noch nicht präsent genug unterstützt werden. Mit den individuellen Qualitäten Vágner Loves, der als ballhaltende Anspielstation für einige Übergangsmomente wertvoll war, ließ sich das ein wenig auffangen, wenngleich nicht komplett. Trotzdessen zahlten sich die verschiedenen Rückfallbewegungen im Offensivsystem aus, federten sie doch – weil umfassend genutzt – konkret wiederum jene Problematik ab:

Misslang das frühe Zuspiel auf den zurückfallenden Mittelstürmer oder den Linksaußen, verblieben nach der tiefen Einbindung beispielsweise von Jádson und einigen anderen hinter dem Ball trotzdem noch viele Spieler für ausreichend Präsenz. Insgesamt brauchten die Corinthians auch nicht immer die ganz große Erfolgsstabilität im Vorwärtsspiel, riskierten aufgrund ihrer guten Absicherung in den Übergangsmomenten mal schnelle, nicht ganz sichere Aktionen oder sehr dynamische Kombinationen. Schmerzlose Ballverluste, die sie bloß etwas nach hinten drängten, nahmen sie durchaus in Kauf mit der Aussicht, dass sich andererseits vielleicht ein guter spielerischer Ansatz für einen Schnellangriff oder eine Aufrückmöglichkeit zur Folgeorientierung ergeben könnten.

Kluge Abläufe mit Plan und Konsequenz

Im besten Fall entwickelten sich durch ihre konsequente Dreiecksbildung bisweilen herausragende Kombinationen durch das Zentrum über die spielstarken Offensivakteure des Teams, insbesondere Elias, Jádson und Renato Augusto. Ansonsten waren Flügelüberladungen mit geduldigen Passwahlentscheidungen, schnelles und schematisches Raumöffnen durch einrückende Bewegungen oder Direktangriffe mit plötzlichen und vielseitigen Bewegungsmustern in Übergangsräumen wichtige Stärken der Corinthians. Hier zeigten sie sich bisweilen sehr stark, generierten ansehnliche Szenen und belohnten sich für die guten taktischen Elemente ihrer Ausrichtung.

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Erneut ein Beispiel aus dem Spitzenspiel bei Atlético Mineiro, deren lose Mannorientierungen hier mit Rochaden bespielt werden: Malcom fällt ein wenig zur Seite zurück, zieht seinen Gegner heraus und öffnet den Raum für Renato Augustos Lauf nach außen. Dieser sichert nach der Flügelrochade den Ball und dreht sich Richtung Mitte. Da Malcom breit bleibend nachrückt, kann er den Halbraum ein wenig öffnen, in den Guilherme Arana mit einem Diagonallauf wiederum nachstößt und das Leder zurückerhält.

Beispielsweise ließen sich die gegenläufig rochierenden Bewegungsmuster von Achter und offensivem Flügel gut gegen Mannorientierungen verwenden, um dann gruppentaktische Szenen zum Ausspielen zu erzeugen. Fiel einer der Außenspieler etwas nach hinten, brachte der Achter vorstoßende Diagonalläufe an. Das Muster konnte man auch bei Schnellangriffen einsetzen und gegebenenfalls um weitere Elemente ergänzen. So rückte beispielsweise ein Flügelspieler bei schnellen Direktpässen dynamisch in die Mitte, zog zur anderen Seite und suchte dort mit den rochierenden Kollegen eine Überladung.

Bei unangenehmen Szenen am Flügel wich häufig Vágner Love direkt sehr weit nach außen aus, zog den Innenverteidiger mit und bot dort eine klare Anspielstation, während die nahen Offensivspieler sich für schnelle Horizontalweiterleitungen in den Zwischenlinienraum anboten, der im besten Fall noch etwas geöffnet worden war. Das waren allesamt keine bahnbrechenden oder besonders kreativen Abläufe und Staffelungsbildungen, aber jeweils konsequent und taktisch klug umgesetzt, und in dieser systematischen Konsequenz und der eigentlichen Solidität durch die harmonische, spiel- und gruppentaktisch starke Ausführung doch wieder ansehnlich und ästhetisch.

