Formative Voraussetzungen der spielmachenden Neun

In den bisherigen Artikeln der Serie haben wir bereits kurz erklärt, dass im modernen Fußball die die tiefe spielmachende bewegliche Neun deswegen nur sporadisch auftauchte, weil durch die erhöhte Athletik eine gewisse Dominanz in Form von Ballbesitz nötig war.

Früher gab es diese Athletik und das daraus resultierende kompakte und kollektive Pressing über das gesamte Spielfeld nicht, weswegen die spielmachende Neun noch Gang und Gäbe war. Doch ein gewisses Grundmaß an kontrolliertem Ballbesitz ist nicht die einzige Soll-Voraussetzung für dieses taktische Mittel.

Es fällt auf, dass im nach-dem-WM-System-Zeitalter des Fußballs vorrangig ein Dreiersturm und seine Variationen dafür genutzt wurden. Ajax Amsterdam und der FC Barcelona in den 70ern mit Johan Cruijff, Lionel Messi bei den Katalanen seit 2009 sowie Francesco Totti bei der Roma Mitte der letzten Dekade. Hierzu sei gesagt, dass Totti eher eine hohe spielmachende Neun war, welche oftmals als umschaltende Neun fungierte.

Auch die Roma spielte auf Ballbesitz und mit drei Stürmern – von der Rollenverteilung her

Trotzdem hatten die Römer in 32 von 38 Ligaspielen mehr Ballbesitz als der Gegner und kamen im Schnitt auf fast 59% Ballbesitz, was eine starke Quote ist; in der Folgesaison lagen sie sogar nur vier Mal unter 50%, einmal zu zehnt, dreimal ohne falsche Neun. 59% bedeutet auch einen höheren Ballbesitz als Mannschaften wie Gladbach, Dortmund, Bilbao, Real, City, Swansea und United in der vergangenen Saison. Neun Mal lagen die Roma der 06/07er-Saison sogar über 65% Ballbesitz; Barcelona hatte in der gleichen Spielzeit mit Ronaldinho, Deco und Co. elf Mal über 65% Ballbesitz, in der siegreichen CL-Saison von 2005/06 waren es sogar nur sechs bei einem Durchschnittswert von knapp unter 60%.

die Roma 2007 im Spiel gegen Inter. Davor war es noch Mancini oder Tavano, der auf links agierte und auf rechts spielten Taddei oder Wilhelmsson

Eine Übersicht über die Partien mit weniger Ballbesitz klärt auch auf, wie es in jenen Spielen dazu kam:

  • Zwei Spiele ohne falsche Neun, einmal gegen Parma mit zwei Stürmern und einmal gegen Catania mit Vucinic vorne
  • Zwei Spiele gegen den späteren CL-Finalisten AC Mailand, wo sie beide Male früh in Führung gingen und sich aufs Kontern verlegten
  • Ein Spiel gegen Reggina mit 28 Torversuchen
  • Ein Spiel gegen Inter unter Roberto Mancini mit Ibrahimovic, Adriano und Figo vor einer defensiven, aber sehr spielstarken Dreierkette aus Stankovic, Zanetti und Cambiasso im 4-3-1-2, was in 51% Ballbesitz resultierte
  • Das letzte Saisonspiel, ein spektakuläres 4:3 gegen Messina

Die Formation war dennoch weitestgehend von der Rollenverteilung einem Dreistürmersystem entsprechend. Neben Totti agierten in diesem 4-3-3-0-System nämlich mit Rodrigo Taddei oder Christian Wilhelmsson einen dribbelstarken und vertikalen Flügelstürmer, der auch diagonal in die Mitte ziehen konnte. Dazu gesellte sich ein inverser Flügelstürmer in Amantino Mancino oder gar ein verkappter Mittelstürmer, wie es Francesco Tavano darstellte.

Dies ähnelt stark der Aufstellung Barcelonas mit Messi im Zentrum, dazu einen wie David Villa oder Thierry Henry auf links und einen wie Pedro oder Sanchez auf rechts. Unterschiede gab es in der Spielstärke dennoch, doch drei Akteure mit Stürmeraufgaben waren es dennoch, auch wenn die Roma mit einem nominell zentraloffensiven Akteur auflief. Zentral hatten sie mit Simone Perrotta einen zusätzlichen Mittelfeldspieler, welcher sich primär über seine Laufarbeit definierte – nicht über die Offensive oder eine Rolle als Stürmer.

Wieso der Dreiersturm für die falsche Neun wichtig ist

Die spielgestalterische und tiefe Interpretation des Mittelstürmers sorgt bekanntlich nicht nur für Überzahl im Mittelfeld, sondern auch für eine fehlende Besetzung des Mittelstürmers. Diese vakante Position sorgt oftmals dafür, dass ein stürmerloses System viel Kritik erhält – beispielsweise bei der Europameisterschaft, wo Spanien medial einstecken musste, ob ihrer Spielweise und der fehlenden Durchschlagskraft.

