Das Kryptonit der Mannorientierungen? – FN

2:0

Im Halbfinale des Supercups, natürlich ausgetragen in Saudi-Arabien, fuhr Inzaghis Inter im Duell der Meisterschaftskandidaten gegen Gasperinis Atalanta einen souveränen 2:0 Sieg ein. Inter übernahm durch ihr fluides Ballbesitzspiel früh die Spielkontrolle und stellte das gefürchtete mannorientierte Pressing Atalantas vor große Probleme, bevor man sich im zweiten Durchgang hauptsächlich auf das Spiel gegen den Ball fokussierte.

Inzaghi verzichtete trotz dessen, dass es nur der Supercup war auf Rotation und schickte nahezu seine Bestbesetzung auf den Rasen. Inter agierte aus der gewohnten 3-5-2 Grundordnung. Sommer startete im Tor, davor stellte sich die Innenverteidigung bestehend aus Bisseck, de Vrij und Bastoni aufgrund der Verletzungen von Acerbi und Pavard praktisch selbst auf. Die Flügelverteidigerpositionen besetzten Dimarco und Dumfries, während man im Mittelfeldzentrum auf das bewährte Trio aus Calhanoglu, Barella und Mkhitaryan setzte. Komplettiert wurde das Ganze durch das Sturmduo aus Lautaro Martinez und Thuram.

Auf der anderen Seite rotierte Gasperini auf mehreren Positionen. Die Offensivkünstler Lookman und de Kaetelare, sowie Mittelfeldmotor Ederson nahmen vorerst auf der Bank Platz. Atalanta startete wie gewohnt aus ihrer 3-4-3 Grundordnung. Carnesecchi startete zwischen den Pfosten, während Kossounou, Hien und Kolasinac die Dreierkette bildeten. Auf Außen setzte man auf Zappacosta und Ruggeri. Im Mttelfeldzentrum feierte der junge Scalvini an der Seite von Kapitän de Roon sein Comeback nach überstandener Kreuzbandverletzung. Die Offensivreihe, in der die beiden verletzten Torjäger Retegui und Scammaca immer noch schmerzlich vermisst wurden, setzte sich aus Zaniolo, Brescianini und Samardzic als falsche Neun zusammen.

Schnelle Kombinationen gegen Mannorientierungen

Inter bespielte das stark mannorientierte Pressing Atalantas, wie schon beim 4:0 Erfolg in der Liga mit ihrem sehr fluiden Ballbesitzspiel. Das Ziel war die Mannorientierungen durch verschiedenste aufeinander abgestimmte Rotationen zu manipulieren und sich durch das erforderliche Übergabeverhalten sowie die generelle Reaktivität eines mannorientierten Pressings Vorteile zu verschaffen. Inter schaffte es so schnell eine Feldüberlegenheit herzustellen und kam zu neun Schüssen in den ersten 25 Minuten. 

Im tiefen Aufbau agierte Inter zumeist aus einer 4+2 Basis, bevor diese durch Positionswechsel dynamisch verändert wurde. Diese setzte sich aus Dimarco als Linksverteidiger sowie den drei Innenverteidigern zusammen, wobei de Vrij die Rolle als rechter Innenverteidiger einnahm und Bisseck als Rechtsverteidiger in die Breite schob. Folglich schob Dumfries hoch und agierte als offensiver Breitengeber.

13. Minute

Ein großer Vorteil gegen das mannorientierte Pressing war das starke Miteinbeziehen Sommers im tiefen Spielaufbau. Durch die starken Mannorientierungen Atalantas agierte Sommer als zusätzlicher Spieler im Aufbau, der nur selten angelaufen wurde. Diese Zeit am Ball, die Sommer gewährt wurde konnte so für das Auslösen der Positionsrotationsketten genutzt werden. Ein weiterer Vorteil war Sommers enorme Ruhe und Qualität mit Ball am Fuß, wodurch er durch punktgenaue lange Bälle, die sich öffnenden Räume bespielen konnte.

Besonders hervorzuheben ist die Rolle von Calhanoglu und Barella, welche im Gegensatz zum sich in die letzte Linie orientierenden Mkhitaryan, häufig in die erste Linie abkippten und den Auslöser für die Positionsrotationen darstellten. Zumeist wurde diametral nach rechts in die Breite oder in eine Halbraumverteidigerrolle abgekippt. Dieses Abkippen nach rechts hatte als eine Option einen Lauf aus der Tiefe bis in die letzte Linie des rechten Halbraumverteidigers Bisseck zur Folge. Dieser Lauf stellte Zaniolo vor die Entscheidung diesem in für ihn unvorteilhafte Räume in die letze Linie zu folgen oder seine Mannorientierung zu übergeben was dem abkippenden Sechser Inters einen Zeitvorteil am Ball verschaffte. Bei Folgen des Laufs von Bisseck wurde zusätzlich der Sechser Atalantas gezwungen Herauszuschieben und so zentrale räume zu öffnen.

