Österreich: RB-Fußball mit gestutzten Flügeln – RO & HN

3:1

Der Druck war hoch, ein Sieg musste her – und Österreich lieferte zumindest teilweise. Mit dem über ein Jahrzehnt lang eingeimpften RB-Fußball wollte Ralf Rangnick auch durch Polens Mitte hindurch. Doch was, wenn der Gegner das verhindert? Der Alternativplan geht nur im Ansatz auf.

Nachdem sowohl Österreich als auch Polen ihre Auftaktpartien jeweils knapp verloren hatten, lag eine Menge Druck auf dem „Duell der Verlierer“ der Gruppe D. Österreich hatte trotz einer guten Leistung gegen das Star-Ensemble aus Frankreich verloren, gerade in der ersten Halbzeit hatte sich das aggressive Pressing und das zentrumsfokusierte Vertikalspiel ausgezahlt. Ralf Rangnick wechselte dennoch dreimal im Vergleich zur ersten Begegnung: So begannen etwas überraschend Lienhart und Trauner anstelle von Danso und Wöber in der Innenverteidigung, zudem ersetzte Arnautovic Gregoritsch im Sturmzentrum. Die Hoffnung dabei bestand offenbar darin, mehr Spielstärke im Ballbesitz zu haben, um die tiefe polnische Fünferkette zu knacken.

Österreich überrennt Polens rechte Seite – aber ohne Ertrag

Gerade in der Anfangsphase ging diese Idee auf und Österreich war die klar dominante Mannschaft. In ihrem 4-4-1-1 System und mit klassischer Rangnick-RB-Schule lauerten sie gegen den Ball auf Pressingtrigger um anschließend schnell umzuschalten. Hierbei profitieren sie von ihrer hohen Intensität, Polen kam zunächst überhaupt nicht ins Spiel, was sich in 65% Ballbesitz und einem Verhältnis von 152:59 angekommenen Pässen in den ersten 25 Minuten widerspiegelte. Grund hierfür war auch, dass das Team von Trainer Michal Probierz keinen Zugriff herstellen konnte, wenn Österreich in Ballbesitz war.

Insbesondere Linksverteidiger Philipp Mwene hatte im asymetischen 4-2-3-1 (LOM Sabitzer weit rausgerückt, ROM Laimer wie immer zentrumsnah) extrem viele Freiräume, was auch daran lag, dass er sich deutlich höher positionierte als sein Pendant Posch auf der anderen Seite. Da Polens zentrale Mittelfeldspieler im 5-3-2 sehr mannorientiert agierten und Sabitzer durch seine breite Positionierung Frankowski band, hatte Mwene dahinter häufig keinen direkten Gegenspieler und konnte ohne Druck viele Angriffe initiieren. Nicht zufällig entstand das 1:0 (9.) durch Trauner aus einem Einwurf auf der linken Seite. Das Aufdrücken Trauners bei Einwürfen schien einstudiert, da dies mehrmals so praktiziert wurde.

Österreichs Probleme gegen polnisches Pressing und Flügelspiel

Auch weil Österreich die Intensität der Anfangsphase nicht beibehalten konnte und sich technische Ungenauigkeiten in der Mittelfeldzentrale einschlichen, fand Polen nach etwa 25 Minuten besser ins Spiel. So gelang es ihnen deutlich häufiger, die österreichischen Angriffe frühzeitig zu unterbinden: Piatek und Buksa orientierten sich an den Innenverteidiger, während das Mittelfeld mannorientiert versuchte Zugriff zu erzeugen. Diese Zuteilung ließ zwar beide Außenverteidiger relativ offen, allerdings wurden diese von Österreich kaum gesucht oder gefunden, der Blick ging weiterhin ziemlich starr nach vorne. Dies könnte der offensiven Qualität von Mwene und Posch geschuldet sein. Der Kniff, Sabitzer weiter nach außen zu ziehen als gegen Frankreich, sollte diese Schwäche auf der linken Seite kaschieren. Posch rückte maximal bis in den Halbraum vor dem polnischen Strafraum nach vorne. Gefährliche Flanken oder Durchbrüche auf die Grundlinie gab es trotz großer Freiheiten kaum, waren wohl aber auch nicht gewollt. Stattdessen wurden die Bälle im Spielaufbau relativ schnell lang in Richtung Arnautovic geschlagen, der allerdings damit nicht viel anzufangen wusste. Der Mailänder war ja ursprünglich wegen seiner starken Ballbehandlung und sein flaches Ablagenspiel ins Team geholt worden.

Und wie es oft so ist: Schleichen sich Fehler ins eigene Spiel ein, schöpft der Gegner neuen Mut. Polen konnte sein Ballbesitzspiel mit zunehmendem Spielverlauf peu á peu verbessern. Vor allem über die beiden Außenbahnspieler konnte Gefahr erzeugt werden, gerade hinter dem offensiven Mwene. Österreich offenbarte hier einige Schwächen in der Zuteilung im Strafraum, insbesondere am zweiten Pfosten, da die Viererkette stark ballorientiert verschob und herausrückte, wodurch ballfern große offene Räume entstanden. Dadurch kam Polen zu einigen Abschlüssen und schließlich nicht unverdient zum Ausgleichstreffer durch Piatek (30.).

