Adventskalender, Türchen 10: Roman Neustädter

Roman Neustädter ist eines der großen Mysterien für Fußballlaien. Wieso kannte man ihn vergangene Saison kaum? Seine Mannschaft Borussia Mönchengladbach wurde aus einem Fast-Absteiger zu einem Champions-League-Aspiranten. Danach wechselte Roman Neustädter zu Schalke 04, wo er diese Saison in der Champions League überzeugen konnte. Sogar in die Nationalmannschaft wurde er berufen, auch wenn es aktuell bislang nur zu vier Minuten reichte. Hätte sich der gebürtige Ukrainer für den osteuropäischen Staat entschieden, wäre er unter Umständen schon um einige Länderspiele reicher. Doch wie hat er sich überhaupt den Nationalmannschaftsschnuppertag verdient?

Das Profil eines Profillosen

„Roman ist einer unserer konstantesten Spieler in dieser Saison“, sagt Trainer Huub Stevens. „Er ist physisch sehr stark, hat wahnsinnig gute Ausdauerwerte und kann schnell regenerieren.“

Bei einer solchen Aussage des Trainers geht man zumindest im Jugendbereich davon aus, dass der Spieler ein Arbeiter ist. Talent eher Mangelware im Normalfall, aber mental wie körperlich soll er anderen Spielern mit mehr Spektakel in Beinen und Hüften den Rücken freihalten. Letztlich ist dies auch exakt das, was Roman Neustädter tut, doch ein Lob seiner Größe und quantitativen Laufstärke wird ihm keineswegs  gerecht.

Darum ziehen wir aus diesem überaus interessanten Artikel der FAZ, der einzige mir bekannte über Neustädter vor seinem Länderspieldebüt, ein paar weitere Zitate.

„Er weiß schon vorher, wo der Ball hingeht und kann jede Situation bestens einschätzen“, sagt Christoph Moritz.

Hier kommen wir der Sache schon näher. Roman Neustädter kommt nicht nur über die Vielzahl seiner Schritte, sondern auch über die Paarung mit der Richtigkeit seiner Schritte. Wie sagte jemand, der übrigens ich bin, einst: „Besser gut gestanden als schlecht gelaufen.“

Neustädter ist jemand, der beides kann. Wenn er auf seiner Position steht, besitzt er das Gespür, ob er auf dem richtigen Platz steht und dadurch den Defensivverbund stabilisiert. Gleichzeitig weiß er auch, wohin, wann und auch wie er sich bewegen muss. Ein verfrühter Lauf zum Abfangen eines vorgelegten Balles resultiert womöglich in einem Pass auf die gerade eben verlassene Position, ein verspäteter Lauf resultiert oftmals in einem einfachen Dribbling für den Gegenspieler. Dennoch hat Huub Stevens Recht. Um ihm modernen Fußball konstant die richtigen Schritte zu machen, muss man erst einmal konstant Schritte machen können. Allerdings ist die Defensive nicht alles, weiß Lewis Holtby:

„Roman gibt den Takt vor“, sagt Lewis Holtby, sein offensiver Vordermann im Mittelfeld.

Offensiv ist Neustädter kein Mann der großen Dribblings, übertriebenen Bewegungen, spektakulären Tore oder kreativen Vorlagen. Zumindest nicht final. Sein offensiver Einfluss spielt sich tiefer ab, denn Neustädter entscheidet im Normalfall über die Angriffsausrichtung. Wann greifen wir an? Wo greifen wir an? Wie greifen wir an? An einem guten Tag kann Neustädter den Unterschied ausmachen, ohne dass ihn jemand bemerkt. Allerdings gebe auch ich zu, dass Neustädter seine Grenzen in der Offensive hat. Holtby sieht das jedoch anders:

Neustädter sei „der moderne Beckenbauer“, zumindest was seine Rolle auf dem Rasen betrifft.

