Hannover 96 – Atletico Madrid 1:2
Hannover 96 fehlte es an Präsenz und Verbindungen im offensiven Zentrum, um einen kompakten und durch Flanken wenig bedrohten Gegner zu knacken.
Nach der vom Ergebnis her äußerst knappen Hinspielniederlage trat Hannover mit einiger Hoffnung zu diesem Spiel an. Eine bedeutende Rolle im Spielverlauf nahm auch die Ausgangslage ein, welche beide Teams in ihrer Spielweise stark beeinflusste.
Taktische Grundausrichtungen
Vom dominanten und spielstarken Atletico-Angriff, der Hannover gerade zu Beginn des Hinspiels noch so große Probleme bereitet hatte, war in dieser Partie nichts mehr zu sehen. Stattdessen wollte man bei den wenigen Offensivaktionen kein Risiko eingehen und nicht zu schnell nach vorne spielen und überließ somit Hannover über weite Strecken den Ballbesitz. Auch personell gab es bei den Spaniern drei Wechsel: Perea, Tiago und der Ex-Bremer Diego kamen für Juanfran, den gesperrten Gabi sowie Arda Turan in die Mannschaft. Dadurch ergab sich eine ziemlich asymmetrische taktische Ausrichtung bei den Gästen, die vor allem auf die offensive Dreierreihe vor der Viererkette und den beiden vorsichtigen defensiven Mittelfeldspielern zutraf: Hier agierte Koke auf rechts deutlich tiefer und konservativer, während der nominell auf links spielende Diego weiter in Richtung Zentrum zog. Falcao rochierte nach hinten sowie auf beide Außenseiten und Adrián drängte schräg nach links-vorne in die von Falcao geöffneten Räume. Für die nötige Breite rückte auch der Linksverteidiger Filipe Luis deutlich mehr mit nach vorne auf, was dafür sorgte, dass man stark über diese Flanke spielte, während die rechte Seite deutlich defensiver war.
Auch die Niedersachsen traten mit einer klaren Asymmetrie in ihrer Formation an. Hier war es die eigene rechte Seite, über welche bevorzugt angegriffen wurde, während Rausch auf der anderen Flanke relativ breit und als klassischer Außenspieler agierte. Auf der rechten Seite spielte dagegen mit Ya Konan ein deutlich offensiverer und auch spielstärkerer Akteur, der zudem vom abkippenden Schlaudraff sowie in verstärktem Maße Pinto und gelegentlich sogar Diouf unterstützt wurde. Interessant war hier, dass nicht nur Ya Konan und Schlaudraff, sondern auch Ya Konan und Pinto gelegentlich die Positionen wechselten, was gerade dann nützlich war, wenn man wieder auf Defensive umschalten musste und die Positionen im 4-4-2 situativ besetzen konnte. Mit diesem Überladen wollte man entweder Diego defensiv binden oder etwaige Defensivschwächen ausnutzen.
Hannover fehlt jegliche Gefahr
Allerdings funktionierte dieses theoretische Konzept in der Praxis nicht wirklich gut. Zwar dominierte Hannover den Ballbesitz, verbuchte in dieser Kategorie am Ende einen Wert von fast 57 % und hatte damit deutlich mehr Kontrolle als noch im Hinspiel, doch diesmal überließ der Gegner den 96ern auch das Spielgerät und diese mussten für ihre Dominanz nicht ganz so viel tun. Zugutezuhalten ist dem Tabellenfünften der Bundesliga allerdings, dass man durchaus gut presste und mit der typischen 1-3-Stellung im Mittelfeld den Gegner unter Druck setzte.
Jedenfalls gelang den Hannoveranern im Zusammenspiel auf der rechten Seite viel weniger als erhofft, so dass man sich keine einzige gute Torchance im ersten Durchgang erarbeiten konnte. Dazu trug sicherlich auch bei, dass die Hannoveraner Spieler allesamt keinen guten Tag erwischt hatten, spielerisch daher nicht viel gelang und man aufgrund der Gefahr eines Gegentreffers zunächst einmal sehr reserviert agierte.
Schließlich war auch das Defensivspiel Atleticos ein weiterer Faktor für die Harmlosigkeit der Hausherren: Koke agierte teilweise sehr defensiv und wie ein zusätzlicher zentraler Mittelfeldspieler auf halbrechts, was für eine kompakte 4-3-Stellung sorgte, mit der man die Schnittstellen besser verschließen, mit den zentralen Mittelfeldspielern einfacher auf die rechte Hannoveraner Angriffsseite verschieben und somit ihr Zusammenspiel in diesem Feldbereich effektiv verbarrikadieren konnte. Die wenigen Flanken, die Hannover somit als praktisch einziges offensives Mittel zeigte, waren dabei allerdings genauso enttäuschend harmlos wie ihre unzähligen Standardsituationen.