Ähnliches galt auch für die Läufe de Vrijs, der im Falle des Abkippens eines Sechsers ins Mittelfeld aufrückte und dort für Gegnerbindung sorgte. Dies stellte die Sechser Atalantas wiederholt vor die Frage ihrer Mannorientierung treu zu bleiben und dem abkippenden Sechser zu folgen, was ein Öffnen des Raumes für schnelle Kombinationen Inters oder diagonale Passwege in die letzte Linie zur Folge hatte oder aber ihre Mannorientierung Samardzic als falsche Neun zu übergeben, was eine situative Überzahl Inters in der ersten Aufbaulinie erzeugte.

Atalanta agierte im Gegensatz zum Hinspiel in der Liga etwas raumsichernder. So entstand nach Abkippen des Sechsers von Inter eine +1 Überzahl Inters in der ersten Aufbaulinie. Dies hatte das Kontrollieren des Ballbesitzes durch Inter zur Folge, was Atalanta wiederholt ins Mittelfeldpressing zurückzwang. Eine besondere Rolle kam hier Sechser de Roon zuteil. Dieser positionierte sich zumeist zwischen dem abkippenden Calhanoglu und Mkhitaryan. Ziel war es Mkhitaryan in den Deckungsschatten zu stellen während langsam Druck auf Calhanoglu ausgeübt wurde. Dadurch konnte ein Herausrücken des Innenverteidigers in einigen Momenten, wenn auch nicht immer, verhindert werden.

7. Minute

Die erste Pressinglinie agierte im Mittelfeldpressing recht breit und etwas vor den beiden Sechsern. Die Außenspieler Zaniolo und Brescianini versuchten dann nach Querpässen, die als Pressingauslöser fungierten, von außen nach innen im Bogen anzulaufen um ein Springen Samardzics und eines der Sechser zu ermöglichen. Dieses Umschalten ins Angriffspressing war jedoch gegen die dynamische RaumbesetzungInters und die sich ständig verändernden Positionierungen nur schwer möglich. Allerdings schaffte man es durch das tiefere Stehen Inter die Tiefe zu nehmen und auf ihre Positionswechsel weitestgehend gut zu reagieren. Dies hatte zur Folge, dass Inter aus geordneten Ballbesitzphasen selten zu Chancen kam.

Inter wurde hauptsächlich durch schnelle Kombinationen und gezielte lange Bälle gefährlich, wodurch wiederholt die Tiefe bespielt wurde und man zu hochkarätigen Abschlüssen kam. Ein Schlüsselfaktor hierfür war das ständige Abkippen von Lautaro, der sich viel im Zehnerraum aufhielt. Atalanta versuchte ein Herausrücken Hiens zu vermeiden, weshalb im Verlaufe der ersten Halbzeit Kolasinac häufig ins Mittelfeld schob, um die durch Lautaros Abkippen entstehende Unterzahl zu verhindern. Die Stürmer Inters bestachen im generellen durch immer wieder kluge Auftaktbewegungen um mit dem Rücken zum Tor anspielbar zu werden bevor anschließend die Tiefe attackiert wurde. Zusätzlich beliefen die Flügelverteidiger den sich öffnenden Raum in der Tiefe diagonal und auch die Halbraumverteidiger stießen situativ durch ihre Läufe aus der Tiefe in diese Räume vor.

Diese vertikalen Pässe in die letzte Linie auf die Stürmer wurden sehr geschickt vorbereitet. Mkhitaryan und Barella kippten hierfür entweder beide auf eine Seite, um den vertikalen Pass auf der anderen zu ermöglichen oder kippten beide in die Breite, um ihre jeweiligen direkten Gegenspieler mitzuziehen und einen Passweg im Zentrum zu öffnen. Zudem sorgte der zweite Stürmer für eine hohe Gegnerbindung in der letzten Linie und band teilweise zwei Gegenspieler gleichzeitig. Außerdem musste vorher die Kette an Rotationen bereits gestartet haben, um für Zuordnungsprobleme in der Bergamaskischen Defensive zu sorgen, wodurch die starken Mannorientierungen den vertikalen Passweg nicht blocken konnten.

