Türchen 6: Leon Britton
Eleganz und Spielkontrolle. Das ist Swansea City und das ist der Meisterstratege, der die Schwäne von der vierten Liga bis auf’s internationale Parkett führte. Es gibt nur einen Leon Britton.
Wie funktioniert Fußball? Diese Frage beschäftigt Millionen Menschen seit Jahrzehnten und jeder hat so seine eigene Antwort. Die meisten Antworten drehen sich um Begriffe wie Psychologie, Mentalität, Geschwindigkeit oder Robustheit. Doch in einer südwalisischen Industriestadt sucht man seit einigen Jahren nach unverbrauchten, neuen und leiseren Antworten – und hat dabei viel Erfolg.
Ein viertklassiger Winger
Wir schreiben den 3. Mai 2003. Swansea City spielt auf dem heimischen Vetch Field gegen Hull. Swansea muss gewinnen, es geht gegen den Abstieg. Wir sprechen vom Abstieg aus der vierten Liga. Auf der Sechserposition spielt ein gewisser Roberto Martinez. Auf Rechtsaußen ein kleiner, schmächtiger 20-Jähriger aus London. Sein Name lautet Leon Britton.
Zwei Jahre später gelingt der Aufstieg. Zudem ziehen die „Swans“ in ihr neues Stadion um, das „Liberty Stadium“. Nach zwei weiteren Jahren übernimmt Roberto Martínez die drittklassige Mannschaft und beginnt, die Spielweise in Richtung des typisch spanischen Ballbesitzspiels zu entwickeln. Damit gelingt der Aufstieg in die zweite Liga. Paulo Sousa und Brendan Rodgers führen das Projekt weiter. Britton ist immer mit dabei, außer 2010, als er zu Sheffield United wechselt, aber nur ein halbes Jahr bleibt und dann von Swansea zurückgeholt wird. Mit ihm erreichen die Schwäne 2011 die Premier League. Dort gilt der recht klamme Verein als Favorit auf den Abstieg, doch hat mit dem Abstiegskampf wenig zu tun. Drei Mal in Folge werden Platzierungen im Tabellenmittelfeld erreicht, zwischendurch gewinnt Swansea den League Cup, schlägt im Halbfinale Chelsea über zwei Spiele und qualifiziert sich für die Europa League.
Der weiße Schwan vom Stadion der Freiheit
Die Symbolik der sensationellen Entwicklung Swanseas ist absurd märchenhaft. Wenn jemand diese Geschichte erfunden hätte, sie wäre vollkommener, rücksichtsloser Kitsch. Schwanensee, ein Schwan als Wappen, Weiß als Vereinsfarbe, der Wiederaufstieg aus den Niederungen des Fußballs durch den Umzug in das „Freiheitsstadion“ und dem konsequenten, fast rebellischen Verfolgen eines eleganten, mutigen und dominanten Stils, der allen Dogmen des kämpferisch ausgerichteten britischen Fußballs widerspricht. Nebenbei gehört der Verein auch noch seinen Fans. Er wurde von ihnen vor dem Ruin gerettet; im gleichen Jahr übrigens, als Britton zum Verein stieß. Da spielte noch eine Brieffreundschaft eine Rolle. Eine Brieffreundschaft!!! Ach komm.
Leon Britton steht wie kein anderer für dieses perfekte Gemälde des Weltfußballs. Aus dem „tricky, little player“ ist ein überragender Stratege geworden. In seiner allerersten Erstligasaison wurde er zum „besten Passspieler Europas“ geschrieben, weil er eine bessere Passquote hatte als, naja, jeder andere in Europa. Außerdem gelang ihm als erstem Mittelfeldspieler in der Premier League (seit Datenerhebung) ein „perfektes“ Spiel mit 100% Passquote über 90 Minuten (67 Pässe gegen Bolton im Oktober 2011).
Natürlich ist Britton längst kein Flügelstürmer mehr. Der agile Taktiker agiert seit Jahren als Sechser vor der Abwehr und ist dort der wichtigste Anker des Swansea-Ballbesitzspiels. Er rochiert horizontal durch die Räume und kontrolliert das Spiel präzise und elegant. Kontrolle. Das ist seine Kunstform.
Der Strukturwandler
Sein Einflussgebiet erstreckt sich dabei weiträumig auf den gesamten Bereich zwischen den Flügeln, hauptsächlich in der Linie direkt vor der Abwehr. Vereinzelt kann er sich auch nachstoßend in Kombinationen der Offensive einschalten, das ist aber eine zweitrangige Qualität. Er ist ein puristischer Verbindungsspieler, was ihn von anderen Meistern des Passspiels unterscheidet. Er hat nicht die passive, statisch-zentrierte Spielweise von klaren Sechsern wie Busquets oder den präsenten, leicht vorgeschobenen Wirkungsradius eines Xavi. Man kann nur schwer benennen, ob Britton dominant ist oder nicht. Britton ist immer dabei, immer aktiv und doch nie aufdringlich. Er ist weniger Spielmacher, sondern eher „Spielermöglicher“. Viele würden ihn wohl das Herz von Swansea nennen, doch besser ist vielleicht die Metapher des Nervensystems.
