AC Milan – Inter 0:1

Im Mailänder Derby trafen zwei schlafende Riesen aufeinander. Sowohl der AC als auch Inter haben enorme spielerische Probleme in der jüngsten Vergangenheit, bei Inter begann es mit dem Abgang José  Mourinhos, bei AC Mailand verfestigten sich die bereits angedeuteten Mängel im Kader nach den Transfers von Thiago Silva und Zlatan Ibrahimovic zu Paris St. Germain. Wir blicken auf die neuformierten Mannschaften und ihr Spiel gegeneinander.

Wechselwirkung der jeweiligen Formationen

Der Gastgeber formierte sich in einem 4-2-3-1 als Variante des 4-3-3. Als Sturmspitze begann Bojan Krkic, die Leihgabe von der Roma. Er sollte Bälle auf die Außen weiterleiten und sich mit Läufen in die Gasse für die Pässe von Riccardo Montolivo und Kevin-Prince Boateng freilaufen. Letzterer begann hinter ihm als zentraloffensiver Mittelfeldspieler vor der Doppelsechs, welche aus Riccardo Montolivo und Nigel de Jong bestand.

Die Aufgabenverteilung schien auf dem Papier klar verteilt, nämlich de Jong als Zerstörer und Durchlaufstation, während Montolivo sich nicht nur als tiefliegender Spielmacher präsentierte, sondern auch den vertikalen Part übernahm. Im Spielverlauf war de Jong jedoch auch aufgrund des frühen 0:1 für Inter überflüssig.

Grundformationen zu Spielbeginn

In seinen Räumen bewegte sich keiner und seine Orientierung nach vorne auf Esteban Cambiasso und Walter Gargano war wegen der Distanz zu jenen unpraktisch. Er erhielt nie im Ansatz Zugriff, verpasste es aber, dass er die Ausflüge von Antonio Cassano nach hinten einengte. Dadurch konnte er nur selten die anfallenden Konter unterbinden und war wegen seiner mangelnden Spielstärke eher ein Hindernis, als eine Absicherung oder gar Unterstützung.

Defensiv begann Milan mit einer anfangs sehr defensiv orientierten Viererkette. Philippe Mexes und Mario Yepes überließen die spielgestalterischen Aufgaben dem Mittelfeld und auch die Außenverteidiger interpretierten ihre Position klassisch. Mattia de Sciglio auf links und Daniele Bonera auf rechts trauten sich erst im weiteren Spielverlauf nach vorne, zeigen sich dabei aber ineffektiv.

Inter begann im 3-4-3, welches defensiv zu einem 5-2-3 wurde. In der Anfangsphase überzeugten die Nerazzurri  noch mit einem hohen Pressing und kamen nach einem ruhenden Ball zum Führungstreffer, danach beschränkten sie sich auf eine tiefere Stellung und das Konterspiel.

Mit Walter Samuel als zentralem Innenverteidiger hatten sie einen Ausputzer, der intelligent agierte und gelegentlich schon in der Linie vor der Abwehr Bälle erobert. Unterstützt wurde er dabei von Juan Jesus auf halblinks und Andrea Ranocchia als halbrechtem Innenverteidiger, welche ebenfalls bei Bedarf nach vorne rücken konnten.

Wichtig dafür waren die Flügelverteidiger, Urgestein Javier Zanetti und der etwas offensivere Yuri Nagatomo.

Defensivorientierte und inverse Wingbacks sorgen für Überzahl

Indem sie sich in der Defensive tief positionierten, was als gelernte Außenverteidiger kein Problem darstellte, sorgten sie für Kompaktheit und eine konstante Überzahl. Zumeist okkupierten sie die gegnerischen Flügelstürmer und ermöglichten es den Innenverteidigern gleich drei freie Mann zu stellen. Dadurch war es möglich, dass einer der Innenverteidiger beim Doppeln half oder sich Richtung Kevin-Prince Boateng orientierte.