Doch Spanien tat sich immer dann schwer, wenn sie neben der falschen Neun zwei weitere Mittelfeldspieler auf den Flügeln hatten, die auch von der Aufgaben- und Rollenverteilung her so agierten. Dadurch fehlte es ihnen trotz hoher Außenverteidiger an der Breite im letzten Drittel, das Zentrum war sogar zu sehr überladen und nach vorne gab es keine Anspielstationen in der Tiefe.

ein 4-2-3-1 mit tiefer spielmachender Neun hängt immer davon ab, wie sich der zentraloffensive Akteur dahinter und die Flügelstürmer verhalten. Hier sieht man ein hypothetisches ineffektives Beispiel gegen ein 4-4-1-1

Vicente Del Bosque versuchte dies durch eine flexible Besetzung des Mittelstürmerposten zu beheben oder eben durch eine Einwechslung eines Stürmers auf dem Flügel. Andere Ansätze wie die schon erwähnten sehr hohen Außenverteidiger oder ähnliches funktionierten nur in bestimmten und seltenen Situationen, sind aber nicht konstant anwendbar.

Bei einem Dreiersturm hat die falsche Neun die passenden Freiheiten. Die beiden Mitspieler bieten Anspielstationen in der Breite und in der Tiefe, sie binden die gegnerischen Außenverteidiger und bei richtiger Positionierung oder in späteren Angriffsphasen (bspw. wegen überladender Außenverteidiger) die gegnerischen Innenverteidiger.

Die falsche Neun ist somit beim Zurückfallen in das Mittelfeld nicht zu verfolgen, hat dort ausreichend Räume zwischen den Linien und kann im Angriff bei richtigem Timing ungedeckt zum Abschluss aus dem Rückraum oder in bespielbaren Zonen vor dem Tor kommen. Anders sieht es bei alternativen Systemen aus.

Wenn man das Attribut „stürmerlos“ wörtlich nimmt …

… hat man ein großes Problem. Stellt man die Mannschaft in einem 4-2-3-1 (als Variante des 4-5-1 und nicht des 4-4-2, 4-3-3 oder 4-2-4) oder auch einem 4-1-4-1 auf, dann gibt es mit einer Spielweise des Mittelstürmers als falsche Neun fast nur Nachteile. Ohne die Flügelstürmer fehlt die Bindung der gegnerischen Viererkette in die Breite und auf Außen, das Isolieren des Innenverteidigers zur Verfolgung ins Mittelfeld funktioniert einfach.

bei einem 4-1-4-1 haben die beiden Innenverteidiger Vorteile gegen die falsche Neun, können sie verfolgen und die Flügel können nur schwer überladen werden, FALLS die Außenspieler ihre Rollen als Mittelfeldspieler und nicht als Stürmer interpretieren

Der Gegner kann auch durch die mangelnde Bindung nach hinten problemlos aufrücken, die Kompaktheit erhöhen und dadurch den Bewegungsraum der falschen Neun einengen. In gewisser Weise erzeugt das Zurückfallen der falschen Neun einen Mechanismus, welcher der gegnerischen Abwehrkette ein ideales Signal zum Aufrücken bietet und auch schwer durch Tiefensprints auszuhebeln ist.

Ist ein Stürmer wirklich genug?

Sogar bei zwei Stürmern kann die falsche Neun eine kontraproduktive Taktik bei einer erfahrenen Abwehrkette des Gegners sein. Wichtig ist hier, ob der zweite Stürmer entweder mit seiner Athletik und seiner Bewegung die Kette tief halten oder gar eine Rolle wie Alexis Sanchez beim FC Barcelona verkörpern kann.

Der Chilene läuft nominell als Flügelstürmer auf, aber beackert die gesamte Horizontale. Dadurch bindet er die Abwehr hinten und kann jederzeit mit einem Vertikalsprint in den Raum dahinter eindringen. Dadurch verkörpert er durchgehend Gefahr, welche eine starre und zentrale positionierte Neun nicht vermag.

Dennoch sollte man bedenken, dass bei einer Spielweise aus falscher und starrer Neun zumeist die letztere die Laufwege und das Ankommen mit Geschwindigkeit an den idealen Plätzen beengen wird. Ähnlich verhält es sich auch bei einem Vier-Stürmer-System, wobei diese Spielweise aufgrund der durchgehend breitegebenden Flügelstürmer etwas besser zu spielen ist.

Neben dem System mit drei Stürmern ist auch die Anordnung mit deren fünf interessant, weil sie durch die räumliche Nähe zu zwei Halbstürmern jederzeit mit Rochaden überraschen kann sowie die Flügelstürmer die nötige hohe Breite geben. Dies war auch die Mitursache für die vielfach vorkommenden spielmachenden Neuner in den Zeiten des Fußballs vor Pressing und Co.

