Ein Blick auf Liverpools pendelnde Viererkette
Bei der Weltmeisterschaft 2014 zeigten Dreier-, Fünfer- und pendelnde Viererkette, dass sie noch nicht tot sind. Im europäischen Spitzenfußball gibt es sie kaum; aber einzelne Teams wie Juventus, Bayern und Liverpool waren in dieser Saison dennoch zu beobachten. In diesem Artikel soll es um Liverpools Variante gehen.Dieser Artikel entstand bereits im Herbst, wurde damals aber nicht veröffentlicht, weil das System exakt bei Komplettierung des Artikels ad acta gelegt wurde. Am Artikel selbst wurde jedoch nur die Einleitung verändert.
Nach der Niederlage gegen Southampton am fünften Spieltag wurde bei Liverpool auf ein 3-5-2/5-3-2 umgestellt, zuvor wurde im 4-2-3-1 gespielt. Das 3-5-2 gab dem Team während der Nutzung die Möglichkeit das Sturmduo Daniel Sturridge und Luis Suarez gemeinsam auf ihrer jeweiligen Idealposition als Mittelstürmer aufzustellen. Noch interessanter ist jedoch, wie die Defensive bei den Reds funktionierte.
Eine Abwehrreihe nach Vorbild Juventus‘?
Schon in unserem Mannschaftsporträt zur alten Dame haben wir über eine pendelnde Kette geschrieben, ebenso wie beim Artikel zu den Taktiktrends dieser Weltmeisterschaft oder den Variationen der drei zentralen Innenverteidiger, was sich auf der englischen Präsenz unserer Seite finden lässt. Ähnliches gab es zu jener Zeit bei Liverpool zu sehen, auch wenn sich die Flügelverteidiger oftmals noch höher postieren und bei gegnerischen Angriffen über die Mitte relativ weit vorne stehen. So fiel zum Beispiel der Treffer Arsenalse, weil Cissokho den gegnerischen Außenverteidiger presste und den Flügelstürmer dem gegnerischen Innenverteidiger überließ, was ein Loch öffnete; diese Löcher im Halbraum sind bei dieser Spielweise eine der Anfälligkeiten des Systems.
Allerdings sind diese Dynamik und der entstehende Druck in Liverpools Defensivspiel auch eine der Stärken dieses Systems. Indem sie im 3-5-2 hoch stehen, können sie viel Druck ausüben. Kommt der Ball dann über eine Seite, bleibt der sich dort befindliche Flügelverteidiger hoch und presst, während die Innenverteidiger sich in das entstehende Loch bewegen und diesen Raum zustellen. Der ballferne Flügelverteidiger bewegt sich dann meistens diagonal zurück und bleibt in einer Zwischenposition aus klassischem Außenverteidiger einer Viererkette und einem eingerückten Flügelverteidiger stehen.
Arbeitet sich der Gegner nach vorne, schließt er sich der Dreierkette an und aus der Dreierkette entsteht somit eine Viererkette. Geht der Ball zurück, weicht er wieder nach vorne und Liverpool agiert wieder im 3-5-2. Wichtiger ist aber die Bewegung der Halbverteidiger. Im Gegensatz zu früheren Mannschaften, die mit zwei Manndeckern und einem Libero agierten, bringt Liverpool hier sehr viel Dynamik hinein.
Meistens stehen sie in einer positionsorientierten Dreierkette da, aber sie übernehmen immer wieder situative Manndeckungen. Dabei sind Kolo Touré und Mamadou Sakho eindeutige Halbverteidiger, sie rücken bis ins Mittelfeld auf und schieben auch oft seitlich hinaus, um in Zweikämpfe zu kommen. Liverpool kann dadurch bei Pässen in diese Zonen viel Druck erzeugen, während der etwas langsamere, dafür aber sehr robuste und intelligente Martin Skrtel als zentraler Innenverteidiger sich leicht in diese Löcher bewegt und absichert.
Teilweise entstehen durch diese herausrückenden Bewegungen der Halbverteidiger, die hohen Flügelverteidiger und das leichte Zurückfallen des ballfernen Flügelverteidigers sogar ballferne Dreierketten, wo Skrtel die Mitte sichert und neben ihm ballfern zwei Spieler eng aneinander stehen.
Passend zu dieser Rollenverteilung und dem aggressiven Herausrücken der Innenverteidiger ist übrigens auch das Mittelfeld angeordnet.
1-2-Mittelfeld und flache Drei als Variationsmöglichkeiten
Im Mittelfeld gibt es eigentlich auch eher eine flache Drei wie in der Abwehr, doch die Rollenverteilung entspricht ebenfalls jener der Verteidigung. Lucas Leiva lässt sich öfters zurückfallen und sichert ab, beide Achter können viel Herausrücken und erzeugen Dynamik. Durch die flache Drei in der normalen Stellung locken sie den Gegner in den defensiven Zwischenlinienraum und attackieren dann sehr aggressiv, während Lucas sich in diese Lücken bewegt und hilft.