21. Minute

Ein weiterer Vorteil der vielen Abkippbewegungen war, dass viele Spieler defensiv gebunden waren und so teilweise bis zu acht Spieler in den tiefen Aufbau involviert waren, was für Rausrückbewegungen Atalantas und somit viele offene Räume sorgte. Dies ist generell ein Nachteil der Fünferkette aus der Atalanta agiert. Durch die Unterzahl im Mittelfeld ist bereits ein Innenverteidiger gezwungen die letzte Linie zu verlassen. Wenn ein weiterer Innenverteidiger durch den abkippenden Stürmer herausgezogen wird, ergeben sich so große Räume hinter der letzten Linie in den Halbspuren.

Gegen Ende der ersten Halbzeit veränderte Gasperini deshalb die Rolle Kolasinacs. Dieser rückte fortan konstant ins Mittelfeldzentrum, um dort für Gleichzahl zu sorgen. Inter reagierte darauf mit mehr langen Bällen hinter die letzte Linie nach Herausziehen eines Innenverteidigers und kam wiederholt zu Torchancen. Folglich revidierte Gasperini diese Anpassung zur Pause wieder.

Linker Halbraum als Schlüssel

Zu Beginn der zweiten Halbzeit erhöhte Inter den Druck weiter und kam durch geschickte Manipulation der bereits erklärten Doppelverantwortung de Roons zum Erfolg. Sollte de Roon sich stärker an Calhanoglu in der ersten Aufbaulinie orientieren schob Kossounou aggressiv aus der letzten Linie auf Mkhitaryan. In diesem Fall wurden gezielte lange Bälle in den rücken Kossounous von Calhanoglu gespielt. Speziell wenn Calhanoglu nach rechts abkippte hatte er trotz Rausrücken Atalantas mehr Zeit für einen langen Diagonalball, da die Mannorientierungen von de Roon und Scalvini übergeben wurden. Dieser Raum wurde von den Stürmern sowie Dimarco diagonal belaufen. Dumfries schob ebenfalls hoch als ballferne Option. Zusätzlich schob Bastoni in den linken Halbraum als ein extra Mann für zweite Bälle.

Eine weitere Option war das Überladen des linken Halbraums. Hierfür kippte Lautaro in die Nähe von Mkhitaryan, der sich geschickt aus dem Deckungsschatten de Roons herausbewegte und eine 2gg1 Überzahl gegen Kossounou erzeugte. Aufgrund des raumsichernden Verhaltens und der Gegnerbindung durch Taremi rückte Hien nicht aus der letzten Linie heraus, um die Tiefe in zentralen Räumen zu sichern. Dadurch konnte nach einem diagonalen Pass aus der ersten Linie eine künstliche Umschaltsituation in Überzahl kreiert werden. In beiden Szenarien war entscheidend, dass der eingewechselte Taremi für eine doppelte Gegnerbindung von Hien und Kolasinac sorgte und so die Überzahl im linken Halbraum beziehungsweise das Belaufen der Tiefe ermöglichte. Über das ballferne Durchlaufen von Dumfries rechts in der Breite konnten zudem die Aktionen immer wieder mit diesem als zusätzliche Option oder per Flanke zum Ende kommen. 

59. Minute

Diese Muster gaben Inter die Möglichkeit gezielt die Schwächen des mannorientierten Pressings zu bespielen und die Doppelverantwortung de Roons auszunutzen. Dadurch hatte Kolasinac als linker Halbraumverteidiger keinen direkten Gegenspieler, was zu einer Überzahl auf der linken Seite führte. Durch diese Muster konnte so auch das 2:0 erzielt werden.

Atalanta übernimmt Kontrolle

In der Folge des 1:0 wurde Inter etwas passiver und fokussierte sich auf Umschalten und das direkte Bespielen der linken Halbspur. Dies und die Einwechslungen von Lookman, de Kaetelare und Ederson führte zu mehr Spielanteilen für Atalanta, welche speziell mit diesen Wechseln den Druck erhöhten. Gegen das 5-3-2 Mittelfeld-/Abwehrpressing Inters setzte Atalanta, wie auch bereits in der ersten Halbzeit auf Flügelkombinationen.

Die Sechser standen hierfür breit und kippten wiederholt in die Breite, um Räume in der Halbspur zu öffnen und anschließend diagonal zu belaufen. Der freie Raum im Zentrum wurde in diesen Situationen, durch die sehr tief abkippende falsche Neun Samardzic, später Brescianini besetzt, welcher immer wieder in den Spielaufbau involviert war. Die Flügelverteidiger agierten zusätzlich in der Breite und konnten in das Flügelspiel eingebunden werden. Durch diese Raumaufteilung und die relativ breite Positionierung der Halbraumzehner Brescianini und Zaniolo sowie später Lookman und de Kaetelare konnte immer wieder im Dreieck rotiert werden mit dem Ziel den Halbraum zu bespielen und kleinräumige Überzahlsituationen hinter dem ballnahen Achter Inters zu sorgen.

