Czibor und Kocsis verzweifeln wieder im Wankdorf
In einem bis zur letzten Minute dramatischen Finale im European Cup 1961 setzte sich Benfica gegen das Starensemble von Barcelona durch. Nach Real Madrids fünfjähriger Regentschaft übernahm die Mannschaft um Mário Coluna den Thron Europas.
Die Madrilenen waren bereits im November 1960 in der ersten Runde gegen Barcelona mit 3:4 ausgeschieden und konnten somit erstmals seit der Einführung den Wettbewerb nicht gewinnen. Anschließend arbeiteten sich die Katalanen souverän über Hradec Králové ins Halbfinale. Dort benötigte es gegen den Hamburger SV einen späten Treffer von László Kubala im Rückspiel im Volksparkstadion, um eine Entscheidungsbegegnung zu erzwingen, die Barça mit 1:0 gewann.
SL Benfica marschierte unterdessen souverän durch den Wettbewerb. Die Portugiesen verloren lediglich in der zweiten Runde das Rückspiel gegen Újpest, nachdem sie jedoch die Ungarn zu Hause deutlich besiegt hatten und um das Weiterkommen nach einem 6:2 nicht mehr fürchten mussten. Im weiteren Verlauf hatte man gegen Aarhus sowie gegen Rapid Wien jeweils zunächst Heimrecht und siegte zweimal klar im Estádio do SL Benfica.
Somit war das Duell der iberischen Spitzenteams vorbereitet. Im Berner Wankdorfstadion sollte dieses geschichtsträchtige Spiel über die Bühne gehen. Benfica bereitete sich sehr gewissenhaft auf das Finale vor, indem sie einige Zeit in Spiez verbrachten, so wie es bereits die deutsche Nationalmannschaft während der Weltmeisterschaft in der Schweiz 1954 handhabte. Barcelona musste derweil noch am Wochenende vor dem Finale eine knüppelharte Partie gegen den Lokalrivalen RCD Espanyol bestreiten, ehe man unweit von Bern die Zelte aufschlug.
Barças Trainer Enrique Orizaola überraschte bei seiner Aufstellung nicht. Die Offensivreihe in Verbindung mit Spielmacher Luis Suárez war ganz klar das Prunkstück der Katalanen. Sándor Kocsis sowie der Brasilianer Evaristo agierten im offensiven Zentrum in einer 3-2-1-4-haften Grundformation. Sie wurden vom kreativen und modernen Rechtsaußen Kubala sowie von Dribbelkünstler Zoltán Czibor flankiert. Suárez rückte immer wieder bis in die Spitze vor, wobei sich sein Mittelfeldkollege Jesús Garay eher zurückhaltender verhielt.
Vor allem im Vergleich zu Garays quasi Pendant Joaquim Santana auf Seiten von Benfica wurde die mangelnde Weiträumigkeit von Barças Sechser deutlich. Infolgedessen fehlte neben Suárez über weite Strecken der Partie ein zweites verbindendes Element, wodurch Orizaolas Mannschaft noch stärker geteilt wirkte, als es Anfang der 1960er Jahre für gewöhnlich der Fall war.
Der legendäre Béla Guttmann auf der anderen Seite hatte ebenso offensive Durchschlagskraft in seiner Mannschaft, aber dazu auch noch die perfekten Mittelfeldstrategen. Neben Coluna war dies vor allem der erwähnte Santana. Im Gegensatz zu Barcelona agierte Benfica allerdings in einem 3-2-2-3 auch nur mit drei Angreifern, die eine klare Reihe bildeten, wodurch man die Präsenz im Zentrum nochmals erhöhte. Dies wurde zusätzlich durch aufschiebende Bewegungen der Außenverteidiger unterstützt.
Barça mit früher Führung
In der Anfangsphase der Partie bestimmte zunächst Barcelona das Geschehen und unterstrich mit ansehnlichen Ballstafetten die ihnen zugeschriebene, dominante Rolle. Insbesondere Evaristo fiel beim schnellen Umschaltspiel der Katalanen auf. Der Neuner holte sich oftmals recht tief im Zwischenlinienraum den Ball ab und wurde während seiner Dribblings jeweils von Czibor links sowie Kocsis rechts überholt, um so Anspielstationen in der Tiefe vorzufinden.
Merkwürdigerweise klaffte bei Barça ein klares Loch im rechten Halbraum. Da Torhüter Antoni Ramallets meist mit weiten Abschlägen – oftmals als lange Bogenlampe ins Zentrum, manchmal als Dropkick auf die Flügel – die Angriffe begann, flogen einige Bälle genau in jenes Loch, was Benfica locker kontrollieren konnte. Kamen die Schläge jedoch direkt auf Kocsis, konnte dieser mit seiner Kopfballstärke immer wieder Ablagen zu seinen Mitspielern bringen.