Inters Dunstkreise in der Defensive: Schnittstellenpässe sind kaum möglich, Doppelungen funktionieren einfach, die Stürmer sind von Defensivaufgaben befreit

Dieser hatte deswegen wenig Zeit am Ball und konnte weder Angriffe einleiten noch selbst zum Abschluss kommen. Immer wieder wurde er von einem aufrückenden Abwehrspieler gestellt oder von den Sechsern des Gegners gedoppelt. Aufgrund der ineffektiven Spielweise von de Jong sowie Montolivos eher tieferer Ausrichtung als Ballverteiler und –zirkulator war er auf sich alleine gestellt, was ihm das Spielen schwer machte.

Inter tat gut daran, diesen Gefahrenherd auszustellen, da sich der AC darum trotz der auf dem Papier formativen Überzahl in der Mitte bei ihren Angriffen auf die Außen konzentrieren musste. Dort gab es jedoch mehrere Probleme.

Die Rolle der Außenverteidiger

Da größte Problem waren die Außenverteidiger. Weil sie zu Spielbeginn selten hoch und dynamisch mitaufrückten, fehlten die Überzahlen und Inters Spielweise funktionierte problemlos. Erst im Verlauf der ersten Spielhälfte gab es für de Sciglio die Anweisung sich nach vorne miteinzuschalten. Kurz darauf kam sie dann sogar für den als offensivschwach geltenden Bonera.

Prompt erhielt Milan mehr Zugriff auf den gegnerischen Sechzehner und konnte sogar etwas höher agieren, allerdings rückte Inter kaum von seiner Spielweise ab. Stattdessen wurde der Außenverteidiger erst im Lauf gestellt und sie spekulierten auf deren schwache Hereingaben, was sich letztlich als richtig erweisen sollte.

Das bedeutete, dass Inter weiterhin drei Stürmer isoliert vorne abstellen konnte. Das Ziel war es, dass sie schnelle Konter fahren konnten und mittelfristig die gegnerischen Außenverteidiger wieder nach hinten rücken wollten.

Um diese Konter ohne Verbindungsspieler einzuleiten, positionierte sich Cassano als zentraler Mittelstürmer und schob Diego Milito nominell auf den rechten Flügel hinaus. Die Rollenverteilung war jedoch eine andere. Cassano ließ sich immer wieder nach hinten fallen und diente im Rückraum von de Jong und Montolivo als Anspielstation in der Tiefe. In weiterer Folge rückte Milito nach innen und okkupierte die gegnerischen Innenverteidiger.

Rechtsaußen Philippe Coutinho hatte dabei eine Freirolle inne, er konnte entweder die Breite geben oder sich im Angriffsverlauf Richtung Tor bewegen. Nachdem die Außenverteidiger höher aufrückten, suchte Cassano die Räume hinter ihnen und das Spiel wurde noch stärker auf den finalen Stoß per Konter ausgelegt. Doch als das zweite Tor nicht fiel und der AC dem Ausgleich näher schien, wechselte Inter mit Fredy Guarin für Coutinho einen defensiven Spieler ein und igelte sich ein.

Die zweite Halbzeit als hochinteressantes Trainerduell

Mit Guarin im Zentrum entstand ein 3-5-2, welches defensiv ein 5-3-2 wurde. Durch die Dreierkette im Mittelfeld konnten die Flügelverteidiger besser unterstützt und die Außenverteidiger des Gegners besser attackiert werden. Allerdings erhielt Nagatomo kurz nach dem Seitenwechsel die rote Karte und Massimo Allegri wechselte Ignazio Abate für mehr Offensivstärke statt Daniele Bonera ein. Gegen zehn Mann war diese offensive Ausrichtung der beiden Außenverteidiger in Rückstand mehr als vertretbar.

nach fast einer Stunde waren dies Grundformationen

Andrea Stramaccioni reagierte mit der Einwechslung Alvaro Pereiras. Der Neuzugang kam für Antonio Cassano und nach einer kurzen Übergangsphase mit Viererkette stellten sie nun komplett auf eine Fünferkette um. Pereira fand sich auf links wieder, Zanetti spielte rechts und es entstand ein 5-3-1, in welchem Milito als Konterstürmer agierte.

