Türchen 24: VfB Stuttgarts Kettenreaktionen
Sebastian Hoeneß kam wie ein Weihnachtsgeschenk zum VfB Stuttgart und bescherte den Schwaben die Teilnahme an der Champions League. Ein passender Anlass, um in Türchen 24 einen Blick auf das Positionsspiel der Bad Cannstätter zu werfen.
Sebastian Hoeneß setzt im höheren Spielaufbau auf eine klare und solide positionelle Grundlage zumeist im 3-4-2-1. Diese Basis erlaubt es seiner Mannschaft, ein stabiles Grundgerüst aufzubauen, das aber auch Flexibilität und Dynamik im Spielverlauf ermöglicht. Trotz einiger Schwankungen aufgrund der hohen Belastung während der Saison konnte der VfB mit diesem Ansatz bereits beeindruckende Akzente setzen – wie etwa beim 1:0-Auswärtssieg in Turin.
Die Raumaufteilung des VfBs
Der zentrale Innenverteidiger im Dreieraufbau – häufig Chabot – agiert als bewusst ballhaltender Spieler. Seine Aufgabe besteht darin, den Ball so lange zu kontrollieren, bis der gegnerische Mittelstürmer das Pressing initiiert. Dadurch wird es umso wichtiger, dass die Halbraumverteidiger schnell anspielbar sind. Entsprechend positionieren sie sich grundsätzlich erstmal flach und relativ eng an der Innenseite des Halbraums. In höheren Zonen binden die Flügelspieler und die beiden Halbraumzehner den Gegner gezielt in rotierender Anordnung: Zwei Akteure sichern die Breite, während zwei weitere gezielt die Halbraum besetzen und für Tiefe sorgen. Dieses Zusammenspiel schafft eine klare Staffelung, die hilft, Drucksituationen im Aufbau effektiv zu lösen und zugleich Anschlussoptionen nach vorne zu schaffen.
Der VfB agiert also in der letzten Linie konsequent mit zwei Breitengebern, wodurch die gegnerische Abwehr breitgezogen wird. Gleichzeitig folgen die gegnerischen Sechser oder Verteidiger den Halbraumzehnern des VfB in höheren Zonen meist mit einer tendenziellen Mannorientierung. Ein weites Zurückfallen der Gegenspieler erfolgt jedoch in der Regel nicht oder wie in diesem Beispiel gegen Juventus gar nicht. Dieses Verhalten der Gegner nutzt der VfB gezielt aus, um theoretische Überzahlen im Mittelfeld effektiv zu realisieren.
Gerade gegen ein strikt manndeckendes Jahn Regensburg im Pokal mit einer Fünferkette wurde deutlich, wie der VfB auf enge Manndeckung reagiert. Wenn die Gegenspieler die weiten Wege der Halbraumzehner konsequent mitgehen, verlagert Stuttgart das Spielgeschehen gezielt in den Raum hinter der Abwehr. Dabei sucht das Team verstärkt lange Bälle, die auf den einlaufenden Stürmer abzielen. Besonders gegen individuell und athletisch unterlegene Verteidiger konnte sich Woltemade in diesen Situationen mehrfach durchsetzen und die Tiefe effektiv bespielen. Dieses Muster zeigt die Anpassungsfähigkeit des VfB, wenn Gegner versuchen, die üblichen Überzahlmechanismen im Mittelfeld zu unterbinden.
Doppelsechs löst Kettenreaktionen aus
Die Doppelsechs im 3-4-2-1 des VfB Stuttgart zeigt im Ballbesitz eine deutlich größere Flexibilität in der Positionsbesetzung als die übrigen Positionen. Ihre Positionierung ist dabei entscheidend für die Dynamiken und Muster im Abkipp- und Positionierungsverhalten der vorderen Linien. Agiert der Gegner mit sehr eng gestellten Mannorientierungen im Zentrum, führt dies beim VfB zu einer kettenartigen Reaktion:
- Die Sechser verhalten sich bewusst tief und agieren nahe an der Dreierlinie
- Der Stürmer rückt verstärkt in den Zwischenlinienraum zwischen Abwehr- und Mittelfeldkette des Gegners vor und belaufen diese Zonen
- Die Halbraumspieler orientieren sich dabei ein Stück zentraler und etwas tiefer
Dieser Fokus auf das Zentrum beeinflusst auch die Dreierkette, die in solchen Szenarien breiter agiert. Dadurch entsteht die Möglichkeit, die Sechser direkt anzuspielen, was wiederum kurze Abklatsch-Pässe provoziert – ein effektives Mittel, um die defensive Struktur des Gegners zu bearbeiten. Die breitere Staffelung schafft zudem Räume für progressive Aktionen: etwa das gezielte Andribbeln der Halbraumverteidiger oder direkte Zuspiele in den Zwischenlinienraum auf einlaufende Halbraum- oder Flügelspieler. Diese Variabilität erhöht die Dynamik im Aufbau und stellt den Gegner vor ständige Anpassungszwänge.