Ein Vergleich, der selbst mir im offensiven Aspekt Neustädters suspekt ist. Doch wenn der gute Lewis das sagt, sträube ich mich sicherlich nicht dagegen. Wer bin ich schon, dass ich diese Meinung anzweifle? Neustädters Dynamik mit Ball am Fuß, seine Dribbelfähigkeiten und Vorstöße sind begrenzt. Beckenbauers nicht. Hier geht es aber letztlich doch um etwas tieferes, eine Ebene unter dem Oberflächlichen – passend zu Neustädters Spielweise.

Beckenbauer war schnell und leichtfüßig, Neustädter ist robust und kräftig; dennoch ist Neustädter der modernere. Ist es die Differenz zwischen Rationalität und Emotionalität im Angeben des Offensivtaktes?

Beckenbauers Vorstöße waren oftmals Ausbrüche von Ungeduld, Unzufriedenheit und Ehrgeiz. Neustädters tödliche Pässe wirken dagegen kühl, geplant und systematisch. Sie scheinen eher zum realistischen Kontext des Spiels zu passen, als jene, die ich in den paar 90-Minuten-Spielen Beckenbauers gesehen habe. Diese Rationalität passt zum letzten Zitat Holtbys:

Holtby liefert sogleich die Erklärung für seine überaus mutige Einschätzung. Neustädter verspüre „keinen Pulsschlag, wenn er an den Ball kommt“.

Die Verbindung zwischen beiden, wenn auch von unterschiedlichen Herangehensweisen, ist dieser. Taktisch würden wir wohl von Pressingresistenz sprechen. Manche Experten, die auch auf Führungsspieler-Diskussionen stehen, würden es als natürliche Autorität auf dem Fußballplatz oder als Ausstrahlung bezeichnen. Andere würden einfach sagen, dass der werte Herr einen ziemlich ruhigen Ball schiebt.

Alle diese Erklärungen haben aber das gleiche Ergebnis, nämlich einen positiven Effekt auf die Mannschaft. Eine sichere Anspielstation in Drangphasen des Gegners, eine Anhaltspunkt in unruhigen Spielphasen und einen Referenzpunkt im Passspiel. Wahrlich, Roman Neustädter ist der Beckenbauer der Moderne.

Doch wir kehren von diesen Ausflügen in die Gefilde der philosophischen Bedeutung der Strategie und Pressingresistenz für den Offensivfußball wieder zurück zur eigentlichen Stärke Neustädters, der Spielintelligenz und Übersicht. Hier ist es die  FAZ selbst, die der Nachwelt ein schönes Zitat hinterlässt:

Im Koordinatensystem der Fußballtaktik besitzt Neustädter einen Blick für Raum und Zeit – und für Lücken, die es zu schließen gilt. Wenn er solch eine Lücke beim Gegner bemerkt, weiß er sich im Dienste der Mannschaft zurückzunehmen und seine Mitspieler in Szene zu setzen.

Zu schließende Lücken – nicht nur defensiv, sondern auch offensiv. Neustädters vielfältige Stärken in sämtlichen Spielaspekten, positiven Wechselwirkungen, Synergien (um alle Fachwörter und Klischees zu bedienen) kann man auf eine wundervolle Art und Weise beinahe auf nur diese beiden Sätze herunterbrechen. Neustädter spielt in seinen besten Zeiten so herrlich konstant, gleich und pulssschlaglos, dass er nicht nur für seine Mitspieler, sondern auch für den interessierten Zuschauer einen Ruhepol darstellt.