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Sehr bewusst und konsequent genutzt wurde das Ausweichen von Vágner Love beispielsweise bei Einwürfen, die dadurch deutlich effektiver wurden. In dieser Szene aus dem Heimspiel gegen Flamengo wird durch das Ausweichen Raum zwischen den Innenverteidiger geöffnet, den Jádson attackiert. Vágner Love bedient ihn mit guter Weiterleitung…

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…und daraus entsteht diese Szene: Jádson hatte den Durchbruch abgebrochen, verzögert und dann – prinzipiell nadelspielernd – beim Nachrücken der Gegner per Hacke wieder den einrückenden Vágner Love im freiwerdenden Rückraum bedient. Dieser bediente Renato Augusto, startete in die Tiefe für den Doppelpass und wäre nach anschließender Weiterleitung des ebenfalls einrückenden Malcom fast durchgekommen.

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Eine ähnliche Einwurfszene auch noch aus dem Spiel bei Atlético Mineiro: Diesmal attackiert Renato Augusto die Lücke, der dann versucht, zwischen Innen- und Rechtsverteidiger auf Jádson durchzustecken. Das gute und energische Rückwärtspressing Luans trägt jedoch entscheidend zur Störung dieses Spielzugs bei, so dass Marcos Rocha den letzten Pass einrückend abfangen kann.

Viele Überladungen links, aber auch mal rechts

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Mögliche Bewegungsmuster und Grundpositionierungen bei den Linksüberladungen nach Jádsons Einrücken

Gerade die weit einrückenden Bewegungen Jádsons von rechts wurden im Laufe der Saison immer mehr zum dauerhaften und bestimmenden Mittel für die Angriffsstrukturen der Corinthians. Von dieser Basis aus suchten sie gerade über halblinks lokale Überladungen zu generieren. Häufig schob dann Malcom hoch an der letzten Linie etwas zur Mitte in eine Halbposition ein und überließ den tieferen, diagonal versetzt agierenden Mittelfeldkollegen die Halbraumbereiche. Entsprechend schob sich auch Vágner Love horizontal etwas weiter und nahm in manchen Phasen eine ballfern ausweichende Rolle ein.

Dabei wartete er klug auf den richtigen Moment, setzte sich zunächst gar nicht so sehr ab, suchte aber explosiv genau dann die Breite, wenn Überzahl erzeugt, die Abwehrkette angelockt und damit von ihm weggezogen wurde. Das Siegtor im Heimspiel gegen Flamengo, das auch die gegnerischen Mannorientierungen knackte, funktionierte so.  Derartige Angriffsabschlüsse mit vorheriger Verlagerung waren nicht unbedingt die Regel, sondern zunächst versuchten die Corinthians ihre zum Teil sehr klaren Flügelüberladungen etwa in jener Grundzone auch durchzuspielen und den Raumwechsel eher als Alternative zu nutzen.

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Das Siegtor im Heimspiel gegen Flamengo bespielt einerseits die Mannorientierungen des gegnerischen Mittelfelds (vor allem der Sechser mit dem dunkelblauen Kreis) und zeigt andererseits das Einrücken der Flügel sowie das Absetzen Vágner Loves. Von rechts schiebt Jádson in der Dynamik enorm weit zur Mitte, wo ihm der ausweichende Elias und der zurückgefallene Renato Augusto Raum öffnen. Letzterer bedient ihn per Pass. Als Elias´ Gegenspieler die Mannorientierung aufgibt, um einzugreifen, kommt er knapp zu spät. Jádson nimmt durch kluge Ballmitnahme den herausrückenden Innenvertediger aus dem Spiel und bedient den mittlerweile ebenfalls einrückenden Malcom – nicht plump in die Spitze starten, sondern hier geschickt den horizontalen Raum ausnutzend – per Außenrist. Damit ist auch der andere Innenverteidiger in Unterzahl gebracht und wird mit einem schnellen Querpass auf den seitlich wartenden Mittelstürmer überspielt.