Ein gerne verwendetes Mittel in diesem Flügelfokus war zudem das Flankenspiel mit den immer wieder diagonal einlaufenden ballfernen Spielern. Jedoch fehlte häufig der geeignete Abnehmer für jene Flanken. Mit zunehmender Spieldauer schaffte man es den Druck zu erhöhen, war allerdings aufgrund des kompakten Mittelfeld-/Abwehrpressing Inters und eines aberkannten Tores jedoch nicht in der Lage das Ergebnis noch einmal zu gefährden. Gerade auch, da Inter durch das Stück für Stück Auflösen der Restverteidigung Atalantas, was mit dem Erhöhen des Drucks einherging, zu diversen Chancen nach Schnellangriffen kam.

5-3-2 Mittelfeld-/Abwehrpressing zum Sieg

Bereits etwas nach dem 1:0 durch Dumfries ließ sich beobachten wie Inter sich schon recht früh auf das kompakte Verteidigen gepaart mit gezielten Kontern fokussierte. Das 5-3-2 Mittelfeld-/Abwehrpressing bestach vor allem durch seine äußerst hohe Kompaktheit der horizontalen Linien, was es für Atalanta sehr schwer machte den Zwischenlinienraum zu bespielen. Man scheute sich auch nicht sich mit der kompakten letzten Linie tief fallen zu lassen.

Besonders hervorzuheben ist allerdings die Kompaktheit in der Verschiebebewegung im Mittelfeld. Dies stellt im Verteidigen im 5-3-2 häufig Probleme dar, da durch das Dreiermittelfeld nicht die gesamte Breite abgedeckt werden kann und so, speziell beim Herausschieben des ballnahen Mittelfeldfeldspielers wiederholt Lücken in der Mittelfeldlinie zum Bespielen des Zwischenlinienraums entstehen. Atalanta versuchte dies durch die breite Positionierung der Halbraumverteidiger, sowie der Sechser zusätzlich zu provozieren, indem die Pressingwege für die Doppelspitze und die Mittelfeldlinie verlängert wurden.

55. Minute

Der ballnahe Außenspieler schob folglich auf den ballführenden Halbraumverteidiger. Der zentrale Mittelfeldspieler verschob ballnah auf den breiten Sechser während der ballferne Mittelfeldspieler die Kompaktheit im Zentrum aufrechterhielt. Der ballnahe Stürmer lauerte auf den Rückpass auf den zentralen Innenverteidiger und blockte zusätzlich den diagonalen Passweg ins Zentrum. Der ballferne Stürmer fiel etwas tiefer und orientierte sich am ballfernen Sechser Atalantas. Dies ermöglichte es Inter auf Außen ins Doppeln durch den Halbraumverteidiger und den Flügelverteidiger zu kommen, was Atalanta zum Abdrehen und Verlagern zwang. 

Bemerkenswert war zudem die Disziplin mit der Inter die Führung verteidigte. So sah man beispielsweise Stürmer Taremi situativ in der Breite in der letzten Linie verteidigen. 

Fazit

Nach dem 4:0 im Hinspiel in der Serie A fand Gasperini erneut seinen Meister in Inzaghi, der mit seiner fluiden Spielweise und den ständigen Positionswechseln gewissermaßen ein Gegenmittel gegen das stark mannorientierte Pressing Atalantas dar.

Inter bestach durch einen klaren Plan und konnte durch die dynamische Raumbesetzung im Aufbau die Kontrolle über das Spiel übernehmen. Durch schnelles Kombinationsspiel und dem gezielten Herausziehen der Innenverteidiger konnte man anschließend wiederholt die Tiefe bespielen, was zu einem Chancenplus zugunsten Inters führte. In der zweiten Halbzeit beschränkte sich Inter auf das Verteidigen im Mittelfeld-/Abwehrpressing und brachte durch ihre enorm kompakte Defensive sowie die Konterstärke das Spiel über die Zeit.

Inter wusste auf ganzer Linie zu überzeugen und der Sieg war zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gefährdet. Bei effektiverer Nutzung der Chancen in der Anfangsphase sowie nach Schnellangriffen in der zweiten Hälfte hätte das Ergebnis durchaus auch höher ausfallen können.

Autor: FN beschäftigt sich intensiv mit Taktiktheorie als auch Analysen zu aktuellen Spielen und Entwicklungen im Fußball. Auf Twitter ist er als @felixnb aktiv.

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