Türchen 23 – Darmstadts Zentrumdominanz – JK
Wir befinden uns im Jahre 2024. Ganz Fußballdeutschland spielt mit 5-2-2-1 Systemen und folgt anderen gängigen Taktiktrends … Ganz Fußballdeutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Darmstädtern bevölkerter Club hört nicht auf, diesem Trend Widerstand zu leisten. Florian Kohfeldts Schützlinge schaffen es seit seiner Übernahme die 2. Liga aufzuwühlen, mit einem 4-1-2-1-2 System das in Vergessenheit geraten war.
Kontrolle im Zentrum = Kontrolle im Spielaufbau?
Das Hauptaugenmerk bei Anbetracht des 4-1-2-1-2 ist klar: Numerische Überzahlsituationen im Zentrum, selbst wenn dies auf Kosten von fehlenden Flügelspielern entsteht. So zeichnet sich in Ballbesitz eine immer wiederkehrende und gut erkennbare Struktur ab: Die 2 Stürmer binden in der letzten Linie die gegnerischen Innenverteidiger was wiederrum dem Offensiven Spieler der 4er Mittelfeldraute viele Freiheiten bietet. Immer wieder werden die Räume direkt vor der Abwehrkette belaufen und 2 gegen 1 Situationen hergestellt, was für Zuteilungs- und Übergabeprobleme beim Gegner sorgt. Die zwei Achter dahinter sind in ihren Verhaltensweisen ohne Ball auch durchaus variabel und sind vor allem in den Halbräumen umtriebig, mit dem Ziel einen der Außenverteidiger zu locken oder einen Zentralen Mittelfeldspieler der Gegner vom Zentrum weg zu binden. Generell ist die Positionierung jedoch stark abhängig von anderen Referenzspielern (Sechser, Zehner, Stürmer), denen die Achter eher kurze, diagonale Angebote machen. Der defensivere Part der Raute verhält sich positionsgetreu, häufig als Dreh- und Angelpunkt vor der Verteidigung, teils auch abgekappt zwischen den Innenverteidigern, abhängig davon ob der Gegner mit einer oder zwei Spitzen anläuft. Die Außenverteidiger bleiben den Großteil der Zeit flach und halten strikt die Breite.
Wird das Spiel von Torwart auf IV ausgelöst, so sieht man jene Muster immer wieder auftreten. Um die Situation aufzulösen, gibt es jedoch verschiedene Ideen. Mit einrücken des Sechsers stellt man bereits eine Überzahl her, die es erlaubt den Ball in der Abwehrlinie zirkulieren zu lassen (Abbildung 2). Für weitere Entlastung rückt der ballnahe Achter weiter ein, welcher dann im Raum vor der Abwehr eher eine Sechser Position einnimmt. Die Ballprogression erfolgt meist mit Pass auf den in der Kette positionierten Sechser, der entweder einen diagonalen Pass auf einen der Achter hat, welche den Ball dann durch die seitliche Positionierung das Spieltempo weiter erhöhen können oder sollten beide Achter in Manndeckung sein öffnet sich der Pass durch das Zentrum zu eine von beiden Sturmspitzen. Ist das Zentrum geschlossen, kann man auch beobachten wie sich entweder der ballferne Achter oder der Zehner neben dem Zentrumsblock positioniert (meist im Halbraum) um den Ball ins letzte Drittel zu tragen. Als letztes Lösungsmittel, welches vor allem genutzt wird wenn der Gegner über den ganzen Platz Mann gegen Mann verteidigt, wird der lange Ball auf eine der beiden Sturmspitzen gewählt. Für den zweiten Ball ist dann das nachrückende Mittelfeld verantwortlich, wobei der Zehner die Bälle in unmittelbarer Nähe und die zwei Achter alles weitere versuchen aufzusammeln.
Spielaufbau über Außen – Ohne Überzahl, Mit Dynamik
Darmstadt ist jedoch nicht auf die Progression durchs Zentrum angewiesen, obwohl die Formation vielleicht den Eindruck erwecken könnte. In Wirklichkeit spielt man sogar oft dorthin, wo die meisten Gegner ihren Pressingauslöser haben, auf den Außenverteidiger. Jedoch ist man auf diesen Pass innerhalb der Mannschaft bestens vorbereitet. Mit Pass auf den eher flach positionierten AV kann man beim Gegner zwischen zwei verschiedenen Anlaufverhalten unterscheiden, die beeinflussen welche Räume von den Darmstädtern belaufen werden.