Alles in allem gestalteten sich die Überladungsversuche in ihrer Anordnung flexibel und komplett, fanden einige Male auch im rechten Halbraum um Elias und dem dann ebenso mit herüber schiebenden Renato Augusto statt. Zumal konnte hier Vágner Love noch Unterstützung bieten, der halbrechts präsenter eingebunden wurde als bei den Versuchen auf der anderen Seite. Er ließ sich häufig etwas zurückfallen und bot Elias nach einleitenden Aktionen aus herausgekippter Position im Halbraum eine Anspielstation. In diesen Fällen suchte Jádson eher den diagonalen Durchbruchslauf, band sich nur vereinzelt tiefer ein.

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Das letzte Saisonspiel zuhause gegen Avaí: Erneut ist Vágner Loves Zurückfallen wichtig, hier für die von Elias gestartete Halbraumkombination. Malcom verzichtet nach dem erfolgreichen Eindringen in den Zwischenlinienraum auf das Mitspielen, sondern orientiert sich diagonal in die Spitze. Elias dribbelt bis kurz vor die Strafraumgrenze und steckt dann durch. Der Keeper kann Malcoms Abschluss zur Ecke abwehren.

Zugriff und Absicherung durch Komplettheit und Wühlen

Bei alledem waren die Corinthians durch die Qualität ihrer taktischen Solidität immer in der Lage, auf diverse Situationen vielfältig schnell Zugriff zu erzeugen und so Tore potentiell auch mal erzwingen zu können. Ging es in Richtung Strafraum, erhöhten sie ihre anfangs noch recht niedrige Präsenz schrittweise und organisierten dieses Nachrücken ausgewogen, anpassungsfähig und harmonisch. Sie hatten häufig noch Vorstoßmöglichkeiten aus der Tiefe, um auf die Szenen zu reagieren, so dass letztlich oft sogar viel Präsenz an der letzten Linie entstand. Beim Ausspielen etwaiger Szenen war dann schließlich wieder ihre Ruhe wichtig.

Einerseits wurden sie vorne dann nicht hektisch, sondern behielten den Überblick und nutzten sich bietende Räume pragmatisch aus. Gab es Möglichkeiten im Rückraum, suchten sie dort konsequent Abschlüsse oder Ablagen. Hatten sie sich irgendwo verfangen, dachten sie nicht selten auch an die Rückzirkulation, ließen den Ball nochmals kurz laufen und brachen dann notfalls per Verlagerung durch. Andererseits scheuten sie sich – im Verlauf der Saison immer besser werdend – nicht vor engen Situationen, sondern spielten einfach gezielt dort durch – im Vertrauen auf die individuelle Qualität, ihre Bewegungsmuster und mit der Prämisse, bei Misserfolg die Präsenz sofort zum Gegenpressing oder anschließenden Wühlen zu nutzen.

Oft konnten sie sich mit ihren kombinationsstarken Spielern somit improvisiert irgendwie durch unübersichtliche, vielbeinige Szenen bringen und erreichten einen hohen Anteil scheinbar glücklich laufender Schüsse oder Rebounds. Diese erwähnten wühlenden, erzwingenden Engen unterstützten zusätzlich die Absicherung, die ansonsten in den weniger präsenten Szenen – gerade im zweiten Drittel und den Übergangszonen – davon lebte, dass durch die verschiedenen Zurückfallbewegungen oft genügend Spieler hinter dem Ball standen. Gelegentlich schob bei Übergangsmomenten beispielsweise einer der Offensivspieler mal zurückbleibend in den Raum neben dem Sechser.

Das Gegenpressing gestaltete sich aus diesen Gründen bewusst und ausgewogen und war von der allgemeinen, kompletten Stabilität des Teams geprägt, so dass die Corinthians hier ein weiteres Dominanzwerkzeug hatten. Methodisch überzeugte vor allem der Fokus auf die direkte Zentrumsverstellung, für deren Umsetzung manche potentielle Zugriffschancen ausgelassen und durch passives Lenken nach außen ersetzt wurden. Letztlich half die solide Gegenpressing-Qualität der Mannschaft gleichermaßen bei losen Bällen im Mittelfeld bzw. vergleichbaren Szenen, auf die der Meister mit seiner gruppentaktischen Stärke oft im richtigen Moment den nötigen Zugriff zu entwickeln vermochte.