Evaristo pendelte derweil auch horizontal und wich beispielsweise nach rechts aus, was Kubala mit einem Einrücken in den Halbraum beantwortete. Die Barça-Legende, die sich im letzten Jahr bei der Blaugrana befand, startete zudem meist aus etwas hängender Position von rechts und bewegte sich nicht sofort in die Spitze. Oftmals wurde Kubala dabei von Fernando Cruz oder José Neto verfolgt, die sich kurzzeitig aus dem Abwehrverbund herausbewegten, allerdings auch die Tiefenläufe zurück in Benficas Defensivkompaktheit mitgehen konnten. Diese Mannorientierungen waren ebenso gegen Suárez zu beobachten.
Gegen die Flügeldribblings von Barcelona zog sich Guttmanns Mannschaft wiederum im Zentrum zusammen. Cruz und Neto standen um Germano herum, damit Präsenz gegen Kocsis gegeben war. Die langen Abschläge von Ramallets wurden unterdessen gut verteidigt, da sich Barcelona in der Spitze zunächst in Unterzahl befand und folglich das Festmachen des Balles erschwert wurde. Allerdings wirkte Germano in der Anfangsphase noch etwas verunsichert. So verlor er beispielsweise in der 19. Minute den Ball im Aufbauspiel aufgrund eines technischen Fehlers.
Nur wenige Zeigerumdrehungen später konnte Barcelona die Führung übernehmen. Kubala leitete aus dem rechten Halbraum einen schnellen Angriff ein. Er spielte den Ball zum vorgerückten Martí Vergés in Richtung der rechten Seitenlinie. Vergés passte anschließend das Spielgerät diagonal in den Strafraum, wodurch Suárez nach einem Vertikalsprint hinter die Abwehrlinie an den Ball kam. Die anschließende Flanke erfolgte auf den zweiten Pfosten, wo der gefährliche Kocsis das Kopfballduell gegen Rechtsverteidiger Mário João für sich entschied und einnetzte.
Benfica wendet das Blatt
Anschließend übernahm allerdings Benfica die Kontrolle. Barça beschränkte sich nach rund einer halben Stunde vor allem auf die bereits erwähnten Befreiungsschläge auf Evaristo und Kocsis. In der Zwischenzeit wurden Coluna und José Augusto mit ihren Dribblings halblinks beziehungsweise halbrechts immer gefährlicher, da sie den zurückgezogenen Defensivverbund von Barcelona ansteuern konnten, ohne dass ein Katalane herausrückte, um direkten Druck auszuüben. Vorm Ausgleichstreffer in der 31. Minute schickte so beispielsweise Coluna den linken Flügelstürmer Domiciano Cavém steil. Der Linksaußen konnte vor dem herauseilenden Ramallets den Ball noch querlegen und Mittelstürmer José Águas, der unangefochtener Torschützenkönig des Wettbewerbs war, zum Abstauber verhelfen.
Kurz danach war die Partie nach einer kuriosen Szene komplett gedreht. Eine Zentralflanke aus rund dreißig Metern wird von Sigfrido Gracia per Kopf zur Bogenlampe umgewandelt. Das Spielgerät flog direkt in Richtung rechtes Toreck. Ramallets faustete den Ball an den Pfosten und damit hinter die Linie. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst gab den Treffer.
Bis zum Ende der ersten Halbzeit tat sich nicht mehr viel. Barça war weiterhin nicht druckvoll genug, wenn es darum ging, sich die Kugel zunächst zu erkämpfen. Sie zeigten ein schwaches Gegenpressing im zweiten Drittel nach den Torwartabschlägen und hatten auch noch ein entsprechendes Rezept gegen Colunas Dominanz gefunden. Kurz vor der Pause war bei den katalanischen Angriffen ein größerer Linksfokus zu erkennen. Kubala rückte vereinzelt auf diese Seite, während sich Czibor in den Zehnerraum bewegte. Doch Zählbares sprang nicht heraus.
Katalanen auf Struktursuche
Nach dem Wiederanpfiff riss Suárez noch stärker als zuvor den Spielaufbau an sich. Barças Nummer zehn unternahm viele Vertikalläufe in die Spitze oder band effektiv die defensiven sowie offensiven Außenspieler ein. Zudem gab es womöglich in der Halbzeitpause von Orizaola die Anweisung, dass Kubala für Verbindungen im rechten Halbraum sorgen und somit das angesprochene Loch besser füllen sollte. Dadurch wurde wiederum Vergés auf der Seite etwas aktiver oder Evaristo schob auf den rechten Flügel.