Mit dem vierten Wechsel innerhalb von zehn Minuten fand Allegri abermals eine passende Antwort: mit Robinho kam ein neuer Flügelstürmer, Urby Emanuelson ging als sehr offensiver und richtigfüßiger Linksverteidiger in die Abwehrkette, für ihn musste Rechtsfuß di Sciglio weichen.

Jetzt hatte der AC mit Abate und Emanuelson zwei sehr offensive und auch fähige Außenverteidiger, wodurch die Flügelstürmer eine Freirolle erhielten. Sie mussten nicht mehr selbst die Breite im letzten Drittel geben, was der Partie gut tat. Boateng schob nach vorne und orientierte sich stärker an Krkic, womit Milan Räume zwischen den Linien für die beiden Flügelstürmer öffnen wollte.

In einem beachtenswerten Trainerduell reagierte Stramaccioni darauf unorthodox: ein asymmetrisches 4-4-1, in welchem die Mittelfeldkette nach links verschoben wurde, sorgte für mehr Höhe im Angriffsspiel und besserer Befreiung aus dem Klammergriff des AC. Dadurch konnte offensiv mit Pereira und Guarin gekontert werden, während Cambiasso zentral und Gargano halbrechts absicherten.

Defensiv konnte immer wieder zwischen dem 4-4-1 und einem 5-3-1 gewechselt werden, auch wenn das System primär wieder eine Viererkette war. Durch diese Flexibilität hatten sie aber jederzeit die ideale Antwort auf die gegnerischen Angriffsbewegungen parat. Eine herausragende Idee des Inter-Trainers, welche den gewünschten Effekt mit sich brachte und die Feldüberlegenheit Milans trotz Unterzahl zu zerschlagen wusste.

und in der Schlussphase sah es so aus

Die nächste Episode des Trainerduells begann in der 71. Minute. Rodrigo Palacio wurde eingewechselt, er sollte statt Milito mehr Dynamik ins Angriffs- und besonders das Umschaltspiel bringen. Bei Milan gab es ebenfalls eine Veränderung. El Shaarawy wurde von Gian-Paolo Pazzini ersetzt, welcher für mehr Präsenz im Strafraum sorgen sollte.

Mit Boateng und Pazzini gab es zwei großgewachsene Anspielstationen für hohe Bälle in die Mitte, während Krkic eine Ebene nach hinten rückte. Boateng spielte beinahe als halbrechter Mittelstürmer, nutzte aber seine Laufstärke für ein gutes Rückwärtspressing und unterstützte weiterhin das defensive Zentrum in der Defensivarbeit.

Abate und Emanuelson agierten enorm breit und hoch, machten dadurch das Spiel breit und Inter tat sich jetzt schwer, wieder nach vorne zu kommen. Die Konzentration auf die Flügel sorgte aber für viele Halbfeldflanken, welche relativ selten für Gefahr sorgten. Bei zwanzig Abschlüssen vom AC kamen nur fünf auf das Tor von Samir Handanovic, da halfen dann auch keine 67% Ballbesitz oder vierzigminütige Überzahl. Die Brechstange brachte nicht die nötige Durchschlagskraft, obwohl sich in den letzten Minuten sogar Yepes nach vorne orientieren durfte und Montolivo mit de Jong für ihn absicherte.