Bei der 1-2-Formation, wenn die Achter grundsätzlich etwas höher stehen, gibt es einen weiteren Vorteil: Sakho und Touré können in diese Räume herausrücken und agieren dann kurzzeitig neben Lucas, während Skrtel und der verbliebene Innenverteidiger absichern.
Diese vielen kleinen Möglichkeiten zur Veränderung bieten den Spielern viele Freiräume und ermöglichen es ihnen nahezu selbstständig sich zu positionieren und ins Pressing überzugehen. Insbesondere im offensiven Zwischenlinienraum können sie extrem viel Druck erzeugen, während Skrtel absichert und Lucas die Zentrale sichert.
Beim Spiel gegen Arsenal war dabei auch schön zu sehen, was die Vorteile davon sind. Ramsey, Cazorla, Rosicky und Özil konnten zwar im Mittelfeld kombinieren, mussten aber viele Pässe wieder zurück in sichere Zonen im Sechserraum spielen, da ihre Kurzpasskombinationen im Zwischenlinienraum immer wieder unter großen Druck gesetzt wurden. Gerrard, Henderson und die herausrückenden Halbverteidiger orientierten sich situativ mannorientiert und erzeugten Zugriff, auch Lucas und Skrtel taten dies.
In der ersten Hälfte konnte Arsenal sich trotz klarer Dominanz kaum Chancen ausspielen. Sie hatten zwar viel mehr Ballbesitz und konnten dank ihrer individuellen Klasse im Kombinationsspiel, der Bewegung Artetas und dem Loch Liverpools zwischen Mittelfeld und Angriff den Ball sicher zirkulieren lassen, aber ab dem Zwischenlinienraum war trotz Girouds toller Bewegung Schluss.
Letztlich besorgten den entscheidenden Treffer eine kleine unpassende Bewegung Cissokhos und das klassische Problem der Dreierkette: Die 1-Mann-Besetzung der Außenbahn. Cissokho verfolgte dabei den gegnerischen Außenverteidiger und presste ihn sehr hoch in der gegnerischen Hälfte. Dies öffnete Raum dahinter. Dies versucht Brendon Rodgers normalerweise zwar mit dem Nachschieben der Halbverteidiger auf die Seite unter Kontrolle zu bekommen (wodurch man teilweise spielte wie in einer Fünferkette), aber hier war der Raum zu groß und das Nachschieben zu unkompakt.
Außerdem sind bei diesem Nachschieben die Mannorientierungen unter Umständen auch kontraproduktiv. Rückt der gegnerische Flügelstürmer richtig ein und steht die gesamte Formation nicht kompakt, dann kann der Außenverteidiger den Ball in die Mitte prallen lassen und seinen Gegenspieler überlaufen. Sagna erhielt just dadurch in der nächsten Aktion einen Pass und Arsenal kam mit einigen wenigen Pässen vom eigenen Strafraum bis zum gegnerischen.
Normalerweise steht Liverpool aber wegen dem hohen Druck im Zwischenlinienraum und dem guten Verschieben überaus stabil da. Und sie haben auch die dazu passenden Spieler im Umschaltspiel, um Gefahr machen zu können.
Suarez und Sturridge in der Spitze
Selbst wenn sie den Ball erst im defensiven Zwischenlinienraum erobern, kann Liverpool noch Gefahr erzeugen. Suarez und Sturridge sind beide enorm dribbelstark, athletisch und durchschlagskräftig. Selbst 2-gegen-2-Situationen können bei ihnen für Gefahr sorgen, allerdings können sie den Ball auch behaupten, bis die Spieler dahinter aufrücken. Mit den hohen Flügelverteidigern gibt es fixe Breitengeber und Henderson sowie Gerrard rücken aus den Halbpositionen im Mittelfeld nach vorne.
Problematisch sind oftmals aber zwei Aspekte. Einer ist der große Abstand zwischen Mittelfeld und Angriff, der dem Gegner einfache Zweikämpfe ermöglicht. Ein zweites Problem ist die Ballzirkulation nach abgebrochenen Kontern. Steven Gerrard kann zwar hervorragende Pässe von hinten spielen und besitzt einen tollen Abschluss in Strafraumnähe, doch im Kombinationsspiel ist er etwas zu vertikal und zu risikoreich. Henderson ist hierbei schon balancegebender, aber besitzt nicht die Präsenz seines Nebenmanns, ist auch nicht so kreativ und abschlussstark, wodurch Suarez und Sturridge oftmals im Stich gelassen werden.
Der Gegner kann sich auf das Abdecken des Sturmduos konzentrieren, sie isolieren und gibt dadurch kurzfristig Spielanteile im Mittelfeld auf. Wegen der 1-Mann-Besetzung des Flügels kann er auch sehr eng agieren, keiner der zentralen Spieler verspricht hierbei große Gefahr nach Flanken.