Er sorgt dafür, dass die Teile seiner Mannschaft miteinander in Verbindung stehen und miteinander „kommunizieren“. Er verbindet sie mit seinen Pässen. Er stellt bespielbare Strukturen her und öffnet dadurch Räume. Er hält das Spiel im Zentrum und sorgt damit für die Kontrolle seiner Mannschaft. Mit seiner Beweglichkeit und Cleverness ist er sehr pressingresistent und nutzt diese Fähigkeit gezielt, um Pressing-Engen des Gegners aufzulösen.
Das alles macht er mit einer Eleganz und Leichtigkeit, die unter den Sechsern der Welt fast einzigartig ist. Seine körperlichen Voraussetzungen schließen eine wuchtige Spielweise natürlich von vornherein aus. Dieses vermeintliche Defizit hat er zum Stil, zur Qualität und zum Alleinstellungsmerkmal erhoben. Das Timing und die Ruhe in seinen Aktionen sind über jeden Zweifel erhaben. Britton wandelt nicht nur die Strukturen, er wandelt auch in ihnen.
Dieser Stil erstreckt sich auch auf sein Spiel gegen den Ball. Besonders in Laudrups sehr optionsorientierter Spielweise konnte er in dieser entscheidenden Funktion glänzen. Er schirmt das Zentrum ab, rückt heraus, drängt den Gegner aus den wichtigen Räumen, sichert seine Mitspieler ab und unterstützt sie. Er verteidigt taktisch und strategisch, fast immer ohne Körpereinsatz. Er lenkt den Gegner. Nicht indem er ihn bekämpft, sondern indem er das Spiel kontrolliert.
Taktik über alles
Der Bezug zum Spiel ist es, der Britton ausmacht. Individuell hat er kaum etwas zu bieten. Im Grunde hat er nur eine sehr gute Agilität, eine Lunge und eben ein Hirn. Er hat keine gute Endgeschwindigkeit, einen mittelmäßigen Antritt, keine Robustheit, keinen guten Abschluss. Auch rein technisch ist Britton zwar sauber, aber doch unspektakulär, anders als Spieler wie Xavi, Busquets oder Gündogan. Absurd präzise lange Angriffspässe sieht man von ihm ebenso selten wie abgefahren anspruchsvolle Dribblings unter Druck. Er ist kein Pirlo und kein Modric.
Doch all diese potentiellen Anfälligkeiten haben dafür gesorgt, dass Britton sein taktisches Spiel perfektioniert hat. Alles was er er unternimmt, macht er mit absoluter Konzentration und Aufmerksamkeit. So erzeugt er eine außergewöhnliche Sauberkeit und Konstanz in seinem Spiel. Seine Positionierung im Raum und sein Anlaufen von Positionen sind sehr detailliert. Seine Orientierung mit und ohne Ball ist makellos. Der erste Ballkontakt geht immer so in den Raum, dass die gegnerische Zugriffsdynamik durchbrochen oder abgebremst wird. Seine Ballbehandlung ist hervorragend mit seinen Bewegungen abgestimmt. Seine Pässe sind sehr emphatisch, sodass seine Mitspieler sie möglichst leicht verarbeiten können. Er hilft seinen Mitspielern auch häufig, indem er durch die genaue Positionierung des Passes schon die weitere Spielrichtung vorgibt.
Und er ist so damn aware! Dass Britton etwas übersieht oder einfach gedanklich nicht bemerkt, passiert nicht. Er hat seine Mitspieler und Gegenspieler im Blick, er kennt die Räume, er hat das Gefühl für die Strukturen und die Dynamiken und er spürt, wie sich Spielzüge entwickeln können und werden. Er hat die Kontrolle.
Die Kunst, Fußball zu spielen
Dass Leon Britton und Swansea City zusammengefunden haben, ist ein historischer Glücksfall für den Fußball. Sie stehen für das Schöne im Fußball und dafür, dass man keine Ausnahmekünstler braucht, um konstruktiv zu spielen. Man muss es nur richtig machen.
So verkörpert Britton wie vielleicht kein anderer eine Fußballphilosophie, die sich um das Spielen dreht. Nachdenken, Entscheidungen treffen, Probleme schaffen und Probleme lösen. Bewegen, passen, spielen. Nichts erzwingen, nie destruktiv sein, einfach nur spielen. Immer auf der Suche nach der optimalen Aktion.
Wie Fußball funktioniert? Fußball funktioniert Leon Britton.