Zusammenfassend sei gesagt, dass die Formation als solche nicht wichtig ist – es ist die Anzahl der Stürmer im Sinne der Rollenverteilung, nicht ihrer genauen Position; was sich dann auch auf eine mögliche Installation der fluiden Neun auswirkt.

Wie Vicente del Bosques und Josep Guardiolas Alternativen mit der flexiblen Besetzung durch David Silva und Co., dem Einsatz von Alexis Sanchez als horizontaler oder auch Cesc Fabregas als vertikaler Ersatz gibt es natürlich wie immer Ausnahmen von der Regel. Dennoch ist es aus einer taktischen Sichtweise ideal, wenn es drei oder fünf Akteure gibt, wovon der zentrale Akteur die falsche Neun bekleidet.

Jose Mourinho 14. Oktober 2012 um 01:15

Ist es denn nicht viel effektiver, wenn die „falsche 9“ im Ballbesitz extrem hoch steht (also an der Abseitslinie), um sich dann im richtigen Moment explosionsartig nach hinten fallen zu lassen um dann den selbst-kreierten Raum zu nutzen?

vgl. MR Analyse:
„Paradoxerweise ist es also besser die Spieler in den Räumen zu platzieren, in denen sie schwächer sind. Dadurch können sie dann ihre bevorzugten Räume direkt anlaufen, was für Unordnung beim Gegner sorgt.“

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Felix 14. Oktober 2012 um 12:39

Habe ich zu einem anderen Artikel auch schon geschrieben. So könnte die False9 das Feld in die Länge ziehen, und dann, sobald die eigene Mannschaft den Ball erobert hat sich fallen lassen, als Anspielstation dienen und dann den Ball auf mitlaufende Mitspieler ablegen und so leicht die beiden IVs überwinden, die die False9 absichern müssen.

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Padh1j0 15. Oktober 2012 um 18:28

#Felix: Was du meinst, konnte man doch häufig bei Lewandowski letzte Saison sehen: dabei ließ er sich meiner Erinnerung nach viel auf die Außen auf Mittelfeldhöhe fallen und die Mitspieler konnten, während er den Ball hielt, aufrücken.

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Felix 15. Oktober 2012 um 23:43

Ich habe bisher wenig Spiele komplett von Lewandoski gesehen, deswegen kann ich das nicht einschätzen.
Meine Idee wäre, diese hohe Stellung des MS für Kontersituationen zu nutzen. Dadurch das er hoch bleibt, muss er abgesichert werden und hält so die IVs vorne, steht vllt sogar leicht im Abseits, um aus dem Blickfeld der IVs zu kommen, die sich so entweder auf ihn, oder auf das Spiel weiter vorne konzentrieren müssen. Bei eigenem Ballgewinn geht er dann dem Ball entgegen, bekommt den ersten Ball und sieht die Laufrichtungen seiner Mitspieler, denen er den Ball in den vollen Lauf legen kann. Wenn 1 Spieler aufrückt, ergäbe sich eine 2:2-Situation, wobei der MS den Ball nur ablegen braucht und dabei nicht leicht zu stören ist und schon hat der Mitspieler einen enormen Geschwindigkeitsvorteil dem 2. IV gegenüber.
Ich bin nur nicht sicher in wie weit das tatsächlich umsetzbar ist, vllt sogar schon umgesetzt wird.
Die Bewegungen von Lewandowski nach außen könnten in die Richtung gehen, aber da müsste ich mir Videos von ihm ansehen.

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Patric 13. Oktober 2012 um 22:43

Eine kleine Korrektur zur Abbildung mit der Aufstellung der AS Roma 2007: Mancini auf links und Taddei/Wilhelmsson auf rechts. Und die bevorzugte Viererkette war Tonetto, Chivu, Mexès, Panucci.

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RM 14. Oktober 2012 um 02:59

Das war die gängige Aufstellung, ich habe aber hier die Aufstellung aus einem bestimmten Spiel gewählt, nämlich jenem bekannten hohen Sieg im Cupfinale gegen Inter.

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recre 13. Oktober 2012 um 13:40

@RM super Artikel

Zwei Fragen…ist Barcas System unter Guardiola nicht ein 4-4-2 mit Raute und zwei falschen „7“ und die falsche „9“ ist einfach dem Spielertypus Messi geschuldet,der die 10er Position einfach reformiert hat?(Tito lässt die falschen „7“er als klassische Flügelspieler gebunden an den Flügeln angieren)
Warum klappt CR7-Benzema besser als CR7-Higuain?weil ersteres Paar die Rollen oftmals vertauschen,CR falsche „7“ rückt immer wieder hinein und Benzema lässt sich auf links fallen.Benzema ist einfach HS,der primär kombiniert anstatt den Torerfolg sucht(wie siehst du das)

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