Türchen 4: Dortmund – Juventus 1997
Borussia Dortmuns Champions-League-Triumph von 1997.
Dieser Artikel erschien ursprünglich 2013 in unserem damaligen Spielverlagerung-Magazin Ballnah, in Ausgabe 1. Nach über 10 Jahren stellen wir ihn in Form dieses Re-Posts kostenfrei zur Verfügung.
Es war ein Spiel der großen Geschichten. Ob es Kalle Riedle war, der angeblich in der Nacht zuvor beide seiner Treffer im Traum gesehen hatte, oder Lars Ricken, der bloße 14 Sekunden nach seiner Einwechselung das 3:1 mit einem traumhaften „Distanzlupfer“ erzielte, diese Partie schien einem Hollywood-Drehbuch zu entstammen. Am Ende hatte der deutsche Außenseiter im Stadion seines großen Rivalen die Champions League gewonnen. Der Titel sollte den Höhepunkt der „fetten Jahre“ des BVB markieren und steht damit auch symbolisch für den folgenden finanziellen Absturz und die daraus entstandene Entwicklung der aktuellen [der Klopp-Jahre von 2009-2015] Dortmunder Mannschaft.
Die Mannschaften
Ähnlich wie in der aktuellen Saison hatte der BVB 1996/97 nach zwei Meisterschaften in Folge eine zerfahrene Bundesliga-Spielzeit erlebt. Nach einem mäßigen Saisonstart (5. Platz zur Mitte der Hinrunde) machte die Mannschaft von Ottmar Hitzfeld eine starke Phase durch und arbeitete sich im Laufe der Rückrunde bis an die Tabellenspitze (21. bis 23. Spieltag). Anschließend ging es aber wieder bergab und fünf Siege aus den letzten elf Spielen reichten nur zum glücklichen dritten Platz. Indes zeigte die prominent besetzte Mannschaft aber souveräne Auftritte in der Königsklasse. Mit 13 Punkten aus den sechs Gruppenspielen setzte man sich schon vor dem letzten Spieltag gegen Widzew Lodz und Steaua Bukarest durch, was damals noch den direkten Einzug ins Viertelfinale bedeutete.
Dabei praktizierten die Borussen ein sehr aufwändiges, zweikampflastiges Spiel. Hitzfeld nutzte die westfälische Arbeitermentalität mit Libero und Manndeckungen im Stile der deutschen Neunziger. Die defensivstarke Elf hatte in den vier K.O.-Spielen vor dem Finale nur einen Gegentreffer kassiert. Nachdem die AJ Auxerre 3:1 und 1:0 geschlagen wurden, gab es auch im Halbfinale gegen Manchester United zwei umkämpfte 1:0-Siege. Nach Abpfiff des Rückspiels wurden sie im Old Trafford sogar von den gegnerischen Fans mit Standing Ovations verabschiedet, denen das leidenschaftliche Auftreten der Borussen imponiert hatte. Noch heute ist Jürgen Kohlers Klärungsaktion gegen Eric Cantona ein legendärer Moment der Dortmunder Vereinsgeschichte.
Da sich die Borussen aber in der Offensive öfter schwertaten, ging Juventus Turin als klarer Favorit in die Partie. Die Mannschaft der alten Dame glänzte ebenfalls durch defensive Stärke, galt aber darüber hinaus auch in allen weiteren Belangen als Weltklasse. Zinedine Zidane, der ein Jahr später zum Weltfußballer gewählt wurde, agierte hinter zwei Spitzen, für die es gleich mehrere Top-Alternativen gab. Nicola Amoruso, Alessandro Del Piero, Christian Vieri und Alen Boksic schlossen den Wettbewerb allesamt mit vier Treffern ab. Mit 11:1 Toren marschierte dieses Ensemble durch die Gruppenphase, darunter übrigens ebenfalls zwei 1:0-Siege gegen Manchester United. Mit 9:3 Treffern gegen Trondheim und Amsterdam zogen sie ins Finale ein. Zudem holte die Mannschaft von Marcello Lippis vorzeitig die Meisterschaft in der Serie A, der damals stärksten Liga der Welt.
EXKURS: Fünf-Jahres-Wertung 1996/97
- Italien: 60,7
- Spanien: 46,5
- Frankreich: 45,7
- Deutschland: 43,9
- Niederlande: 36,3
Trotz Dortmunds „Heimvorteil“ im Olympiastadion von München, rechnete die Öffentlichkeit dem BVB keine hohen Chancen gegen diese Spitzenmannschaft aus. Die Westfalen waren aber hervorragend eingestellt. Jürgen Klopp prägte 15 Jahre später den Ausspruch, den Gegner „auf das eigene Niveau herunterzuziehen“ und genau das gelang Borussia Dortmund auch im Finale von 1997.