In höheren Zonen gelingt es dem VfB, regelmäßig Überzahlsituationen zu schaffen. Insbesondere Demirović und Millot neigen über die gesamte Saison hinweg zu einer effektiven Pärchenbildung, wodurch sie in Kombination mit dem Breitengeber häufig 3v2-Situationen erzeugen. Diese Überzahlen spielt der VfB variabel aus: Einerseits durch lange Bälle, andererseits überwiegend durch das gezielte Abkippen des Breitengebers. Solche Bewegungen stellen insbesondere eine Fünferkette – wie die von St. Pauli – vor große Probleme, da diese Wege oft nicht konsequent von gegnerischen Schienenspielern mitgegangen werden können.
Dadurch bleibt der Breitengeber anspielbar und kann sich mehrmals ins Andribbeln einschalten. In der Folge entstehen Szenen, in denen man beispielsweise Millot schnell in die Tiefe oder ins 1v1 gebracht wird. Dieses Muster zeigt die Effizienz und Zielstrebigkeit des Stuttgarter Angriffsspiels in solchen Situationen.
Ausbrechen gegen 5-3-2 als bewährtes Mittel
Ein weiteres kettenreaktives Muster zeigt sich durch die Positionierung der Sechser, besonders bei passiven ersten Pressinglinien des Gegners. In solchen Situationen lässt sich meist Karazor oder Keitel vor die erste Linie des Gegners fallen, um von dort als Ballverteiler zu agieren. Dieses Herauskippen der Sechser geschieht insbesondere gegen ein 5-3-2, wie hier gegen Union oder auch gegen Bern. Individuell-taktisch tritt dieses Muster häufig auf, wenn die Halbraumverteidiger andribbeln und der gegnerische Stürmer auf die Ballseite mit diagonalen Pressingwinkel presst, während der andere die ballferne Seite abdeckt, falls ein Rückpass kommt. Diese häufige Unkompaktheit im Doppelsturm wird von den Sechsern des VfB genutzt: Oft bricht der Sechser dann unbemerkt im Rücken des ballnahen Stürmers aus – aus einem toten Winkel im Rücken, dass er es fast nicht merkt – und schafft einen diagonalen Passweg ins Zentrum.
Dieses Szenario wird vorbereitet, indem Karazor als ballferner Sechser einen Außenspieler im 5-3-2 bindet und Demirović als Stürmer etwas tiefer schiebt, um den zentralen Mittelfeldspieler des Gegners zu binden. Mittelstädt agiert dabei breiter, um den ballfernen Stürmer in die Breite zu ziehen und möglichst viel Raum für Keitel zu schaffen, der dann in diese Räume für das diagonale Zuspiel aufbrechen kann.
Situativ tritt dieses Muster auch beim Ballspiel des mittleren Innenverteidigers des VfB auf, wenn die erste Pressinglinie des Gegners eher reaktiv und tief agiert, ohne aktiv Druck auszuüben. In solchen Fällen positioniert sich die Pressinglinie des Gegners oft breit auf Höhe der Halbraumverteidiger, wodurch Raum für die Abkippbewegungen der Sechser entsteht. Das gezielte Herstellen einer +2-Überzahl gegen die erste Pressinglinie wird häufig mit einem breiteren Verschieben und situativen Tiefenläufen der Halbraumverteidiger kombiniert. Dadurch verliert die Pressinglinie des Gegners zunehmend an Zugriff, was dem VfB deutlich mehr Freiheiten im Aufbauspiel verschafft und den Übergang ins Mittelfeld erleichtert.
Diese tiefe Positionierung der Sechser führt dazu, dass die Breitengeber im System extrem weit zurückfallen – optisch ähnelt die Formation dadurch zeitweise einer Fünferkette, um anspielbereit zu bleiben. Auf der ballnahen Seite wird dabei oft bewusst ohne Halbraumspieler agiert: Demirović verschiebt als Stürmer ballfern in den Halbraum. Dadurch übernimmt der eigentliche ballferne Halbraumzehner die Breite. Dieses Muster zielt darauf ab, die Fünferkette des Gegners auseinanderzuziehen und Zwischenräume zu öffnen. Gleichzeitig sucht Millot infolge eine zentrale Position, da Vagnoman in diesen Szenen häufig mit dem ersten oder zweiten Kontakt in den großen Zwischenlinienraum spielt, dementsprechend ist der Passwinkel zu Millot bei zentraler Position am besten.