Konkret zur Offensive lässt sich abschließend festhalten, dass sie so herausragend viele Tore mit 71 Treffern in 38 Partien – also einem Schnitt von unter 2,0 – eigentlich gar nicht erzielten, zumal bei einigen hohen Ausreißersiegen. Stets machten Standards, Schnellangriffe und Konter ihren Teil aus, ebenso wie einzelne Anpassungen und die gute Dribblingnutzung zu bedenken sind. Wenngleich Umschaltszenen viel weniger wichtig waren als in Tites voriger Amtszeit, wurden sie recht klug ausgeführt: Nach einem Ballgewinn wurde nicht direkt in die Tiefe gestartet, sondern dem Eroberer des Leders erst eine zurückfallende Passoption gegeben, dessen Ablage dann erst das Signal zur Konterbewegung war.

Häufig gute und anpassungsfähige Staffelungsverteilung

Weiterhin gehörte – auch wenn sie im Vergleich zu offensiven Glanzpunkten in der Wahrnehmung nicht mehr so exponiert daherkam – die Defensive der Corinthians unverändert zu einem wichtigen Prunkstück. In Sachen Kompaktheit waren sie – wie schon in Tites erster Amtszeit, abgesehen jeweils vom starken Zuschieben im Abwehrdrittel – nicht immer herausragend, aber doch gut, in Grundsauberkeit, Anpassungsfähigkeit und Staffelungsverteilung sehr gut. Überhaupt war Letzteres ein wichtiges Stichwort für das System der Mannschaft: Sie verteilten sich situativ klug im lokalen Raum und verstellen balanciert die wesentlichen Verbindungsräume und Optionen mit Dynamikmöglichkeit.

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Kluge und solide Staffelungsverteilung für die jeweilige Situation. Als der Gegner in die scheinbare Lücke spielt, erfolgt – unter anderem durch Renato Augustos Zurückfallen – ein leichtes Zusammenziehen, das Hektik erzeugt. Der folgende Querpass landet bei Elias.

Dabei blieben sie passiv und abwartend, erhöhten vielleicht punktuell mal die horizontale Kompaktheit und warteten auf hektische gegnerische Aktionen, die sie abfangen konnten, oder andere antizipative Erfolge. Diese Staffelungs- bzw. Positionierungsverteilung befand sich häufig auf hohem Niveau und zeigte die hohe gruppentaktische Abstimmung der Akteure in solchen Bereichen. Sie entschieden passend, welche Lücken gestopft werden, mit welchen Bewegungen welches Dreieck gebildet und wie gegnerische Zwischenverbindungen gekappt werden sollten. Im Mittelfeld gab es verschiedene Bewegungsmuster, bei denen häufig Ralf frühzeitig auch mal zurückfiel, um die letzte Linie zu stärken oder aufzufüllen.

Manchmal kamen umverteilte Staffelungen vor, wenn mal ein Achter hinter einem Flügelspieler breiter ging, der Sechser die Achter in diagonale Anordnungen „überrückte“ oder ein Außenspieler für die konkrete Zugriffssituation oder nur das Raumstopfen stärker nach hinten arbeitete. Gelegentlich boten sie mal etwas Raum an, um dann erst bei gegnerischer Dynamikaufnahme oder der Notwendigkeit Zugriff zu suchen. Dafür wich die letzte Linie – sowohl bei gut zugeschobenen als auch schwächeren, unsicheren Staffelungen – oft passiv-kohärent zurück anstatt dem Gegner durch einzelnes Herausrücken einen Aufhänger zum Ausspielen zu geben.