Um den auf diesem Wege nicht beizukommenden und kompakten Gegner zu knacken, fehlte es den 96ern insbesondere an Präsenz und Verbindungen im offensiven Zentrum. Hier war man zu unterbesetzt – auch weil Rausch enorm breit stand und damit zu stark von seinen Kollegen isoliert war und Pinto eher abwartend agierte, um den zwar laufstarken und robusten, aber etwas behäbigeren Schulz nicht allein zu lassen, so dass aber der Zehnerraum stark verwaiste und sich damit in der Zentrale, als Alternative zu den Flügeln, nicht genügend Bindungen zwischen Sturm und Mittelfeld aufbauten.
Zweite Halbzeit: Atletico nach Umstellung überlegen und in Führung, dann Hannover nach Auswechslungen besser und mit dem Ausgleich
Personell änderte sich zur zweiten Halbzeit nichts, doch Atleticos Trainer Diego Simeone hatte sich eine andere Umstellung überlegt. Nun agierte Diego nicht mehr auf der (halb)linken Seite, sondern tauschte die Position mit Adrián und durfte sich folglich im Zentrum aufhalten. Damit gewannen die Angriffe der Gäste sofort merklich an Struktur und einer dritten ordnenden und gestalterischen Kraft im Mittelfeld.
Die erste Viertelstunde nach Wiederbeginn war somit die stärkste Phase der sonst recht vorsichtig agierenden Madrilenen. Ihr Führungstreffer, der in diesem Zeitabschnitt fiel, trug allerdings den Stempel wie aus der ersten Halbzeit, denn es war die Zusammenarbeit zwischen Falcao und dem in dieser Szene wieder zentraler agierenden Adrián, die essentiell für den Torerfolg war. Erstgenannter zog mit seinen typischen Läufen einen Innenverteidiger heraus, Adrián stieß in die entstandene Lücke und Unordnung in Hannovers Hintermannschaft, wurde mit einem Diego-Pass von halblinks bedient und verwandelte schließlich mit ein wenig Glück, aber sehr viel Klasse.
Kurzzeitig schien die Luft endgültig aus dem Spiel hinaus gewichen zu sein, doch Hannover besann sich in der Schlussphase noch einmal. Auch bei ihnen waren es die Umstellungen, in diesem Falle die Auswechslungen Slomkas, die für eine entscheidende Verbesserung sorgten und die Niedersachsen zurück ins Spiel brachten – für die letzten 20 Minuten kamen Abdellaoue und Schmiedebach für Rausch und Schulz.
Zum einen sorgte das bewährte Mittelfeld-Duo Pinto-Schmiedebach für mehr Beweglichkeit im Zentrum, wo man nun mehr Raum abdecken und sich mutiger nach vorne einschalten konnte: Einer der beiden sicherte hinten ab, während der andere in einer sehr freien Rolle im Zentrum und auf den Außenseiten unterstützte. Zum anderen standen Schlaudraff und Ya Konan auf den Außenbahnen zentraler als vorher und sorgten für mehr Druck und Qualität im Zentrum. Gerade der Rechtsdrang wurde durch Schlaudraffs Verschiebung auf die andere Seite aufgehoben, was das Spiel sichtlich entzerrte, den 96-Spielern durch die klarere Struktur auf dem Spielfeld in Sachen Orientierung zu helfen schien und Atleticos Abwehr stärker beschäftigte. Insbesondere nach Seitenverlagerungen auf die rechte Seite und den vorstoßenden Cherundolo postierte sich Ya Konan geschickt leicht eingerückt im Halbraum und konnte dann in der Schnittstelle zwischen den beiden ballnahen äußeren Spielern Atleticos eingesetzt werden. Eine dieser Szenen sorgte für den geklärten Schlenzer Cherundolos, welcher unmittelbar dem Ausgleich durch Diouf vorausging (81.).
Nun wirkte es, als ob Hannover das Spiel tatsächlich noch drehen könnte, und in der Tat näherte man sich dem Tor stärker an als zuvor. Kurz vor Schluss brachte Slomka mit dem robusten und großgewachsenen Sobiech einen weiteren Abnehmer für die vielen Flankenbälle, was die Umstellung auf eine provisorische Dreierkette zur Folge hatte – eine sehr riskante und vielleicht gar zu riskante Maßnahme. Die defensiven Schwächen waren vorhersehbar – kaum hatte man „wenn das mal gut geht“ gedacht, erzielte Atletico den entscheidenden Treffer zum 1:2. Schon als der vorausgehende Freistoß noch in der Luft war, konnte man sehen, dass noch etwas anderes in der Luft lag – Gefahr. Zu lange hatten die Hannoveraner zunächst lieber auf Sicherheit gespielt, am Ende ging man wohl zu hohes Risiko.