Die alte Dame ohne Flügel
Prägend für das Finale war die zurückhaltende Herangehensweise von Marcello Lippi, der viel Wert auf Stabilität und eine gute Absicherung gegen Konter legte. Dafür wählte er eine defensive Viererkette. Die Außenverteidiger Sergio Porrini und vor allem der robuste Mark Iuliano waren als Spielertypen auch geeignete Innenverteidiger und rückten kaum nach vorne. Der offensivere Gianluca Pessotto nahm nur auf der Bank Platz.
In Juventus‘ 4-3-1-2 mussten daher die Halbspieler der Raute für die Breite sorgen. Besonders der lauf- und flankenstarke Angelo Di Livio, der üblicherweise eher als Flügelspieler eingesetzt wurde, stürmte oft auf der rechten Seite vorwärts. Vladimir Jugovic war der spielmachendere Halbspieler, der weniger nach vorne ging. Er bewegte sich horizontal nach außen, um fern des eng besetzten Zentrums den Ball zu fordern und dann lange Pässe in die Spitze zu bringen.
Alles in allem agierte Juve in diesem System mit sehr wenig Breite. Zwar pendelte Zidane zwischen den Halbräumen und ging aus diesen vereinzelt auf die Flügel und auch die Stürmer, vor allem der dribbelstärkere Boksic, liefen sich nach außen frei, doch das half im Spielaufbau wenig. Diese Freilaufbewegungen nutzte Juve vor alle auf dem ballnahen Flügel und nicht vorausschauend strategisch, um Flankenwechsel zu ermöglichen.
So fehlte Turin die horizontale Ballzirkulation fast völlig. Sie fokussierten sich darauf, mit schnellen Bällen in die Spitze ihre Individualkünstler ins Spiel zu bekommen. Zidane, Boksic und Vieri waren aber eng bewacht und meist schon bei der Ballannahme unter Druck. Da Dortmund gut auf diese Spielweise eingestellt war, konnten sich Juves Angreifer trotz ihrer Fähigkeiten kaum einmal befreien.
Dortmunds Gegen-Asymmetrie
Dabei passte die Ausrichtung von Hitzfelds 3-4-1-2-System perfekt zur Asymmetrie Turins. Basis der defensiven Stärke waren die Manndeckungen auf Turins wichtige Offensivkräfte. Paul Lambert machte ein starkes Spiel gegen Zidane, der selten anspielbar war, und Weltklasse-Manndecker Jürgen Kohler war Vieri körperlich gewachsen. Probleme gab es hauptsächlich für Martin Kree gegen den schnelleren Boksic.
Besonders Jörg Heinrichs Rolle war in diesem Kontext eine wichtige. Er agierte gegen den Ball deutlich tiefer als Stefan Reuter auf dem rechten Flügel und spielte sehr anpassungsfähig. So konnte er bei langen Bällen vor die Abwehr einrücken oder Kree gegen Boksic helfen. Wenn Di Livio außen aufrückte, konnte er ihn in der tiefen Position übernehmen. Reuter konnte währenddessen in der höheren Position sofort Druck auf den passstarken Jugovic erzeugen. Daher waren Juves Halbspieler passend gesichert: Der vorstoßende wurde in der Tiefe aufgefangen, der spielmachende wurde direkt unter Druck gesetzt.
Dass es Zidane eher zur linken Seite zog, half den Borussen in ihrer Raumaufteilung. So wurde auch Lambert in den halbrechten Raum von Heinrich weggezogen. Doch ohnehin agierte Paulo Sousa vor den beiden als freier Mittelfeldspieler ohne direkten Gegner und konnte die Balance im Raum schaffen. Dies war aber nur eines von mehreren Werkzeugen, mit welchem es Dortmund gelang, trotz ihrer Manndeckungen eine gute Absicherung und Kompaktheit zu wahren.
EXKURS: Fußballtaktik anno 1997
Die (späten) Neunziger des Fußballs kann man als taktische Übergangsphase begreifen. Zuvor waren die Mannschaftsteile meist voneinander getrennt, heute sind sie dauerhaft eng verknüpft, da die läuferischen Möglichkeiten im Laufe der letzten Dekaden große Sprünge machten. Die Neunziger liegen dazwischen: Die Kompaktheit in der Vertikalen war noch nicht so gegeben, die Mannschaftsteile agierten recht gestreckt. Das Verschieben zum Flügel war unkonstanter, langsamer, aber schon vorhanden. Die Abstände konnten jedoch zumindest von einzelnen Spielern vereinzelt mit viel Aufwand überbrückt werden konnten. So gab es trotz fehlender Gesamtkompaktheit immer wieder enge Situationen im Umkreis des Balles.