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Eine weitere Szene aus der Partie wie auch schon in der obigen Grafik, dem Auswärtssieg bei Flamengo. Hier reagieren die Corinthians klug auf eine sich ergebende Umschaltsituation. Bruno Henrique und Malcom bewegen sich im entscheidenden Moment so, dass sie mit einem zusätzlichen Schritt den gegnerischen Querpasskanal absperren können. Stattdessen muss der Ballführende etwas nach außen abdrehen, befindet sich dort gegen die zurückrückenden Mannen von Tite jedoch in Unterzahl. Flamengo versucht seitlich durchzubrechen, doch Uendel kann den Gegner ablaufen.

Häufig funktionierte die Strategie, der Gegner wurde stattdessen gegen dieses Abwarten hektisch und voreilig. Problematisch konnten jedoch mal Szenen werden, in denen die Corinthians nach einem zentralen Vorwärtspass im zweiten Drittel zunächst passiv blieben, aber leicht überspielt wurden, der Gegner dann vor der Rückzugsbewegung direkt schnell nach außen verlagerte. Bei guter Dynamik ergaben sich neben den Außenspielern gelegentlich Halbraumzwischenlücken, zumal wenn die angreifende Mannschaft dies mit einem rückstoßenden Achter oder einer seitlichen Zehnerrochade verband oder bei den Corinthians selbst das Zurückfallen Ralfs nicht optimal eingebunden wurde.

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Eine der seltenen Problemszenen, hier aus der Partie bei Atlético Mineiro: Die Flügelspieler wurden nach außen gelockt, die Achter sind noch nicht nachgeschoben und auch die Synchronisation zwischen Felipe Monteiro und Ralfs unterstützendem Zurückfallen passt nicht. In der Zwischenlücke setzt sich Dátolo ab und erhält den Ball. Normalerweise hätten die Corinthians in Überzahl die Szene zuschieben können, doch Rodriguinho ist etwas zu weit weg und der Rechtsverteidiger schiebt ein wenig zögerlich ein. So kommt Dátolo „nur“ in ein 1gegen2, das er geschickt für sich entscheidet. Am zweiten Pfosten verpassen seine Mitspieler die scharfe Hereingabe nur denkbar knapp.

Potentielle Lokalkompaktheiten am Flügel

Abgesehen von solch seltenen Lücken neben dem Mittelfeld war das tiefe Zuschieben am Flügel normalerweise aber gerade eine der großen Stärken der Corinthians. Zum Übergang ins eigene Drittel zeigten sie häufig ein kluges Zusammenziehen und enge horizontale Abstände, so dass sich so manche Lokalkompaktheit ergab. Vereinzelte herausrückende Bewegungen aus der Abwehrreihe wurden von Ralfs Zurückfallen abgesichert, doch im Regelfall trug das Mittelfeld diese Szenen vielmehr über seine – teilweise bei tendenziellen 2-1-Staffelungen noch etwas verstärkt – sehr gute Positionsfindung selbst.

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Erneut das Auswärtsspiel bei Flamengo, hier mit gutem Zuschieben am Flügel, speziell die Sechser der hier 4-2-3-1-artigen Anordnung schieben weit herüber. Die gegnerischen Gefahrenoptionen sind versperrt. Interessanterweise wird der eigentlich geschlossene Pass (blau) auf Marcelo Cirino sogar zugelassen, aber nur so, dass kein Durchbruch möglich ist. Stattdessen versucht man diesen dann mit passivem Rückzug noch weiter vom Tor wegzudrängen.

Diese lokalkomprimierten Szenen – zu den besten Momenten des Teams gehörend – waren immer mal von mannorientierten Elementen durchzogen, halfen andererseits aber stets als Basisrahmen, um Mannorientierungen besser und harmonischer ausführen zu können. Beispielsweise ließ sich das Herausrücken der Außenverteidiger gegen leicht zurückfallende Bewegungen des Gegenspielers zur Mitte in diese stabilen Grundstaffelungen vernünftig einbinden. In solchen Fällen wurde die Verfolgung des Gegners in die hergestellte und dann potentiell nochmals verengte Lokalkompaktheit hineingezogen.