Fazit
Am Ende war es ein unglückliches Ausscheiden für 96, die in beiden Spielen späte Gegentreffer fingen. Angesichts der spielerischen Armut in der heutigen Partie, der „Abgezocktheit“ des Gegners und der ersten Halbzeit im Hinspiel muss man schlussendlich aber konstatieren, dass die „richtige“ Mannschaft weitergekommen ist. Heute fehlte es Hannover schlichtweg an der Qualität, spielerisch zu Chancen zu kommen. Das alles soll aber eine tolle Europapokal-Saison der Niedersachsen nicht schmälern, auf die man mit erhobenem Haupt zurückschauen kann und die man gerne noch einmal wiederholen darf – den nächsten Schritt dorthin kann am Sonntag gegen Schalke machen.
4 Kommentare Alle anzeigen
Plastix 7. April 2012 um 02:23
Mal wieder eine spannende und lesenswerte Analyse.
Besonders nachvollziehbar ist der evtl. spielentscheidende taktische „Fehler“, zunächst zu zurückhaltend und dann zu riskoreich agiert zu haben.
Da fehlen Hannover einfach noch die Möglichkeiten von Spitzenmannschaften, das taktische Verhalten während des Spiels dynamischer in Sachen breiter/enger/tiefer/flacher/mehr hinten/mehr vorn anzupassen, ohne mit großem Personalwechsel „nur“ das eine oder „nur“ das andere System zu liefern. Das hat halt auch Atletico voraus mit seinen weitaus „allrounderen“ Spielern; weshalb sie die Runde letztlich recht sicher für sich entscheiden konnten.
Henrik 6. April 2012 um 12:09
Das Überladen hat gegen Kopenhagen wesentlich besser funktioniert. Damals hat Schmiedebach auf Pintos Position gespielt und Pinto auf der von Schulz. Das war glaub ich das Spiel, indem Stindl dieses schöne Tor erzielt hat. Hannover hat sich zahlreiche Chancen über rechts herausgespielt.
Gestern hat Hannover meiner Meinung nach zu vorsichtig gespielt. Bei Ballbesitz von Atletico hat sich Hannover mit 2 4erketten weit zurückgezogen und es fand kaum Pressing statt. Außerdem hätte Schmiedebach mehr Kreativität einbringen können, wenn er gleich gespielt hätte. Aber Slomka wollte anscheinend nicht so viel riskieren. Am Ende musste er dann alles riskieren und wurde ausgekontert.
Andreas 6. April 2012 um 11:46
Den Gedanken mit Slomka teile ich komplett.
Er ist für mich ein Trainer mit sehr gutem fachlichem Wissen, der sich auch medial gut zu präsentieren weiß.(wird ja heutzutage immer wichtiger) Er kommt einfach symphatisch rüber.
Vor allem hat er in Hannover bewiesen was er zu leisten vermag, wenn man ihn machen läßt. Er hat der Mannschaft ein modernes, vor allem aber ein erfolgreiches optimal auf die Spieler abgestimmtes System verpasst. Die Mannschaft war am Boden als er geholt wurde, 2 Jahre später, spielt sie das Viertelfinale in der Euroleague.
Marvin Nash 6. April 2012 um 11:28
Schöne Analyse. Ich fand 96 richtig klasse diese Saison und von den Euroleague-Kandidaten finde ich sie taktisch am besten und modernsten. Stuttgart, Leverkusen, Wolfsburg und Werder haben zwar höhere individuelle Qualität, aber ich denke, dass Hannover sich da durchsetzt und wir sie nächste Saison wieder in Europa sehen.
Die Frage wird nur sein, wie lange Slomka noch zu halten sein wird. Wäre für mich ein Kandidat für Bayern. Er ist ein Medienprofi und taktisch ein Ass. Inzwischen strahlt er auch mehr Autorität aus als damals bei Schalke, als er vorher Co-Trainer war.
Man sieht auch in Euren Analysen, wie gut er seine Mannschaft immer wieder unterschiedlich auf den Gegner einstellt und dadurch zum Erfolg kommt. Und das bei der Doppelbelastung war schon eine Leistung. Er ist für mich der Trainer der Saison. Trotz Favre und trotz Klopp. Denn er bestätigt die tolle letzte Saison und etabliert Hannover mit geringen Mitteln in den Top 7.
Gladbach wird nächste Saison wieder höchstens Mittelmaß nach meiner Prognose.
PS: Der letzte Satz hat einen grammatikalischen Flüchtigkeitsfehler.