OSC Lille – AS Nancy 1:1 | Das Trinkpausenspiel
Nachdem diese beiden Teams am ersten Spieltag der Ligue 1 jeweils gewonnen hatten, trafen Lille und Nancy am Freitagabend im neuen Stadion des Meisters von 2011 aufeinander. Interessant war diese Partie, weil Nancys Trainer in der neuen Trinkpause wirkungsvolle taktische Anweisungen gab.
Lille ohne Hazard – der neue Spielmacher heißt Martin
Trotz des Abgangs von Supertalent und Topspieler Eden Hazard, der für 40 Millionen zu Chelsea abwanderte, kann Lille weiterhin auf eine gute Truppe setzen. Mit dem ablösefreien Champions-League-Sieger Salomon Kalou von eben jenem Chelsea sowie Frankreichs EM-Fahrer Marvin Martin, der von Sochaux verpflichtet wurde, kamen zwei neue wichtige Offensivspieler, die sich auch beide direkt in der Stammelf wiederfinden.
Martin hat im System von Lilles Trainer Rudi Garcia eine besondere Funktion inne – nominell als Zehner spielend füllt Martin eine sehr bewegliche Rolle aus, was er dank seiner polyvalenten Spielweise gut beherrscht. Dabei bewegt er sich sowohl sehr viel auf den Außenseiten, um dort die beiden sehr schnellen und trickreichen Flügelspieler zu unterstützen, als auch zurückfallend in die Tiefe, um das Spiel stärker zu gestalten.
Diese Doppelrolle aus dominantem und kombinativem Spielmacher ist im Prinzip eine sinnvolle Idee, doch das Problem liegt eine Ebene dahinter, denn hier spielen anstatt einem bereits zwei Spieler, die auf die Ballverteilung fokussiert sind – die beiden Sechser Mavuba und Pedretti. Zwar rücken beide schematisch mit auf, starten aber keine geradlinigen Läufe in die Spitze. So besteht die Gefahr, dass durch Martins zusätzliches Zurückfallen eine enorme Spielkontrolle mit viel Ballbesitz erzeugt wird, aber vorne die Durchschlagskraft und die Präsenz abhanden kommen.
Viele Flügelangriffe und die Entwicklung der Halbraumnutzung
Dies war auch ein Problem in dieser Partie gegen Nancy – trotz Werten um die 70 % Ballbesitz und vielen Anläufen schaffte Lille wenig Durchschlagendes (nur 4 Abschlüsse kamen auf das Tor, etwa 60 % der Schüsse wurden außerhalb des Tores abgegeben). Weil die Außenspieler der Gäste sich sehr direkt und meistens zu dogmatisch an den weit aufrückenden Außenverteidigern Lilles orientierten, gelang es den Hausherren leicht, Nancy in eine 6-3-1-Stellung zu drücken. Neben den drei engen Mittelfeldspielern der Gäste entstand somit in den Halbräumen Raum für die aufbauenden Mittelfeldspieler und die aufrückenden Innenverteidiger. Besonders auf der rechten Seite spielte Bería besonders hoch und sorgte so für viel Platz im Mittelfeld.
Mit dem zumindest auf halbrechts aus der Innenverteidigung aufrückenden Rozehnal, einem zurückfallenden Martin und den beiden Sechsern, die ohnehin gerne diese Räume besetzten, bedrängte man sich hier allerdings gegenseitig. Im Gegenzug fehlten die Verbindungen in die Offensive, so dass Pedretti und Martin sich immer wieder zu Verlagerungen und längeren Pässen hinter die Abwehr oder auf Zielstürmer de Melo hinreißen ließen, welche aber kaum erfolgreich waren.
Insgesamt konzentrierte sich das Spiel der Hausherren ziemlich stark auf die Seiten – insgesamt fast 80 % der Angriffe gingen über die Flügel, satte 50 % aller Angriffe über die besonders dominante rechte Flanke. So rückten Pedretti und Mavuba kaum auf, sondern befanden sich meistens in den freien Halbräumen, sicherten ab und spielten ihre Pässe. Damit blieben sie schematisch weit hinter den hohen Außenverteidigern zurück. Trotz deren offensiver Ausrichtung rückten die jeweiligen Flügel recht wenig zur Mitte, sondern blieben meist in starker Nähe zu ihren Partnern.
Meistens wurde dann versucht, sich mit Unterstützung von Martin über die Seiten nach vorne zu spielen, so dass die Mitte relativ wenig benutzt wurde. Allerdings lief dabei etwas zu viel über rechts, so dass Payet auf links unschlüssig leicht eingerückt im losen Halbraum herumstand und seine Klasse zu wenig einbringen konnte, was die Offensive Lilles nicht stärkte. Jedenfalls funktionierte die Strategie der Hausherren erst im Laufe des Spiels, als es Martin besser gelang, die Halbräume seinen Kollegen zu überlassen und stattdessen eine spielerische Brücke zwischen jenen und den beiden Spielern auf den Außen herzustellen (in der ersten Halbzeit hatte er noch mehr Ballkontakte als jeder andere Spieler seiner Mannschaft, in der zweiten Halbzeit verbuchte er nicht einmal halb so viele wie Mavuba hinter ihm).