Liverpools Probleme liegen also vorrangig im offensiven Umschaltspiel, wenn der Gegner die nötigen Vorkehrungen trifft: Arsenal ließ beispielsweise sehr eng verteidigen und nutzte bewusst eher zentrumsorientierte Spieler auf den Außenbahnen. Arteta hielt sich tief und unterstützte die Innenverteidiger im Defensivspiel, auch die Außenverteidiger waren nicht übermäßig offensiv. Dadurch konnte sich Liverpool nur einzelne Halbchancen herausspielen.
Weichen die Mittelstürmer auf die Flügel aus, wozu sie von ihrer Anlage eigentlich prädestiniert sind, so fehlt ein einrückender Flügelstürmer von der anderen Seite, um die Mitte zu besetzen. Dadurch lässt sich oft der zweite Mittelstürmer isolieren und der andere muss nach Ballannahmen schnell bzw. auf sich alleine gestellt abschließen. Allerdings dürften sich diese Probleme mit einer verbesserten beziehungsweise konstanteren Offensivstruktur, bei passenderem Pressing inkl. Staffelungen legen. Dann sollten sowohl Sturridge als auch Suarez in diesem System enorme Präsenz entfalten können. Potenziell wäre aber ein dritter Offensivspieler – ob noch stärker einrückende ballferne Flügelverteidiger mit noch offensiverer Besetzung (Sterling) oder die Umstellung auf ein 3-4-1-2, 4-3-1-2, o.ä. – vermutlich ideal, wenn man sich besonders auf Suarez‘ und Sterlings Stärken fokussieren möchte.
Alles in allem verspricht aber auch dieses System viel. Langfristig könnte sich – wenn die Dreierkette beibehalten wird – noch viel Gefahr entwickeln, wenn die offensiven und defensiven Strukturen noch etwas komplettiert werden. Es gab auch bereits Ansätze; z.B. wo die Halbverteidiger ein bisschen nach vorne schoben und einen zweiten Flügelläufer gaben. Außerdem gibt es mit Philippe Coutinho, Luis Alberto, Raheem Sterling und Victor Moses weitere Optionen, welche dieser Spielweise eine zusätzliche Dimension geben könnten.
Alternativ könnte Rodgers auch zum 4-2-3-1 zurückkehren, wo entweder Suarez auf die Zehn rückt oder einer der beiden Mittelstürmer über den Flügel kommt. Weitere Optionen sind wie erwähnt die Raute (ob 4-3-3 mit falscher Neun oder 4-3-1-2), eine asymmetrische Nutzung der Flügel in der Offensive, ein flexibles Tannenbaumsystem oder ein 4-1-2-3, das ebenfalls interesant praktiziert werden könnte.
Fazit
Wie erwähnt stammt dieser Artikel aus dem Herbst; und Rodgers ging später tatsächlich zu einem 4-3-3 und 4-3-1-2 über, was den Reds eine enorm starke Phase brachte. Diese Saison dürfte es wohl ebenfalls bei dieser Formation bleiben, obgleich das Spiel mit einer Dreier- beziehungsweise in diesem Fall einer pendelnden Viererkette mit Ansätzen einer Fünferkette durchaus eine Option darstellen könnte. Man darf gespannt sein; die Dreierkette in all ihren Variationen ist zurück, Liverpool in der Vorsaison war nur ein Hinweis darauf, dass sich die Flexibilität und die Artenvielfalt im europäischen Spitzenfußball aus taktischer Sicht wohl verändern wird. Die Bayern lassen grüßen.
5 Kommentare Alle anzeigen
Martin 29. Juli 2014 um 14:24
Danke, cooler Artikel.
Badstuber ist ja auch dabei fit zu werden, glaube bis jetzt hat er noch meistens als zentraler Verteidiger in der 3er Kette gespielt.
Gäbe er potenziell nicht auch nen guten Halbverteidiger?
Stizzzo 26. Juli 2014 um 23:42
Hey RM,
sry gehört hier zwar nicht unbedingt hin… aber mach doch mal eine Vorschau für das 3-6-1 von Bayern in der kommenden Saison. Ich glaube in dem Thema kann man sich echt austoben.. wurde sowas überhaupt schonmal von einem großem erfolgreichen Verein dauerhaft gespielt?
Btw vielen Dank für deine interessanten Artikel!
Grüße aus London
AP 28. Juli 2014 um 12:20
kann man das was Pep jetzt schon andeutet überhaupt in Zahlen fassen? Bayern beim T-Cup. Interessant. Gaudino noch interessanter 🙂
brolylucia 25. Juli 2014 um 14:17
ich hoffe so, dass alberto moreno noch verpflichtet wird und dass Ilori sich einen Stammplatz erkämpfen kann (fände ihn als Halbverteidiger cool).
RM 25. Juli 2014 um 18:57
Wäre interessant. Ich halte Alberto Moreno für (potenziell) Weltklasse.