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Das Mittelfeld schiebt am Flügel zu, Ralf sichert ab. Zur Veranschaulichung des folgenden Textabsatzes: Linksaußen Lucca bleibt mannorientiert tief, ist aber abgesichert, Uendels Herausrücken verengt die ballnahe Situation zusätzlich und kann dort gut aufgefangen werden.

In den entstehenden seitlichen Lücken gab es von den offensiven Außenspielern meist eine Mischung aus loser, absichernder Mannorientierung und angedeuteter Raumfüllung. Dies war bisweilen etwas instabil, doch auch hier zeigten die gruppentaktischen Mechanismen ein gutes Gespür für das Gefahrenpotential von Szenen. Durchbrechende Pässen waren für die Gegner oft nur schwierig zu spielen, das eigene Mittelfeld hatte – gerade durch Ralfs diagonale Positionierungen nahe der Schnittstellen – potentielle Zugriffsmöglichkeiten und die Innenverteidiger schoben oft im richtigen Moment gegen Zuspiele nach außen.

Wie sich die Einzelspieler einfügten

Taten sich also überhaupt mal gewisse Lücken – ob nach solchen Szenen oder generell – in ihrer Spielweise auf, rückten die zentralen Defensivakteure aufmerksam, mit gutem Timing, mannschaftlich abgestimmt und recht schnell wieder nach. Musste man beispielsweise diagonale gegnerische Läufe zur Grundlinie zulassen – ebenso wenn gerade außen nicht gedoppelt werden konnte – verfolgten die herausrückenden Innenverteidiger diese nur lose, machten kurz herausschiebend Druck und gingen spät wieder einen halben Schritt absichernd nach innen, um den Gegner – fast an der Grundlinie – hektisch werden zu lassen.

Überhaupt wusste die Einbindung der beiden zentralen Defensivspieler zu überzeugen, ebenso wie der harmonische Anschluss in der Arbeit der gesamten Abwehrkette an die vorderen Kollegen. So achteten die drei gerade jeweils ballfernen Akteure der Defensivreihe mehrheitlich gut auf kohärente Abstände zueinander statt sich von Mannorientierungen oder voreilig von bestimmten Dynamiken leiten zu lassen. Grundsätzlich lag der Fokus darauf, die Präsenz innerhalb der letzten Linie und die tendenzielle Zentrumsbesetzung aufrecht zu erhalten, dafür lieber den Flügel zunächst etwas offener zu lassen.

Gab es dort kleine Lücken oder Ausweichräume in den Halb- oder Flügelzonen, aus denen der Gegner nach innen kommen wollte, zeigten die einzelnen Corinthians-Spieler oft passiv begleitende, ansatzweise raumfressende Bewegungen, um zu verzögern, bis im Idealfall die nahe Gruppe von Kollegen die Szene übernehmen konnte. Es waren auch solch kleine Detailpunkte, in denen die Corinthians überzeugten und ihre solide, taktische Komplettheit einbringen konnten. Ein weiteres Beispiel bildete Vágner Love, der sich in manch tieferen Defensivphasen einfach mal aus seiner Grundposition ausnahm und in hinteren Zonen die Präsenz stärkte.

Defensive auf den Punkt

In der genauen Gesamtausrichtung gegen den Ball wechselten die „Timão“ – ausgehend von einer grundsätzlich eher zurückgezogenen und abwartenden Haltung – im Pressing flexibel zwischen verschiedenen Zugriffshöhen und Formationen, hier vor allem 4-1-4-1/4-3-3 und 4-4-2/4-2-4-0. Gelegentlich attackierten sie auch mal höher, nutzten dafür verschiedene Nachrückbewegungen und versuchten mit vielen diagonalen Mustern zu arbeiten, um die gegnerischen Bemühungen effektiver abzuschneiden und damit die eigene – in diesen Phasen bisweilen etwas unstrukturierte und instabil eingesetzte – Intensität punktuell durchzudrücken.