Auf Basis ihrer Spielkontrolle setzte Lille diese Strategie sehr konsequent um und kam deshalb trotz einer gewissen Vorhersehbarkeit mit der Zeit irgendwann zu seinen Chancen durch die Flanken, die sie nach ihren Flügelangriffen schlugen (insgesamt 24). Bei der ersten Chance scheiterte der kraftvolle Stoßstürmer de Melo noch über Umwege am Keeper, kurz vor der Pause sorgte Kalou per Kopf für den Ausgleich, als er sich zusätzlich als Abnehmer zur Mitte bewegte – nach Flanke von Martin. Auch die lange Zeit beste Chance des zweiten Durchgangs entstand nach einer sehr ähnlichen Situation.
Auch Nancy fehlt die Durchschlagskraft
Lilles Vorgehen mit den sehr konsequent etwas nach außen in die Halbräume schiebenden Sechsern sorgte für große Offensivkontrolle, hatte aber auch seine defensiven Risiken. Bei Kontern entstanden ein ums andere Mal Lücken in der Mitte im Raum vor der Abwehr, durch welche Nancy mit schnellen Kontern brechen konnte. Besonders Moukandjo stieß hier aus dem Zentrum vor und unterstützte Mollo.
Auch aus dem Aufbau heraus kamen die Gäste gerne durch das Zentrum, besonders Bakar zog dabei in die Mitte – in 40 % der Fälle spielte Nancy ihre Angriffe durch die Zentrale. Trotz zwei durchaus defensivstarken Sechsern gelang es Lille nicht, die zentralen Räume gegen die vier beweglichen Offensivspieler Nancys zu schließen – zum Glück für Lille spielten sie ebenso wie bei ihren Kontern die meisten Situationen, wenn sie Räume vorfanden, nicht gut aus.
In vorderster Front versuchte sich Mollo als Wandspieler, doch die Situationen, in denen man mit mehreren Spielern in der Zentrale freie Räume besetzen konnte, wurden besonders deshalb schlecht gespielt, weil es in Strafraumnähe an vertikalen Läufen und Zug zum Tor fehlte. Die Offensivspieler wussten nicht, wie sie sich zueinander verhalten sollten und zeigten fast ausschließlich horizontale Läufe. Dadurch gab es viel Fluidität, aber wenig Durchschlagskraft. Was durch diese Art von Bewegung vereinfacht wurde, waren Dribblings und Distanzschüsse, da für den Ballbesitzer Platz geschaffen wurde. So war es nicht verwunderlich, dass Nancy 80 % seiner Abschlüsse außerhalb der Distanz verbuchte, nur einen dieser Bälle auch auf das Tor bekam und seinen einzigen Treffer – eben jenen Schuss – aus der Distanz erzielte. Bakar zog zur Mitte, gleich drei Kollegen zogen durch horizontale Bewegungen Gegenspieler weg und der Ball schlug aus etwas mehr als 20 Metern zur zwischenzeitlichen Führung ein.
Die Trinkpause vor der Endphase
Wie auch in der Schweizer Liga wurden für die ersten Spiele in der Ligue 1 generell kurze Trinkpausen während des Spiels eingeführt – wenn auch nicht alle 15 Minuten, wie in der Schweiz aufgrund der Hitze geplant. Diesmal gab es zwei dieser Unterbrechungen, jeweils Mitte der Halbzeiten. In der Pause des zweiten Durchgangs gab Trainer Jean Fernandez seiner Mannschaft allerdings auch noch kurze und durchaus entscheidende Anweisungen, während diese sich erholten.
So lange Lille noch viel über Außen gespielt hatte, konnte Nancy es sich erlauben, in das 6-3-1 gedrückt zu werden, weil man so trotz fehlender Spielkontrolle immerhin stabil stand und auf den Flügeln kein Risiko einging, sondern zurückwich und absicherte, wo Lille angriff. Weil nach etwa einer Stunde Spielzeit allerdings Payet und vor allem Kalou sich immer mehr auch zentral anboten und freiliefen, bekam Nancy während der zweiten Halbzeit Probleme mit der Dichte der eigenen Defensive.
Die drei „verbleibenden“ Mittelfeldspieler mussten immer alleine zur Seite schieben, passten sich dabei aber nicht immer genau gegenseitig an und ließen dann – zumal sie nur zu dritt eine Reihe bildeten – Lücken für Pässe zwischen sich. So kam Lille mehrmals zwischen den Linien in sehr gute Positionen – für Nancy wäre es gefährlich geworden, hätten die Hausherren nicht einige schlechte Entscheidungen getroffen (zu oft den Weg wieder nach außen).