Anpassungen? Zunächst Fehlanzeige

Das risikoaverse Aufbauspiel Österreichs setzte sich über die gesamte Begegnung fort, dabei gab es direkt nach dem Ausgleichstreffer eine Szene, die andeutet wie man das polnische Pressing hätte ausspielen können: Grillitsch kippte zwischen die Innenverteidiger ab und zog dadurch Zielinski weg. Diesen Raum nutzte Posch, der mit Ball am Fuß bis tief in die gegnerische Hälfte vorstoßen und den eingerückten Sabitzer bedienen konnte. Leider wurde dieser Ansatz nur dieses eine Mal verfolgt. Sabitzer war mit seiner Rolle auf dem Flügel nicht wirklich glücklich, stand sich mit Mwene am Strafraum immer wieder auf den Füßen und spielte dann gechippte Halbfeld-Flanken, die mit Arnautovic oder Baumgartner als Abnehmer ohnehin meist aussichtslos daherkamen. Grundsätzlich blieb das Aufbauspiel der Rangnick-Elf fokussiert auf lange Bälle mit darauffolgendem Gegenpressing zum Gewinn der zweiten Bälle. Eine Taktik, auf die sich die gegen tiefstehenden Polen anders als die favorisierten Franzosen binnen einer Halbzeit eingestellt hatten.

Zur Halbzeit wechselte Rangnick zwar mit Wimmer für Grillitsch einen klaren Außenbahnspieler ein (Laimer ging auf die Sechs). Doch während Laimer in der zentralen Rolle deutlich stärker spielte, änderte sich auf rechts nur wenig. Wie schon im ersten Spiel gegen Frankreich legte Österreich kaum Fokus auf die Besetzung der Breite, sondern agierte mit einer sehr engen Offensivformation. Entsprechend rückte auch Wimmer oft ins Zetrum ein und da sich Posch weiterhin offensiv zurückhielt, fehlte gerade auf rechts häufig eine Anspielstation in der Breite.

Flügel, Flachpass, Tor: Eine österreichische Anomalie

Szene vor dem 2:1: Wieder bekommt Polen keinen Zugriff und Österreich kann verlagern. Prass kann daraufhin völlig unbedrängt tief in die gegnerische Hälfte dribbeln – und findet Torschütze Baumgartner im Zentrum.

Trotzdem blieb Österreich die spielbestimmende und bessere Mannschaft, während Polen offensiv harmlos und uninspiriert wirkte. Nur selten konnte sie ihre Ansätze im Flügelspiel in Torgefahr umsetzen und die österreichischen Schwächen in der Rückwärtsverteidigung bespielen. Daran änderte auch die Einwechslung von Robert Lewandowski (60.) nichts. Im Gegenteil: Polen agierte nun etwas offensiver, die freigewordenen Räume wusste Österreich dann für sich zu nutzen: Der für Mwene eingewechselte Alexander Prass (eigentlich LM) nutzte endlich einmal den Raum auf links und spielte einen schönen Flachpass an den Strafraumrand, wo Arnautovic gut durchließ und Baumgartner dadurch relativ frei zum 2:1 einschieben durfte (66.). Ein Tor über Flügel – ein kaum für möglich gehaltenes Szenario nach einer Stunde Spielzeit. Dies war auch möglich, weil sich Sabitzer nach innen ins linke Halbfeld gezogen war und so deutlich interessantere Räume besetzt hatte.

Knapp 10 Minuten später wurde die Partie durch den Elfmeter zum 3:1 dann entschieden. Zuvor hatte Österreich Keeper Pentz erneut die Möglichkeit gehabt, flach über den Sechserraum aufzubauen, er entschied sich aber für den langen Ball auf Arnautovic, der den Ball per Kopf in den Lauf von Sabitzer verlängern konnte. Dieser lief daraufhin frei auf Szczesny zu und holte den Strafstoß heraus, welchen Arnautovic dann sicher verwandelte. 

Polen löst das Mittelfeld auf und damit alle Probleme Österreichs

Zuvor hatte Polen schon mit der Einwechslung von Grosicki (75. für Slisz) auf den Rückstand reagiert. Grosicki agierte fortan als Linksaußen, wodurch Polen mit Ball in einem 4-2-4 spielte. So verschlechterte sich die polnische Aufbaustruktur noch stärker, da man nun im starken österreichischen Mittelfeldzentrum in Unterzahl war. Es entstand ein großes Loch im Zentrum, und Polen kam kaum mehr zu torgefährlichen Aktionen. Einzige Ausnahme bildete die 92. Minute, als Österreich erneut den zweiten Pfosten völlig blank ließ und Grosicki frei zum Abschluss kam. Ansonsten hatten die Österreicher das Spiel weiter im Griff und hatten über die eingewechselten Schmid, Gregoritsch sowie Laimer noch zahlreiche Umschaltstationen.

Fazit: Was kann Österreich und was nicht?