Zu Beginn der Pressingphasen agierte der tiefste Sechser in vielen Fällen noch recht klar für sich, so dass aus einer leicht diagonal angeordneten 4-1-2-3-/4-1-4-1-Ordnung heraus gestartet und anschließend bei Bedarf schnell umgeformt wurde. Gerade gegen Teams mit hohem Anteil an langen Bällen oder in Spielszenen, wo sich ein solches Mittel klar anbahnte, nutzten sie diese Staffelung konsequent und hatten damit eine stabile Grundbasis, in der sich das Dreiermittelfeld auch schnell etwas zu einer Seite ziehen konnte, falls nötig. Insbesondere die Rückzugsbewegung der Achter war in diesen Situationen wichtig, ebenso wie Ralf häufig nach hinten fiel, um kleinere Lücken in der letzten Linie zu füllen.

tites corinthians 2015 rückzug

Ein Beispiel für die teils starken Rückzugsbewegungen des Teams: Als hier eine potentiell brenzlige Situation droht, gerät direkt Konsequenz und Intensität in die Mannschaft. Elias presst engagiert rückwärts, Ralf bewegt sich ein wenig mit, um die zentral vorderste Anspielstation zu verdecken, auch der zweite Achter rückt mit. Der Ballführende gerät unter Druck, seine Chancen auf eine Einbindung des linken vorderen Mitspielers verringern sich und schließlich entscheidet er sich für einen bedrängten Horizontalpass zum rechten Offensivspieler, den der herausschiebende Uendel aber bequem im Halbraum abfangen kann.

In manchen Fällen agierte das Team in diesen Momenten gruppentaktisch etwas inkonsequent und verzögert, fand erst gerade so noch das richtige Timing. Aber grundsätzlich – und speziell, wenn sie relevante, brenzlige Situationen erkannte – verfügte die Mannschaft über eine sehr intensive und engagierte Rückzugsbewegung ins Abwehrdrittel hinein oder teilweise zum eigenen Strafraum hin. Kam es dazu, konnte dies – falls der Ball nicht sofort gewonnen wurde – zusammen mit der horizontalen Kompaktheit in der Folge zu jenen starken, eng über den Halbraum zugeschobenen Staffelungen führen, die insgesamt wohl als das größte defensive Highlight bei dieser Corinthians-Mannschaft von 2015 angesehen werden dürften.

Fazit

Abschließend lässt sich noch einmal zusammenfassen, dass Tites Corinthians – wenngleich diesmal etwas offensivbetonter als noch um 2012 – sich vor allem durch taktische Solidität, Komplettheit und die gute, saubere, kluge Umsetzung ihrer Abläufe und Stärken auszeichneten. Es waren selten taktisch verrückte, wirklich extreme oder spektakuläre Elemente dabei und auch keine bahnbrechenden Neuerungen oder Innovationen, aber ein modernes, vielseitiges und in seiner soliden Stabilität teils auch glänzendes Material, das hohe Qualität zeigte. In vielen Phasen konnte man die Partien des späteren Meisters daher bequem schauen und bekam ansehnliche fußballerische Kost geboten. Das Team war ein verdienter und überlegener Titelträger.

Michael 28. Januar 2016 um 21:39

Ich darf mal ganz unwissend fragen: Wo/wann/wie kann man Spiele aus Südamerikanische Ligen bei uns sehen (falls irgendwie möglich mit englischsprachigen Kommentatoren)? Billige Flugtickets, illegale Streams und selber eine Profikarriere beginnen lass‘ ich als Lösungen nicht gelten 🙂
Dank euch schon im Voraus!

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king_cesc 28. Januar 2016 um 17:54

Sind die Innenverteidiger eigentlich im Spielaufbau schwach? Die zurückfallenden Bewegungen würden ein schwaches Passspiel ja gut kompensieren, da die Spieler oft sehr frei sind…

Vielen Dank für den coolen Artikel!

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Objektiv 28. Januar 2016 um 14:04

Ein großes Danke für diese ausführliche Analyse. Hierzulande bekommt man leider sehr wenig von der Brasilianischen Liga mit :/ Ich würde es lieben wenn Spielverlagerung hier häufiger helfen könnte! 🙂
Interessant wird es nächste Saison bei Corinthians da dort ja der große Ausverkauf losgegangen ist…

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