Nancys Trainer Fernandez erkannte diese potentielle Gefahr und erklärte den Spielern dann im „Timeout“, was zu tun war. Dabei handelte es sich „nur“ um einen grundlegenden Basis-Aspekt, so dass er auch in einem eigentlich nur für kurzes Trinken gedachten Break kommuniziert werden konnte. Da der Gegner aus Lille nun auch die Räume des Feldes insgesamt mehr und ausgeglichener nutzte, musste Nancy deutlich raumorientierter spielen – diese Raumorientierung hatte vorher gefehlt, wie man an der strikten Verfolgung der Außenverteidiger Lilles hatte erkennen könnten.
Nach der Trinkpause übergab Nancy auf der Außenbahn die gegnerischen Spieler besser und sinnvoller je nach Situation und konzentrierte sich daher mehr auf Raum und Gegebenheiten als auf Mann und Zuteilungen. Daher wurden in den meisten Fällen die offensiven Außenverteidiger Lilles durch ihre Pendants verteidigt, da die Gastgeber die Außen praktisch nur noch einfach besetzten.
Stattdessen konnte Nancy die Räume im Mittelfeld viel besser durch eine nun erreichte horizontale Kompaktheit zusperren, weil man wieder eine zu den Seiten kompaktere Vierer- oder Fünferreihe im Mittelfeld hatte. Folglich konnten Pedretti und Mavuba leichter unter Druck gesetzt und die Offensivspieler zwischen den Linien durch geringere Abstände zwischen den Mittelfeldspielern besser in den Deckungsschatten gestellt werden. Beides zusammen führte in der Endphase zu enorm vielen Ballverlusten im Bereich der Sechser und gefährlichen Kontern für Nancy, die aber einmal mehr nicht gut ausgespielt wurden. Lille verlor seinen Rhythmus und kam nicht mehr richtig ins Spiel. Nach dem umstrittenen Platzverweis für Nancy mussten diese ihr Pressing aufgeben, so dass es auf beiden Seiten keine Gefahr mehr gab.
Fazit
Auch ohne Hazard ist es dem OSC Lille gelungen, eine sehr dominante und kontrollierende Mannschaft auf die Beine zu stellen. Allerdings fehlt es dem Team erheblich an Durchschlagskraft, da man noch die richtige Balance und eine Verbindung zwischen Kontrolle und Spiel im letzten Drittel herstellen muss. Gleichzeitig gilt es noch an der Feinabstimmung der Offensivspieler zu arbeiten. Der Ansatz, durch mehrere nah beieinander spielende Offensivakteure Bereiche zu überladen, ist sehr sinnvoll, sollte aber in verschiedenen Räumen Anwendung finden und sich nicht wie diesmal etwas zu viel auf die rechte Außenbahn beschränken. Dazu muss gesagt werden, dass wenn Debuchy diese sehr offensive Rolle wieder bekleidet und nicht abgegeben wird, eine gewisse Dominanz der rechten Seite und auch die flankenorientierte Spielweise schon mehr Sinn machen. Auch wenn diesmal bereits ein Tor nach einer Flanke erzielt wurde, sollte diese Taktik mit Debuchy doch noch einmal deutlich effektiver sein, was eine Bevorzugung dieser Spielweise rechtfertigen würde, solange die restlichen Optionen des Spiels nicht zu sehr vernachlässigt werden.
Besonders interessant war, wie das Timeout in der zweiten Halbzeit – eigentlich nur als Trinkpause gedacht – von Nancy-Trainer Fernandez dazu verwendet werden konnte, seine Mannschaft auf das etwas variable Spiel des Gegners einzustellen. Dies war allerdings nur möglich, weil es sich um eine großflächige Basis-Veränderung ging, die leicht zu vermitteln war. Dennoch kann man nach diesem Spiel erahnen, wie ein „wahres“ Timeout, das beispielsweise in anderen Sportarten Gebrauch findet, einem Fußballspiel noch einmal jenen „Pfeffer“ geben könnte, von dem Jürgen Klopp bei seiner Forderung nach dieser Regeländerung spricht. Zwei kurze Unterbrechungen im Spiel könnten tatsächlich interessante Auswirkungen haben und für einen taktischen Mehrwert sorgen. Möglicherweise könnte man auch einfacher den Grad einer taktischen Entwicklung im Spiel auf die Einflussnahme des Trainers zurückführen.
1 Kommentar Alle anzeigen
Jo 19. August 2012 um 00:25
Ohne den Artikel gelesen zu haben: Vielen Dank dafür! Ich habe gestern die 2. Halbzeit gesehen und das Spiel hat mich an sich gefesselt. Es war unheimlich attraktiv, ich weiß nicht warum. Dazu die beiden britischen Kommentatoren, die mit ihrem unterhaltsamen Vortrag bei mir für großes Schmunzeln gesorgt haben.