Kollektives Rückwärtsdoppeln
So interpretierte der BVB das gängige 3-4-1-2 ungewöhnlich kollektiv, intelligent und vor allem: leidenschaftlich. Alle Spieler beteiligten sich am Defensivspiel, sodass eine Schwäche der Manndeckung gut kompensiert werden konnte: Wurde ein Manndecker im Mittelfeld ausgedribbelt, konnte der Angreifer nicht ungestört durch den Raum laufen, sondern wurde meist durch einen von vorne nachrückenden Spieler attackiert.

Möller orientiert sich zur rechten Seite und kann Reuter beim Stellen von Jugovic helfen. Man sieht die Manndeckungen in der Defensive, das Nachrücken der Angreifer und die freien Rollen von Sammer und Sousa, durch die Dortmund um die Manndeckungen herum Überzahlbereiche herstellt. Juves Viererkette bleibt komplett hinten.
Selbst Dortmunds offensivster Spieler Karl-Heinz Riedle zeigte gelegentlich Sprints nach hinten, wenn sich gefährliche Lücken öffneten und eroberte aus der Rückwärtsbewegung ein paar Bälle im offensiven Mittelfeld. So holte er auch selber jenen zweiten Ball zurück, der seinen Treffer zum 2:0 einleiten sollte. Nach Klos‘ Abschlag bekam Di Livio den Abpraller, Sousa setzte ihn direkt unter Druck und der Italiener versuchte sich nach hinten zu befreien, wo aber schon Riedle nachgerückt war und den Rückpass abfing. Chapuisat konnte nach Riedles Anspiel zur Grundlinie gehen und erzwang per Flanke die Ecke, die das deutsche Kopfballungeheuer dann verwandelte.
Auch Stephane Chapuisat, der eine Rolle als linker Halbstürmer bekleidete, zeigte sich arbeitsam in der Rückwärtsbewegung. Auf seiner Seite spielte mit Porrini der schnellere und technisch stärkere Außenverteidiger Turins, der zumindest ab und an zögerlich aufrückte. Chapuisat ging dann in eingerückter Position mit, sodass Porrini nicht frei anspielbar wurde und sich die Dortmunder Kompaktheit im Mittelfeld etwas erhöhte.
Ähnlich agierte Andreas Möller, der die rechte Seite im Blick hatte. Wenn Reuter nach hinten gedrückt wurde oder der Ball auf Juves linke Seite kam, wich er nach rechts und stopfte auch halbrechts nach hinten Löcher. Damit konnte Dortmund beide Seiten bei Bedarf doppelt besetzen, was zu Beginn der zweiten Hälfte noch wichtig werden sollte.
Die Libero-Armee
Neben diesem rückwärts gerichteten Doppeln sorgte ein zweites Element im Dortmunder Spiel für eine Stabilität und Kompaktheit, die in Systemen mit Manndeckungen eher unüblich ist. Freie Spieler agierten situativ raumdeckend und schoben zum Ball oder in absichernde Positionen. So hatte der BVB effektiv meistens drei bis fünf Liberi in der eigenen Hälfte und nicht nur Matthias Sammer in der letzten Linie.
Wie erwähnt hatte besonders Sousa eine freie Rolle und setzte diese laufstark um, sodass Juve im zentralen Mittelfeld keine Ruhe ins Spiel brachte. Die nominelle Überzahl wurde durch die Rollen von Dortmunds Flügelläufern und die zurückfallenden Angreifer mehr als ausgeglichen.
Heinrichs Rolle war nicht nur auf dem Papier bedeutsam, er führte sie auch hervorragend aus. Neben Sammer war er Dortmunds wichtigster Spieler, der die unterschiedlichen Rollen enorm stark vereinen konnte: Er war der Staubsauger vor der Abwehr, unterstützte Kree, nahm Di Livio in Manndeckung, sicherte den Flügel defensiv und attackierte ihn offensiv. Auch Reuter machte auf der anderen Seite einen guten Job und unterstützte das Mittelfeld, wenn er Jugovic außen stehen lassen konnte.
Selbst Paul Lambert wagte es gelegentlich, seine Manndeckung auf Zidane kurzzeitig aufzugeben. In seiner wichtigen Position als tiefster Zentrumsspieler hatte er die kürzesten Wege, um Löcher in der Abwehr zu stopfen, und war in brenzligen Situationen schnell zur Stelle. Diese Spielweise von Lambert steht nochmals beispielhaft für Dortmunds großen Fokus auf die Defensive und speziell auf das eigene Tor, welches in diesem ständigen Rückwärtsdoppeln mündete.