Bleibt man beim Beispiel von Hannovers 4-2-4 gegen den Ball, so hat man einen Flügelspieler der den Außenverteidiger von Innen nach Außen presst (Abbildung 3). So bieten sich für Darmstadts Außenverteidiger nur noch Vertikale oder diagonale Bälle an, horizontal wird man vom Gegner gepresst. Die diagonale Passoption wäre der ballnahe Achter, der sich im Halbraum anbietet, aber auch weiter in Richtung Flügel anbieten kann. In welchen von beiden Räumen er sich anbietet, hängt von der Positionierung des gegnerischen Außenverteidigers ab. Dieser hat keinen nominellen Gegenspieler und versucht den Raum in der Breite zu schließen. Orientiert sich dieser jedoch zu nah am ballnahen Achter, öffnet dies den Pass die Linie herunter, wo der ballnahe Stürmer ins eins gegen eins mit dem gegnerischen Innenverteidiger gehen kann. Genauso kann es aber sein, dass aus Angst vor diesem Ball der Verteidiger in der Kette bleibt und so dem mit Dynamik einstartendem Achter zu viel Platz gewährt. Darmstadt versucht hier immer wieder eine Entscheidung zu erzwingen und Fehler herbeizuführen. Sollte keine der Optionen möglich sein, bleibt als letzte Möglichkeit der Pass auf den Zehner, der die Räume besetzt, die durch den Achter zuvor aufgerissen werden.
Die andere Variante ist für den Fall, dass der Gegner mit nur einem Spieler in der Breite verteidigt und Außenverteidiger auf Außenverteidiger schiebt (Abbildung 4). Hierbei ist erstmal wichtig zu beachten, dass der Anlauf nicht im Bogen von Innen nach Außen gelaufen wird, sondern frontal aus der Breite kommt. So öffnet sich für Darmstadts Außenverteidiger der erste Kontakt ins Zentrum hinein. Dadurch, dass sowohl der ballnahe Achter als auch der Stürmer den Weg in die Breite suchen, werden im Zentrum große Lücken frei, die hier optimal belaufen werden können. In der Folge hat der Außenverteidiger die Möglichkeit selber noch weiter zu treiben oder einen Mitspieler in besserer Position zu suchen. Als Option zum verlagern ist der ballferne Achter häufig völlig blank, da sein Gegenspieler rüberschiebt um das Loch in der Mitte zu schließen und versucht den Außenverteidiger am Dribbling zu stoppen.
Dominanz und Kreativität im besetzten Zentrum
Hat Darmstadt jedoch Ballbesitz im mittleren Drittel und der Gegner konzentriert sich aufs Mittelfeldpressing, kommen die Stärken dieser Formation erst richtig zum Vorschein. Durch die Enge Staffelung im Zentrum und die kurzen, aber die diagonalen Abstände zueinander kann das Spiel von einer auf die nächste Sekunde beschleunigt werden. Beide Achter bieten sich leicht versetzt nach Außen immer wieder an und können entweder in offener Stellung das Spiel vorantreiben oder manipulieren die gegnerische Struktur. Es bieten sich jedoch mehr Alternativen als nur um den zentralen Block herum, stattdessen versucht man durch geschicktes Freilauf Verhalten, Pässe zu den Stürmern zu ermöglichen, die wiederum den Zehner in Szene setzen. Oftmals entstammen diese Spielzüge der Kreativität der Spieler, andere sind eher einstudiert und werden mehrmals im Spiel versucht (Beispiel Abbildung 5). Im Beispiel kriegt der Sechser den Ball vom linken Innenverteidiger. In der Folge bieten sich beide Achter diagonal versetzt an, sodass sie selber in der Lage sind, bei Zuspiel mit Tempo in den Halbraum zu stoßen. Ziehen sie jedoch wie im Beispiel ihre Gegenspieler mit, öffnet dies die Räume im Zentrum. Einer der Stürmer agiert als Wandspieler für den Zehner, der bewusst vertikale Anspiele vom Sechser meidet und stattdessen auf eben jene Situationen wartet, in denen er mit Körperausrichtung zum Tor hin den Ball vom Stürmer abgelegt bekommt. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass der Darmstädter Freiheit hier keine Grenzen gesetzt werden, sodass immer wieder neue Kombinationen zu beobachten sind. Der einzige Rahmen der gesetzt wird, ist dass die Abstände nie zu groß werden sollten, da dies schnelles kombinieren erschwert.
Insgesamt hat das 4-1-2-1-2 wie alle anderen Formationen und Systeme seine Vor- und Nachteile. Dennoch gilt es festzuhalten, dass in Zeiten wo Zentrumsdominanz in jeder Spielanalyse ein wichtiger Unterpunkt ist, Systeme die von Natur aus ein gestärktes Zentrum besitzen in Zukunft auch wieder an Bedeutung gewinnen werden. Ob andere Mannschaften diesem Beispiel folgen, gilt es nun zu beobachten. Für Darmstadt und Florian Kohfeldt jedenfalls scheint es der perfekte Fit zu sein.
JK hat irgendwann als Jugendlicher hinterfragt wieso Werder jedes Spiel verliert und stieß irgendwann auf das Stichwort Taktik. Seitdem nutzt er seine Freizeit um weitaus mehr als Werder zu analysieren und geht einem Sport-Studium nach. Nebenbei auch noch leidenschaftlicher Trainer.
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