Ebenso suchte Czibor situativ die Anbindung weiter hinten auf dem linken Flügel. Barcelona wollte das Problem der mannschaftlichen Zweiteilung beheben, um so noch effektiver bei Angriffen nachschieben zu können. Im Zentrum war Kocsis weiterhin die Anspielstation für anschließende Kopfballweiterleitungen, aber er wurde nicht mehr so extrem fokussiert wie noch in der ersten Halbzeit.
Doch ehe Barça womöglich wieder ins Spiel zurückfinden konnte, baute Benfica nach 55 Minuten den Vorsprung aus. Eine Flanke von Cavém von links in Richtung des zweiten Pfostens landete per Abpraller im Zentrum. Coluna schloss mit einer Direktabnahme von der Strafraumkante ab. Garay konnte nicht mehr in den Schuss hineingrätschen.
Kubala hatte im Gegenzug direkt den Anschlusstreffer auf dem Fuß. Allerdings wehrte Benficas Torhüter Alberto da Costa Pereira den Schuss aus kurzer Distanz ab. Mit der Torchance für Kubala begann die dreißigminütige Schlussoffensive des eigentlichen Favoriten. Barcelonas Halbverteidiger und Sechser schalteten sich stärker ins Angriffsspiel ein, indem sie zunehmend ihre Grundpositionen verließen und vertikal oder diagonal nach außen aufrückten. Phasenweise konnten die Katalanen den Gegner am Strafraum festnageln, ohne aber die zwingenden Möglichkeiten zu erhalten.
In der 70. Minute rutschte Germano einmal der Ball über den Kopf, wodurch er Pereira überköpfte. Aber Kocsis brachte das Spielgerät nicht im Kasten unter, sondern traf nur den Pfosten. Kurz danach prallte ein Volleyschuss von Kubala vom linken an den rechten Innenpfosten und von da wieder von der Linie nach vorn. Langsam verzweifelten die Katalanen. Aber in der 75. Minute erzielte Czibor schlussendlich das 2:3. War Kubala zuvor noch ein Traumtor verwehrt geblieben, konnte nun der andere Flügelangreifer wunderbar vollenden. Nach einer Ecke von links kam er halbrechts an der Strafraumgrenze an den Ball und verwandelte sehr präzise ins linke obere Toreck.
In der Schlussphase spielten sich teils tumultartige Szenen in Benficas Strafraum ab. Doch die wahre Kunst von Barcelonas Angriffsspiel wurde in der 84. Minute letztmalig deutlich. Kubala leitete nach einer Benfica-Ecke am eigenen Strafraum vom linken Halbraum aus einen Umschaltangriff ein, an dem alle Offensivakteure beteiligt waren. Sie kombinierten sich in hohem Tempo und mit starker Präzision nach vorn, scheiterten jedoch am Pfosten des Benfica-Gehäuses. Selbiges passierte Czibor kurz vor dem Schlusspfiff, nur dass dieses Mal Pereira im Weg stand.
Ungarische Tragödie
Ein Finale im wichtigsten europäischen Klubwettbewerb ohne Real Madrid war zu dieser Zeit unvorstellbar. Aber mit Benfica und Barcelona standen ebenso zwei Mannschaften auf dem Feld, die gespickt mit genialen Spielern waren. Gerade das „Monstro Sagrado“, wie Coluna genannt wurde, stellte in diesem Spiel unter Beweis, was für ein Stratege und Dribbler er war. Der in Mosambik geborene Mittelfeldakteur hatte stets das Auge für die Dynamik der Situation und die notwendige Empathie in seinen Zuspielen.
Dass Barça allerdings besonders seine Seite in der ersten Halbzeit recht konservativ bespielte, darf ruhig als Fehler angesehen werden. Die Portugiesen nutzten die größere Präsenz im Mittelfeld, um nach dem Führungstreffer der Katalanen die Partie an sich zu reißen.
Für die ungarischen Offensivkräfte Kocsis und Czibor hatte das Wankdorfstadion erneut nur eine große Enttäuschung zu bieten. Wie 1954 gingen sie mit der favorisierten Mannschaft in das Endspiel und wieder verloren sie in einer knappen Partie mit 2:3.
Für Béla Guttmann sollte in der darauffolgenden Saison noch die Titelverteidigung mit dem jungen Angreifer Eusébio erfolgen, bevor der ungarische Trainer Benfica im Streit um Prämien und Gehaltserhöhungen verließ. Was danach folgte, ist Legende. Aber der Fluch sollte in späteren Finals auch diese grandiose Benfica-Generation befallen.
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