Matthias Sammer, der herausrückende Libero
Eine besondere Erwähnung hat die Rolle von Matthias Sammer verdient. Europas Fußballer des Jahres 1996, der vielleicht der „modernste“ Libero der Fußballgeschichte war, konnte einige Situationen mit seinem hervorragenden Gespür für die Räume antizipieren und im Keim ersticken.
Anders als ein klassischer Libero beschränkte er sich nicht nur auf das Ausputzen hinter den Manndeckern, sondern rückte auch ins Mittelfeld heraus, wenn es die Situation hergab. So erahnte er Lücken, in die Turin nachstoßen konnte, und lief sie frühzeitig zu (siehe Bild zur 25. Minute). Zudem positionierte er sich geschickt in der Nähe unkompakter Gleichzahlbereiche (Bild zur 39. Minute). Befreiten sich Juves Individualisten in solchen Situationen nach vorne, hatten sie keine Zeit für einen Pass, sondern wurden direkt von Sammer gestellt.
Dabei nutzte er bei seinen Herausrückbewegungen geschickt den Deckungsschatten, den er hinter sich her zog. So verhinderte er, dass simple Pässe in den Bereich hinter ihn gespielt wurden. Mit seiner Dynamik und dem Überraschungsfaktor des Defensivvorstoßes aus der Tiefe konnte er dabei in riskanteren Situationen auch ein wenig den Schockmoment beim Gegenspieler ausspielen. Wenn man aus dem Nirgendwo einen aggressiven Feuerschopf auf sich zurasen sieht, dreht man eben lieber erst einmal ab und versucht nicht direkt, den Ball an ihm vorbei zu spielen.

Zidane und Di Livio konnten Sousa hier per Doppelpass stehen lassen und Zidane dribbelt in die Mitte. Möller zieht sich zurück und doppelt Lambert. Dadurch kann Deschamps allerdings in den Freiraum (blau) vorstoßen. Darauf reagiert Sammer und rückt heraus, sodass Zidane den Pass nicht spielen kann. Lambert kann ihn dadurch unter Druck setzen und Zidane flankt überhastet in die Spitze, wo Kohler problemlos raus köpft. Interessant dabei: Riedle ist Deschamps im Sprint auf den Fersen, sodass Dortmund mit allen Spielern in der eigenen Hälfte steht. Juve hingegen hat nur fünf Spieler im Angriff dabei und die linke Seite ist völlig verwaist (rot).
Der BVB als moderne Klassik
So sorgte Sammer für die moderne ballnahe Kompaktheit und erzeugte außerdem viel taktische Dynamik im Zentrum. Dort reagierten auch seine Mitspieler gut auf seine Vorstöße. Kree und Kohler positionierten sich dann etwas passiver zur Mitte, Lambert, Heinrich und Sousa blockierten die nahen Passwege. Auf diese überraschenden Pressing-Nadelstiche konnte Juve kaum reagieren und Sammers nominelles Fehlen in der Abwehr wurde über die gesamte Spielzeit nie zum Problem.
Das mag nun taktisch alles ein wenig spektakulärer klingen, als es in der Konzeption eigentlich war. Im Grunde agierte Dortmund „nur“ im klassischen Manndeckungssystem, welches zudem einen massiven Defensivfokus, hohe Aggressivität und große fußballerische Intelligenz auf mehreren Schlüsselpositionen vereinte. Die situativen Raumdeckungen und das zurückeilende Doppeln ergeben sich als logische Folge. Dennoch erzeugte Dortmund in letzter Konsequenz die Kompaktheit und das Überzahlspiel der Raumdeckungen, die in dieser Zeit modern wurde, aus dem alten Manndeckungssystem heraus.
EXKURS: Heroenfußball
Volker Finkes Ausspruch des „Heroenfußballs“, mit dem er das Spiel von Borussia Dortmund vom „Systemfußball“ abgrenzte, stammt aus dieser Ära. Besonders auf die offensive Spielweise von Hitzfelds BVB traf dies wohl zu. In der Defensive war die Borussia trotz Manndeckungen relativ organisiert und kollektiv.
Juves Probleme
Jedoch wurde dieser Ansatz erst dadurch wirklich effektiv, dass Juve mit so wenigen Spielern aufrückte. So hatte Dortmund im eigenen Drittel einfach eine generelle Überzahl. Oft standen sie mit sechs bis sieben Spielern gegen drei Angreifer, mindestens aber acht gegen sechs. Die zwei überzähligen Spieler sorgten für Kompaktheit in den richtigen Bereichen, während Juve am Ball unter Dauerdruck stand.