Diese bewusste Herangehensweise soll Millot in kleinräumige Dribblingsituationen bringen, in denen er seine Stärken ausspielen kann. Ergänzt wird dieses Konzept durch ballferne Tiefenläufe seitens Führich und Demirovic, die nach einem erfolgreichen Dribbling oder einem Folgepass direkt in die Tiefe für Gefahr sorgen. Dieses Zusammenspiel demonstriert die strategische Abstimmung des Stuttgarter Angriffsspiels auf individuelle und mannschaftliche Stärken.
Stuttgart sucht die Diagonalität
Ein typisches Muster, das man gerade gegen Bern oder Juventus beobachten konnte, war das Herstellen diagonaler Verbindungen durch das Ausbrechen eines Sechsers aus dem Zentrum nach außen, in Kombination mit dem Breitengeber. Dadurch entstand auf der linken Seite gegen Juventus praktisch eine doppelte 2v1-Situation. Zunächst wurde gegen den Außenspieler im 4-1-2-3-System von Juve ein 2v1 durch das Herauskippen von Millot kreiert. Dies wurde ausgenutzt, indem Millot (alternativ lässt sich gerne Stiller so ausbrechen) sich mit dem ersten Kontakt vom Gegner wegdrehte, wodurch der Zugriff des Gegenspielers verringert wurde.
Anschließend ging Mittelstädt tief und bildete zusammen mit dem ballnah verschiebenden Undav eine weitere 2v1-Situation gegen den Außenverteidiger von Juventus. Dies öffnete dem VfB ideale Möglichkeiten für tiefen Raumgewinn. Gleichzeitig brachte Millots Ausbrechen den Gegner in eine dynamische Dribblingsituation, was die Struktur der Juve-Abwehr weiter destabilisierte und den VfB in eine vorteilhafte Position mit optimaler Tiefenbesetzung versetzte.
Individualtaktische Abkipp- und ballnahe Bewegungen
Hin und wieder folgen auch eher individualtaktische Abkipp- und ballnahe Bewegungen, besonders bei Vagnoman, der sich gerne bei stockenden Ballbesitzphasen fallen lässt. Diese Bewegungen greifen gut ins System, da sie über die Breite den eigentlich zugestellten Weg in den Sechserraum wieder öffnen. Auf diese Weise kann der VfB die Bewegungen des Gegners gezielt manipulieren oder das Spiel auf die ballferne Seite verschieben, wodurch neue Raumaufteilungen entstehen und der Druck auf die gegnerische Defensive erhöht wird.
Eine weitere beliebte Variante beim VfB ist die dynamische Dreierlinie, die vor allem nach Rückständen oder gegen schwächere Mannschaften zum Einsatz kommt. Dabei agiert man grundsätzlich im 2-4-Aufbau, wobei sich einer der Sechser situativ zwischen die Innenverteidiger fallen lässt. Diese situativen und rotierenden Bewegungen – vom Zweier- zum Dreieraufbau – sorgten bei einigen Gegnern für Probleme, da sie nicht darauf vorbereitet waren, ihr Pressing ständig anpassen zu müssen. So kam es häufig vor, dass der abgekippte Sechser (Keitel macht das besonders gerne) ohne großen Gegnerdruck agieren konnte und gezielt Diagonalverlagerungen suchte, um das Spiel auf die breitere Seite zu verlagern und neue Räume zu eröffnen. Vereinzelt, aber nicht mehr so häufig wie in der letzten Saison, sah man beim VfB, dass wenn ein Außenverteidiger invers ins Zentrum schiebt (beliebt bei Mittelstädt), der andere Außenverteidiger zurückfällt und mit den Innenverteidigern eine Dreierkette bildet.
Liebe SV-Community, wir wünschen euch ein besinnliches Weihnachtsfest – und dass der Weihnachtsmann nicht nur Geschenke, sondern auch ein paar Punkte für die Rückrunde im Sack hat!
MX machte sich in Regensburg mit seiner Vorliebe für die Verübsachlichung des Spiels einen Namen. Dabei flirtete er mit der RB-Schule, blieb aber heimlich immer ein Romantiker für Guardiolas Fußballkunst. Aktuell ist er als Analyst in einem NLZ tätig.
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