Insgesamt lässt sich durchaus von einem verdienten Sieg der Österreicher sprechen: Man blieb seiner Ausrichtung bis auf ein paar Anpassungen treu und war den Großteil des Spiels die überlegene Mannschaft. Auffällig waren erneut die hohe Intensität, insbesondere in der Anfangsphase, sowie der Fokus auf (Gegen-)Pressing und das Bespielen des Zentrums mit einer zumeist hochstehenden letzten Linie. Dies klappte – begünstigt durch träge Polen – gerade in der Anfangsphase hervorragend. Allerdings hatte die neu formierte Viererkette einige Probleme bezüglich der Zuordnung in der tiefen Strafraumverteidigung und nach Hereingaben auf den zweiten Pfosten.

Auf dem Papier hat Österreich die individuelle Qualität auf den Sechser-Positionen, um einen flachen und kontrollierten Aufbau aufzuziehen. Doch es ist ein Spiel auf Messers Schneide, zwischen schnellem vertikalem Kombinationsspiel über die Halbräume und folgenreichen Ballverlusten in der Vorwärtsbewegung liegt ein schmaler Grad. Das weiß auch Rangnick, der deshalb lieber den langen Ball mit anschließender Jagd auf den zweiten Ball sehen will. Das wilde Spiel soll gefälligst in der gegnerischen und nicht in der eigenen Hälfte stattfinden. Die Abwehrkette schiebt entsprechend weit hoch und verteidigt so aggressiv wie möglich und hoch wie nötig am Mann.

Im EM-Turnier kann es so für die Österreicher weit gehen. Gerade gegen konstruktiv auftretende Gegner mit einem höheren fußballerischen Anspruch als Polen, kann die RB-Schule für produktives Chaos sorgen. Im letzten Gruppenspiel kommt mit der Niederlande genau so ein Gegner, der ähnlich wie Frankreich keinen Spaß an hoch pressenden Gegner hat, jedoch in Umschaltsituationen über extrem gefährliche Spieler wie Jeremie Frimpong oder Cody Gakpo verfügt. Spiele mit österreichischer Beteiligung, so viel steht fest, werden bei diesem Turnier weiterhin viel Unterhaltung bieten.

Eine Analyse von Rune Orb & Hannes Nebelung

RO hofft noch immer auf den großen Durchbruch von Adama Traoré. (X: @trikotnummerfuenf) 

HN ist Sportjournalist und arbeitet bei BR24Sport (https://shorturl.at/umWPH) und aktuell sehr froh über den Trainerwechsel bei Borussia Dortmund. Wer sich auf die neue Saison mit mir da reinnerden will, ist herzlich willkommen.

WVQ 25. Juni 2024 um 13:06

Im Artikel wird zum einen Österreichs Fokus auf Zentrum und Gegenpressing und die Vernachlässigung der Breite betont, andererseits illustrieren aber nicht weniger als vier Szenenbilder eine stark nach links verschobene polnische Formation samt Verlagerung auf Österreichs linken Flügel. (Sogar als „prägendes Muster der Anfangsphase“ bezeichnet, später aber wiederum als Anomalie…?) Hier wäre mehr Erklärung und vermutlich auch mehr Szenenkontext hilfreich – wie kam die jeweilige Konstellation zustande, aus der heraus Österreich verlagerte bzw. wie überhaupt der Ballbesitz (Spielaufbau/Pressing/Gegenpressing)? Was passierte nach der Verlagerung? Warum konnte Österreich die (anscheinend ja doch bespielten) Freiräume am Flügel nicht nutzen? Mir wird letztlich nicht ganz klar, worin genau eigentlich die (Flügel-)Kritik besteht, wenn Österreichs Ansatz in diesem Spiel doch anscheinend recht gut aufging…

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Peda 25. Juni 2024 um 22:07

Ich glaube, da stand die Meinung zum Teil schon vor dem Spiel fest. So zentrumslastig ist Österreich unter Rangnick nämlich nicht. Man spielt ja auch keine Raute wie Salzburg oder im 4-2-2-2, sondern eben ein 4-2-3-1.

Dazu möchte ich einwerfen, dass die Intensität der Anfangsphase wohl ganz bewusst nicht gehalten und bis zur Pause dann wenig Risiko im Aufbau genommen wurde. Österreich ist am besten, wenn es sehr intensiv und risikoreich agiert. Das kann aber nur erfolgreich sein, wenn man sich notwendige Verschnaufpausen gönnt. Das passierte jetzt in der Gruppenphase immer im zweiten Teil der ersten Hälfte, im unbedrängten tiefen Spielaufbau und gegen Frankreich auch ganz deutlich bei Einwürfen. Dazu hat Rangnick seinen Kader auch so weit, dass er ohne großen Leistungsabfall rotieren kann.

Den Gruppensieg habe ich noch immer nicht verarbeitet. Abgesehen von der eigenen starken Leistung war dazu ja auch der polnische Punktgewinn notwendig. Jetzt hat man eine Woche zur Vorbereitung auf einen (nominell leichteren) Gegner und Rangnick wird die zu nutzen wissen.

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