Das direkte Spiel in die Spitze kam der Borussia außerdem entgegen, da deren aggressives Zurückweichen somit noch „belohnt“ wurde. Durch die Rückzugsbewegungen wurden natürlich die zurückbleibenden Spieler der Juve frei, die aber aufgrund mangelnder Ballzirkulation nicht eingebunden werden konnten.
Hierbei profitierte der BVB auch von der mangelnden Vertikalkompaktheit jener Zeit. Dadurch verloren Turins Spieler im Mittelfeld die Anbindung nach hinten, die für eine sichere Zirkulation notwendig ist. Tatsächlich spielte Juve diese Bälle eben auch aus diesem Grund, da die Stürmer auf dem Papier nicht leicht vom „weit“ entfernten Mittelfeld aufzufangen gewesen wären. Dortmunds tiefere Stellung mit Heinrich als „Zusatzlibero“ und das laufintensive Rückwärtsdoppeln machten dieses Konzept aber oft zunichte.
Darüber hinaus war Dortmunds Defensivkonzept natürlich nicht perfekte. Trotz der vereinzelten Raumdeckungen, rissen die vielen Manndeckungen zwangsweise Lücken. Diese waren potentiell gefährlich, doch Lippis Elf fand sie nicht oft. Zum einen gingen selten Spieler in diese Löcher hinein, zum anderen fehlte die Ruhe für entsprechende verlagernde Zuspiele.
Juves Möglichkeiten
Für vereinzelte italienische Lichtblicke sorgte Didier Deschamps. Der laufstarke Sechser war in Hälfte eins der taktisch cleverste Spieler auf Seiten der Italiener und rückte immer mal wieder geschickt auf, wie auch in der Grafik zu Sammers Herausrücken beispielhaft zu sehen ist. So kam Turin durch ihn wenigstens manchmal flach in Mittelfeldräume.
Beim weiteren Spiel nach vorne machte sich dann allerdings Dortmunds defensive Überzahl wieder bemerkbar, die Kombinationen von Juve kaum möglich machte. Auch in diesen Szenen mussten sie auf den direkten Ball zu den Stürmern setzen, der oft direkt von Dortmunds Abwehrbollwerk abprallte.
Hier wiederum bildete Alen Boksic die schon angedeutete Ausnahme. Er bewegte sich weitläufiger als Vieri und wurde öfter in vollem Lauf angespielt, sodass er seine Athletikvorteile gegenüber Kree einbringen konnte. Mit viel Durchschlagskraft versuchte er sich ohne Umwege zum Tor durchzusetzen. So konnte er vereinzelt Strafraumsituationen und Standards generieren, später war er auch der maßgebliche Akteur für Juves Anschlusstreffer.
Zinedine Zidane wurde seinem Geniestatus in diesem wichtigen Spiel indes nur ganz selten gerecht – dann aber recht durchschlagend. In der 42. Minute gelang ihm nach einer guten Körpertäuschung ein Abschluss von der Strafraumgrenze, der an den Pfosten knallte. In anderen Situationen überraschte er seine Manndecker mit starken Ballannahmen, hatte dann aber wenige Möglichkeiten, die Bälle weiterzuverarbeiten.
Ansonsten konnten die Italiener nur mit Flanken und Standards gefährlich werden. Eine Minute nach Zidanes Pfostentreffer musste Sammer eine Flanke auf Boksic zur Ecke klären. Nachdem diese aus dem Rückraum ein zweites Mal vor das Tor geschlagen wurde, konnte Chapuisat sie nicht klären. Er schoss Vieri aus wenigen Zentimetern an den Arm, der den Abpraller verwandelte. Der ungarische Schiedsrichter entschied zu Dortmunds Glück auf Handspiel.
Dortmunds dominiert zweite Bälle und die Flügel
Dass die Turiner mit ihren langen Bällen nicht öfter solche hektischen Szenen erzwingen konnten, hatte ebenfalls einen taktischen Grund: Der BVB dominierte die zweiten Bälle über weite Strecken. Da Turin die Bälle direkt in die Spitze schlug und Dortmunds Defensive besonders in der Reihe davor Überzahl hatte – nominell vier Borussen gegen Zidane – konnte der BVB die meisten Abpraller einsammeln.
Dieses Mittel und die bessere Besetzung der Flügel waren Dortmunds hauptsächliche Werkzeuge gegen den überlegenen Gegner. Die fehlende Breite der Raute nutzten Reuter und Heinrich, indem sie aggressiv vorstießen. Chapuisat unterstützte links, Möller wich auf die rechte Seite aus.