Man vergisst den Menschen hinter dem Fußballer, den unscheinbaren, sympathischen jungen Mann mit Tattoos und konzentriert sich auf seine präzisen Bewegungen und sicheren Pässe. Beinahe wirkt es so, als wären seine Tattoos das einzige, was wirklich etwas von ihm zu offenbaren scheint. Um dies aber auch auf fußballerischer Ebene zu repräsentieren, gibt es einen exklusiven Spielverlagerungsvorschlag für Roman Neustädter und ein mögliches neues Tattoo:

„Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.“
„Ein Barbar bin ich hier, weil ich von niemandem verstanden werde.“

Weil Roman Neustädter eben Roman Neustädter ist und wir eben wir sind, haben wir versucht unsere Affinität zu seiner Spielweise mit Zahlen, Daten und Fakten zu untermauern. Es ist eine Mischung aus Porträt und Analyse geworden, die mit vielen Zahlen garniert den Spieler Roman Neustädter näher führen soll.

gymnast 11. Dezember 2012 um 19:12

Wieder ein tolles…wenn auch etwas erwartbares Türchen. Danke dafür.

Schade finde ich nur, dass ihr bei Gladbach nicht euer Prinzip aufgebrochen habt. Denn die Frage für mich ist, was Gladbach gerade so außergewöhnlich gut macht, dass sie für die drei Top-Teams der Bundesliga den jeweiligen Königstransfer bereitstellen (Ich gehe mal einfach davon aus, dass Herr Reus auch noch hinter einer Tür steht) und ohne einschlagende Neuzugänge nur 3 Punkte hinter Dortmund und einen hinter Schalke liegen sowie nächstes Jahr Dienstreise(n) ins europäische Ausland terminieren müssen.

Zu Neustädter fällt mir nur eine Frage ein: Spielt er so gut wie Schalke spielt oder spielt Schalke so gut, wie er spielt?
Nach meiner sehr eingeschränkten Beobachtung sind seine Lesitungskurve und die seiner jeweiligen Mannschaft meist parallel. Mir ist nur nicht klar, was Ursache und Wirkung ist.

Antworten

Marc L 10. Dezember 2012 um 13:34

Ich kann es auch nur immer betonen, gerade in zeiten in den jeder Pseudo-Statistik-Experte Gesamtlaufwerte verweist, nur rennen ist bei weitem nicht alles.

Was bringen mir 14 Kilometer pro Spiel, wenn ich 13 Kilometer hinterher renne?

Mittelfeldspieler die wissen was um sie herum passiert, dass sind die ganz wichtigen Arbeiter.

Neustädter ist ohne Frage so ein Spieler.

Antworten

kalli 10. Dezember 2012 um 10:33

Ein wirklich sehr schönes, warmherziges Portrait. Passend zur Jahreszeit quasi.

So wie ihr über Neustädter sprecht, spreche ich in Werderkreisen über Tom Trybull. 🙂

Antworten

Rasengrün 10. Dezember 2012 um 01:31

Da wird mir ja ganz warm ums Herz. Zum einen wegen des schönen Porträts, zum anderen aber und noch viel mehr wegen des Ovid-Zitats. Da soll noch einer sagen, dass Fußball nur ein Sport für die plebejischen Massen sei.

Antworten

Tank 10. Dezember 2012 um 00:23

Ihr liebt den Mann, keine Frage. Aber wenn dabei so eine schöne Hommage rauskommt, dann dürft ihr auch mal gnadenlos parteiisch sein. Habe bisher nur wenige ganze Spiele von Neustädter gesehen, aber da wirkte er tatsächlich ziemlich gut. Finde den Busquets-Vergleich aus dem Podcast aber besser als den mit Beckenbauer. Schon rein von der Position her.* Und zu sagen, dass Beckenbauers Vorstöße nicht berechnet waren, ist Kaiser-Beleidigung und gehört sich somit nicht!

Und eh, der neue Beckenbauer ist Mats Hummels. Das ist keine Meinung, sondern das Benennen eines selbstevidenten Faktums! 😛

*Wobei Beckenbauer in seinen frühen Jahren ja auch im Mittelfeld gespielt hat. Kenne zugegebenermaßen fast nur den Libero Beckenbauer. Und das Finale ’66, aber da hat er ja den Kettenhund Charltons gegeben.

Antworten

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*