Fazit

Aus taktischer Sicht ein tolles Spiel, besonders nach der zweiten Halbzeit. Eine Vielzahl von kleinen Anpassungen und zahlreichen tollen taktischen Ideen überschattete die abgefallene individuelle Qualität in diesem Klassiker. Auch zu Spielbeginn gab es mit der Fünferkette und dem vereinzelten Herausrücken bei Inter, den beweglichen Neunern auf beiden Seiten, die Ineffektivität des 4-4-2-Pressings gegen eine Dreierkette sowie der Anpassungen auf den Außenverteidigerpositionen mit ihren Auswirkungen bei Milan interessante Aspekte zu beobachten. Nach der Halbzeit wurde dies noch von einem bemerkenswerten Trainerduell getoppt, welches Stramaccioni für sich entschied.

RD 17. Oktober 2012 um 11:54

kleiner Tipp:
Yuto nicht Yuri Nagatomo 😉

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Niko 10. Oktober 2012 um 20:54

wieso hat die 3er kette mit gasperini nicht funktionert lag es an dem spieler material?

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Daniel 10. Oktober 2012 um 09:13

Einfach geil diese taktischen Scharmützel….vor allem der Einzug der Dreierkette scheint sich zu verstärken. Dies bietet meines Erachtens enorm viele taktische Varianten im Spiel gegen Viererketten, siehe Inter 3-4-3 mit falscher Neun!

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GH 9. Oktober 2012 um 18:54

Dieses Jahr hat sich Inter aber wieder deutlich verstärkt im Vergleich zu letztes Jahr. Vor allem haben sie jetzt wieder einen breiteren Kader und eine größere Flexibilität. Ich glaube eigentlich, dass Inter dieses Jahr mit um den Titel spielen wird. Oder wenn nicht dieses Jahr, dann auf jeden Fall nächstes Jahr, weil sie auch damit begonnen haben den Kader zu verjüngen. Es dürfte sich eigentlich zwischen den alten und jungen Spielern eine hervorragende Ausgeglichenheit herauskristallisieren. Auch der Trainer scheint zu wissen, wie er seine Spieler am besten einsetzt.
Deswegen würde ich sagen, dass Inter auf jeden Fall wieder vorne mitspielen wird.

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Lino 9. Oktober 2012 um 16:35

Hab zwar aufgrund des Clasicos nur die zweite Hälfte sehen können, muss jetzt aber trotzdem meinen Senf dazu geben. Ich habe selten einen AC Mailand gesehen, der so plan- und ideenlos gespielt hat. Meiner Meinung nach liegt das Problem eindeutig in der fehlenden spielerischen Klasse im Zentrum begründet. Einzig und allein Montolivo bringt hier grundsätzlichste Voraussetzungen mit und weder Boateng und schon gar nicht de Jong besitzen hierfür die nötige Spielintelligenz und Passstärke. Wenn ich dann auch noch mit Außenverteidigern agiere, die in der Vorwärtsbewegung unglaublich schwach sind und noch nicht mal den Versuch unternehmen, aufzurücken, dann nützen mir auch meine inversen Außenspieler in der Offensive nichts, da niemand ihre Bewegung ergänzt. Ohne jetzt auf die Details des Spiels einzugehen, muss gesagt werden, dass es beim AC Mailand an einer ganz grundsätzlichen Strukturierung der Spielweise mangelt, da immer noch versucht wird, wie letzte Saison ballbesitzorientierten Fußball zu spielen, aber leider nicht mehr das Spielermaterial vorhanden ist! Warum hier mal nicht die Spielweise an die eigenen Möglichkeiten angepasst wird, ist mir ein Rätsel. Ideen dafür hätte ich zur Genüge. Inter hat das scheinbar eher begriffen. Sie sind spielerisch ähnlich limitiert, haben aber ihre Spielweise dahingehend angepasst.

PS: gute Analyse
PSPS: der Geschwindigkeits-Kontrast zwischen Clasico und dieser Partie war echt erschreckend. Zeitweise dachte ich meine Internet-Verbindung läuft nicht mehr rund, so langsam war das Spiel 😉

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