In einer Verbindung beider Flügel und eines zweiten Balles entstand auch der Führungstreffer: Möller und Reuter nutzten Juves Unkompaktheit auf rechts aus und spielten die Außenlinie herunter. Reuters Flanke wurde abgefangen und dann im Rückraum von Zidane weggeschlagen. Heinrich sammelte ungestört Sammers weggeköpften Ball auf, legte auf Sousa ab und startete direkt zur Seitenlinie. Der Portugiese sendete ihm den Ball präzise hinterher. Im vollen Sprint erreichte Heinrich das Leder vor Porrini, der zur Ecke klärte. Lambert konnte die weggefaustete Ecke im Rückraum aufsammeln und ein zweites Mal reinschlagen, Riedle bedankte sich.
Hitzfelds Abstoßplan
Mit der Nutzung der Flügel und Heinrichs Vorstoß vor dem 1:0 erschöpfte sich der Offensivplan des BVB allerdings schon fast. Einen flachen Spielaufbau gab es bei der Borussia kaum, obwohl Sousa, Sammer und der sehr spielerische Torwart Stefan Klos dazu prädestiniert gewesen wären. Die Defensivspieler hielten sich aber auch bei Ballbesitz an ihre Gegenspieler und sicherten lieber Konter ab anstatt am Spiel teilzunehmen.
Stattdessen wurde die Präzision von Klos gut bei langen Bälle genutzt, die fast immer Dortmunds Spieleröffnung darstellten. Dabei sahen die Abstöße in der Anfangsphase annähernd deckungsgleich aus. Hitzfeld hatte offenbar einen ganz klaren Plan erarbeitet, bei dem wiederum Jörg Heinrich eine essentielle Rolle spielte.
So rückte Heinrich vor der Ausführung des Abstoßes weit auf, bis auf die Außenstürmer-Position. Von dort sprintete er nach hinten zum Ball, den Klos beim Abstoß präzise zur linken Seitenlinie ins Mittelfeld brachte. Dabei ließ sich Porrini mit in die Tiefe ziehen, um ins Kopfballduell zu gehen. Chapuisat attackierte daraufhin die entstehende Lücke links und Riedle rückte nach, um Montero zu beschäftigen.
Dabei positionierte sich Dortmund nicht immer optimal, aber doch deutlich bewusster auf den zweiten Ball. Vor allem Sousa spekulierte darauf, die Abpraller weiterzuleiten. Zudem bekam der 1,86m große Heinrich einige Kopfbälle direkt verarbeitet.
So ging Hitzfelds Plan in der ersten halben Stunde mehrmals auf und Chapuisat holte Standardsituationen heraus. Porrini musste sich außerdem schon in der 20. Minute eine gelbe Karte gegen den flinken Schweizer abholen. Nach dem 2:0 schlug Klos die Abstöße allerdings zentraler und Dortmund positionierte sich defensiver.
Dortmund holt Standards
Dortmunds augenscheinlicher Fokus auf Standardsituationen, der letztlich auch zu den wichtigen Toren führte, fokussierte eine weitere Schwäche von Juve. Ob systematisch oder psychologisch bedingt: Das Starensemble der alten Dame verhielt sich sehr unaufmerksam gegen die hohen Hereingaben.
So machten sie bei beiden Treffern simple Fehler beim Herausrücken. Peruzzis weggefausteten Ball vor dem 1:0 verfolgten sie kollektiv und vernachlässigten die ferne Seite. Als Lamberts zweite Hereingabe kam, standen dort drei Dortmunder gegen einen Turiner, sodass Riedles Treffer fast unvermeidlich war.
Das Problem beim 2:0 war vor allem, dass „Air“ Riedle besser zum Kopfball ging als sein Gegenspieler und Möller zudem ein starker Standardschütze war. Allerdings wäre auch ein schlechter geköpfter Ball gefährlich geworden: Die Italiener übersahen bei der Bewegung zum Ball Chapuisat völlig. Im Moment, in dem der Ball im Tor einschlug, stand der Schweizer völlig blank zentral im Torraum. Hätte Di Livio reagiert und sich nicht einfach mit ausgestrecktem Arm desinteressiert wirkend an den Pfosten geschmiegt, sondern den neben ihm einschlagenden Ball geklärt, hätte ihn Chapuisat mit hoher Wahrscheinlichkeit genau vor die Füße bekommen.