13 Kommentare Alle anzeigen
rb 30. Dezember 2016 um 14:10
zwei jahre später lese ich diesen artikel erneut und frage mich: ist julian weigl der deutsche leon britton?
tobit 30. Dezember 2016 um 22:14
Nachdem ich es nochmal gelesen habe – JA! Alle reden immer vom neuen Busquets, dabei passt seine Spielweise tatsächlich besser auf Britton (den kennt halt keine Sau). Wobei er Britton schon einiges voraus hat. Er setzt seine mittlerweile ganz gute Physis (auch wenn er immer noch aussieht wie ein halbes Hemd) sehr präzise ein, gerade wenn es richtig eng wird, schiebt er sich gut zwischen Ball und Angreifer oder drückt seinen Gegenspieler ein bisschen weg. Manchmal hat er Dribblingmomente, in denen er sich auch vor Modric und Gündogan nicht zu verstecken braucht (in Madrid gegen vier Weiße).
Der größte Unterschied zu Britton ist finde ich sein Defensivverhalten. Er geht da durchaus aggressiv vor, gerade Konter unterbindet er gerne Mal mit kleinen Fouls (was den Dortmunder Fairplay-Siegern sehr gut tut, besonders wenn Sokratis fehlt).
Eigentlich traurig, dass solche Genies und Ästheten so selten gewürdigt werden.
MR 31. Dezember 2016 um 05:23
Ich finde bei Weigl den Busquets-Vergleich passender.
Britton finde ich mehr in Kimmich wieder. (Wobei Kimmich individuell viel stärkere Anlagen hat.)
tobit 31. Dezember 2016 um 10:11
Britton-Kimmich passt aktuell finde ich nicht. Dafür bewegt sich Kimmich zu vertikal.
In der Grundlegenden (besonders physischen) Veranlagung könnte man aber Kimmich und Britton vergleichen, auch wenn Kimmich dynamischer und dafür weniger elegant ist.
Was bei Weigl und Britton gut zusammen passt ist das permanente Ausweichen von Halbraum zu Halbraum, was ich bei Busquets eher seltener sehe.
Insgesamt liegt Weigl wohl so ein bisschen zwischen den beiden (mit ein bisschen Schweinsteiger dazu).
Wie seht ihr in dem Kontext eigentlich Verratti?
Herr Band 7. Dezember 2014 um 22:57
sehr sehr schöner artikel! hat mich teilweise an das pep-portrait im ballnah-magazin erinnert – vielleicht wächst da ja ein neuer pep heran. leon britton: als spieler schon ein trainer?
Tank 7. Dezember 2014 um 21:52
Sehr schöner Artikel. Da ärgere ich mich doch, so wenig von ihm gesehen zu haben bisher.
mk 6. Dezember 2014 um 22:50
Und das kommt dabei raus, wenn man sich in der Feierei nicht beschränkt. Für mich persönlich ist der Artikel jetzt spontan gesagt in den Top Five in der Kategorie „hat Spaß gemacht zu lesen“ (von SV-Artikeln). Alleine der letzte Satz ist es doch absolut wert. Sehr, sehr gut! Jetzt sollte man doch tatsächlich mal wieder Swansea gucken…
TonyS 7. Dezember 2014 um 21:11
Kann ich nur zustimmen. Das Niveau der Artikel hier ist ja ohnehin so gut wie immer überragend, da ist es eigentlich unfair, Einzelne herauszuheben, aber manche Artikel sind dann doch nochmal besondere Highlights. Dieser hier gehört definitiv dazu. Einfach grandios geschrieben, immer wieder tolle Formulierungen.
Isco 6. Dezember 2014 um 22:28
Ich sag doch Britton, ist doch der englische Baier 😛
Grandioser Artikel, jetzt hab ich richtig Lust bekommen wieder ein Swansea Spiel anzusehen.
Morgen ist Barca dran, gibts andere Tipps als Iniesta? Messi wurde eh schon so oft behandelt, Busquets vor 3 Jahren (und hat sich seither nicht wirklich verändert).
Isco 6. Dezember 2014 um 22:57
Ui, gerade gesehen, dass Iniesta ja schon einmal im Ballnah war; dann wohl doch Senor Was-ist-ein-Fehlpass Xavi
Bernhard 6. Dezember 2014 um 21:35
Das i-Tüpfelchen geht dem Artikel noch ab: https://www.youtube.com/watch?v=gTxgnVH_-Zs
Sören 6. Dezember 2014 um 21:05
jetzt muß ich mir den unbedingt mal anschauen.
„spielermöglicher“ ist übrigens ein schöner begriff, erinnert mich ein bißchen an den (späten, also bei chelsea) ballack, der deswegen ja auch vielfach mißverstanden wurde.
Dr. Acula 6. Dezember 2014 um 20:57
man, ihr versteht es, einem Lust auf das anschauen ganzer Spiele zu machen.. Fand insbesondere de 2 Partien gg Chelsea, die sie beide gewannen wie ihr erwähnt, sehr gelungen.