Dortmund verteidigte die Standardsituationen konzentrierter. Mit neun Mann verbarrikadierten sie den Strafraum, verhielten sich durchweg aufmerksam nach dem Herausköpfen und zwei Spieler deckten die Pfosten, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Mit Sousa deckte allerdings nur ein Spieler den Rückraum, was bei Juve ebenfalls ein Problem war. Mit dem 1:0 und Vieris nicht gegebenem Tor wäre es beinahe auf beiden Seiten bestraft worden.
Lippi wechselt klug
Da Vieris Treffer nicht zählte, musste Lippi zur Halbzeitpause reagieren, um die zwei Tore noch ausgleichen zu können. Dabei machte er die richtigen Problemstellen aus und fand ordentliche Lösungen. Alessandro Del Piero kam für den verwarnten Porrini, sodass sich Juve nun mit drei Stürmern formierte. Es entstand ein asymmetrisches 4-2-1-3, in dem die Italiener nun den Fokus massiv auf die linke Seite verschoben.
Dort spielte Di Livio fortan als sehr offensiver Außenverteidiger und lief die Linie rauf und runter. Del Piero agierte als linker Halbstürmer. Der starke Techniker schaltete sich auch im Spielaufbau ein und bildete einen zweiten Kreativpunkt neben Zidane. Jugovic ging nun von der rechten Sechserposition nach außen, sodass die Aufgabenverteilung in Juves Offensive eher einem 3-3- 2-2 bzw. 3-3-1-3 entsprach.
Dadurch kam Del Piero allerdings nicht so frei, wie es sich Lippi vielleicht erhofft hatte, da sich Stefan Reuter aufmerksam anpasste und den Techniker in Manndeckung nahm. Möller musste sich dementsprechend verstärkt auf die rechte Seite orientieren, um Di Livio bei seinen Vorstößen zu übernehmen.
Durch diese Problematik büßte Dortmund an Zugriff ein, da Möller nun zwischen der rechten Seite und Deschamps pendelte. Der Franzose hatte nun noch öfter Zeit am Ball und auch Di Livio konnte für Unruhe sorgen. Mit dem zusätzlichen offensiven Fixpunkt hatten die Italiener auch mehr Möglichkeiten, aus den Räumen weiter vorwärts zu spielen.
Allerdings wurde dabei die Enge vor Dortmunds Strafraum größer, da Juve nun auf dem rechten Flügel die Breite fehlte. Heinrich, Sousa und Reuter konnten tiefere Positionen einnehmen und Juve kam kaum sauber durch. Hauptsächlich wurden sie nun durch die häufigeren Flanken gefährlich, die Klos aber zumeist abfing. Zudem waren sie nach Balleroberungen im Mittelfeld gefährlich, wenn sie in Dortmunds Rückzugsbewegung hineinspielen konnten. In der 64. Minute setzten sie das ganz stark um: Boksic war weit auf den linken Flügel zurückgefallen, wo er ein Anspiel von Di Livio erhielt. Er düpierte seinen Verfolger Kohler und dribbelte in den linken Halbraum. Lambert musste sich kurz von Zidane weg orientieren, der Boksics Anspiel direkt weiterleitete. Vieri ließ durch und Boksic erhielt den Ball in vollem Lauf zurück. Er brach durch die Abwehrlinie, Kohler kam einen Schritt zu spät zurück nach hinten und Boksic legte in die Mitte, wo Del Piero trotz enger Bewachung per Hacke genial vollendete. Der klar beste Spielzug des Spiels wurde zurecht mit dem Anschlusstreffer gekrönt.
Die Jahrhundert-Einwechslung
Der Anschlusstreffer hielt aber nur sieben Minuten ehe Hitzfeld die richtige Antwort fand. Ricken kam für Chapuisat und besetzte den rechten Flügel gegen Di Livio. Möller ging ins Zentrum. Der Dortmunder Youngster lief noch auf seine Position, als Lambert, Herrlich und Sousa im linken Halbraum einen Ball von Zidane eroberten. Ricken schaltete sofort im Sprint nach vorne und erwischte Di Livio eiskalt. Möller bekam den Ball aufgelegt, sah Ricken und schickte ihm den langen Ball durch die Schnittstelle. Ricken erklärte nachher, er habe von der Bank beobachtet, dass Peruzzi manchmal zu weit vor dem Kasten gestanden hatte. Im Sprint hob er kurz den Kopf, sah Peruzzi etwa sieben Meter vor der Torlinie stehen und trat gegen den Ball. Dieser flog, flog immer weiter und senkte sich im richtigen Moment in die Maschen. Marcel Reif rief „Fünf Sekunden!!!!“ und es stand 3:1. Vierzehn Sekunden sollen es tatsächlich gewesen, die zwischen Rickens Einwechselung und dem Moment lagen, als der Ball die Linie überquerte.
Was weniger bekannt ist, als Rickens Tor, ist die systematische Umstellung, die Hitzfeld mit diesem Wechsel vornahm. Der vorherige formative Fokus auf die linke Seite wurde nun auf die rechte Seite angepasst. Ricken hatte Di Livio im Griff, während Möller sich im Zentrum um Deschamps kümmern konnte. Die linke Seite verteidigte Sousa situativ herausrückend ohne große Probleme.
Zudem konnten Herrlich, Ricken und Möller nun für viel mehr Entlastung sorgen. Herrlich hatte augenscheinlich den Auftrag bekommen, nach Balleroberungen zum rechten Flügel auszuweichen, um den Raum hinter Di Livio zu nutzen. Dort hielt er einige Bälle und konnte sie dann auf die beiden nachrückenden Techniker ablegen, die gemeinsam Juves Abwehrseite beschäftigt hielten.
Dass Lippi mit Amoruso noch einen technisch stärkeren Stürmer für Vieri brachte und Boksic sich zentraler bewegte, änderte nichts mehr. In der Endphase hatte der BVB das Spiel weitestgehend unter Kontrolle. Nach dem schockierenden 3:1 verloren die Italiener die Hoffnung und das zunehmende Aufrücken von Ferrera und Montero in den letzten Minuten wurde zu drucklos ausgespielt. Dortmunds dichter Abwehrblock kämpfte das Ergebnis über die Zeit und sorgte für den ersten Champions-League-Sieg der Vereinsgeschichte.
Die schweren Folgen des größten Triumphes
Im Fußball gilt der Umgang mit Misserfolgen als eine der wichtigsten Qualitäten großer Spieler und Mannschaften. Doch für die Nachhaltigkeit guter Leistungen ist der Umgang mit Erfolgen wohl der wichtigere Punkt. In den Jahren nach dem Erklimmen der europäischen Spitze und des anschließenden Weltpokal-Gewinns versagte Borussia Dortmund in dieser Disziplin.
Ottmar Hitzfeld hörte auf, „als es am schönsten war“, und wechselte im Sommer 1997 zum FC Bayern. Ohne den Vater des Erfolges, der vier Jahre später erneut den Henkelpott in die Luft stemmte, versuchten die Verantwortlichen des BVB, das vorgelegte Tempo zu halten. Als der Dortmunder Erfolgszug immer mehr an Schub verlor, versuchten Gerd Niebaum und Michael Meier den Motor mit immer mehr Kohle zu befeuern – bis all die Kohle verbrannt war.
Der Ballspielverein hatte sich dem trügerischen Glanz einzelner Ergebnisse hingegeben. Borussia Dortmund war im Jahr 1997 keine Mannschaft, deren Leistungsfähigkeit in der absoluten Weltspitze einzuordnen war. Mit passenden taktischen Maßnahmen, guter Tagesform von Schlüsselspielern und der nötigen Portion Glück hatten sie eine bessere Mannschaft in einem Spiel verdient geschlagen. Es war die Natur des Fußballs, die einer fußballverrückten Region ihren größten Titel einbrachte. Es war keine Machtübernahme, keine nachhaltige Etablierung eines neuen Spitzenvereins mit stabilem Fundament.
Den Unterschied zwischen diesen beiden Dingen zu lernen, war wohl der wichtigste Schritt in der Entwicklung von Borussia Dortmund. Der Verein, seine Anhängerschaft und die ganze Region Dortmund haben verstanden, verantwortungsvoll mit Erfolg umzugehen. Die drei jüngsten Dortmunder Titel wurden als Momentaufnahme euphorisch gefeiert, ohne daraus irrsinnige Statusansprüche abzuleiten. Der BVB wusste besonders das außergewöhnliche in den Siegen zu schätzen und so brach auch in schwächeren Phasen keine Panik aus, was erst die Basis für die Entwicklung legte. Vor dem Champions-League-Finale [2013] dominieren Hoffnung, Vorfreude und Optimismus das Stimmungsbild im Ruhrpott. Jeder weiß, dass man ein einzelnes Spiel immer gewinnen kann. Fast jeder weiß auch, dass solche Erfolge deshalb noch lange nicht beliebig wiederholbar sind.
Dortmund hat die Natur des Fußballs gelernt.
Dieser Artikel erschien ursprünglich 2013 in unserem damaligen Spielverlagerung-Magazin Ballnah, in Ausgabe 1. Nach über 10 Jahren stellen wir ihn in Form dieses Re-Posts kostenfrei zur Verfügung.

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