Der Weltmeister ballbesitzt sich fehlerfrei zum Sieg – MX

Am ersten Spieltag der Copa América schlug Argentinien Kanada mit 2:0. Beide Teams traten in altbekannter Spielweise auf, aber vor allem in der zweiten Halbzeit kontrollierte die Mannschaft von Lionel Scaloni das Spiel und den Gegner. Während Kanada aufgrund fehlender Flexibilität und schwindender Kraft die erste Niederlage hinnehmen muss, herrscht bei Argentinien Euphorie bei der Mission Titelverteidigung.

Auch heute sah man wieder: Der Spielstil der Argentinier ist auf horizontales sowie eher abwartendes Kurzpassspiel aufgelegt. Nur in Ausnahmen spielte man lange Bälle auf den Flügel, wenn Kanada sehr weit aufgerückt war. Im Ballbesitzspiel formiert sich Argentinien in einem 2-4-4. Lisandro Martínez sowie Christian Romero in der Innenverteidigung schieben im Ballbesitzspiel in eine leicht breite Anordnung, dabei ergibt sich teilweise eine gewisse Asymmetrie, wenn einer der beiden den Ball am Fuß hat, denn der ballferne Innenverteidiger steht meist etwas tiefer, um eine Isolation durch den zweiten Anläufer zu verhindern. Die Innenverteidiger rücken dabei auch hoch auf, wenn sich der Ball in der zweiten oder dritten Aufbaulinie befindet, man sichert dabei die ballnahe Seite ab und schiebt etwas ein.

Kanada gegen den Ball in einem 4-4-2, wo…

…Romero und Martinez eine gewisse Höhe gewährt wurde, denn man konzentrierte sich vielmehr auf die eigene Kompaktheit im 4-4-2 und das Abblocken der Auslösung über die Sechser Paredes und De Paul. Die Kompaktheit beschrieb sich darin, dass man in der ersten wie zweiten Pressinglinie eng stand und erst in der Abwehrreihe an Breite verzeichnete. Aus jener Kompaktheit brachen teils schon die Stürmer in der ersten Pressinglinie aus, wenn eben die Innenverteidiger in eine zu hohe Position gelangten, hierbei lief man immer so an, dass der Sechser im Deckungsschatten verblieb. Der ballferne Außenverteidiger positionierte sich meist aus Gründen der Absicherung etwas flacher, der ballnahe sollte sich grundsätzlich etwas höher und breiter positionieren.

Ein Grund hierfür war…

…die Pärchenbildung mit dem Flügelspieler, bekam der Außenverteidiger (hier Molina) den Ball, so kippte auch der Flügelspieler (hier Di Maria) auf engem Raum zum Außenverteidiger ab. Nicht wenige Male erschien es so, als würde der Außenverteidiger den Ball empfangen, derweil bekam ihn der Flügelspieler und der Außenverteidiger hinterlief. Um die Kompaktheit im Zentrum nicht zu verlieren, konnte Kanada nicht die Breite von Molina sowie Acuna aufnehmen. Zugleich stand zwar die Verteidigungslinie etwas breiter als die beiden davor, aber dennoch stand man hier nicht so breit wie die Flügelspieler, die daraus oft mit einem großen Vorsprung abkippen konnten. Somit hatte Argentinien immer wieder Raum und Zeit durch ein 2v1 am Flügel hinter die gegnerische Abwehrlinie zu kommen. Teils rückten auch Mittelfeldspieler in diese Zone ein, um einer Unterzahl zu begegnen, dann machten sie aber zentrale Räume auf, da sich die Argentinier aktiv aus dem Deckungsschatten freiliefen.

Fokus auf den Sechserraum

Allgemein stand der Sechserraum unter einem besonderen Fokus. Dieser Raum wurde eigentlich stets von einer hohen Anzahl an Kanadier in der zweiten Pressinglinie zugestellt (rote Kreise) und die Sechser lagen im Zugriffsbereich der Außenspieler Bombito und Millar, aber auch der defensiven Mittelfeldspieler Eustaquio sowie Kone. Was Argentinien zu einer so schwer zu besiegenden Mannschaft macht, ist ihre Fähigkeit, flexibel und variabel zu spielen. Wenn man sie beobachtet, wird schnell klar, dass ihre Stärken vor allem darin liegen, dass sie ihr Spiel in die Breite treiben und ihre Gegner auf jede erdenkliche Art und Weise ausdehnen in ihrem 2-4-4. Die Flügelverteidiger Molina und Acuna sollen das Spiel besonders breit machen und so natürliche Passwege schaffen, durch die der Ball nach und nach gespielt werden kann und so der Gegner durch das ständige verschieben zermürbt wird.

Ähnliches Bild ergab sich tatsächlich auch beim Test gegen Costa Rica, diese agierten in einem tiefen und engen Block. Um diesen zu durchbrechen, versuchte Argentinien, die Gegner konsequent mit ihren Bewegungen im letzten Drittel aus der Reihe zu locken und so Lücken zu schaffen, durch die andere Spieler hindurchlaufen konnten. Auch heute konnte man jene entgegengesetzten Bewegungen zentral mit Messi und Alvarez erkennen, aber oft auch durch das Zusammenspiel aus Flügelspielern und Außenverteidigern (siehe oben). Zugleich bestand immer die Möglichkeit, dass der ballnahe zentrale Mittelfeldspieler horizontal verschiebt und so eine Dreiecksbildung möglich wird, dazu zeichneten sich auch oft Tiefenläufe bis in die Abwehrreihe der Kanadier aus dem Zentrum ab. Diese Wege konnte Kanada mit ihrer mannorientierten Herangehensweise nicht immer mitgehen und eine numerische Gleichzahl in letzter Linie entstand. Gerade Mac Allister und De Paul positionierten sich aus seiner nominellen zentralen Position extrem breit am Flügel.

Argentinien spürte dann früh die Fokussierung des Gegners auf diese zentralen Räume vor den ballspielenden Innenverteidigern. Dahingehend reagierte man mit mehr Abkippbewegungen von Rodrigo De Paul und Leandro Paredes. Paredes ließ sich teils zwischen die beiden Innenverteidiger fallen, dadurch konnte Kanada im 4-4-2 nicht mehr mit einer numerisch gleichen Anzahl im letzten Drittel anlaufen, wie der Gegner in der Aufbaulinie. De Paul fiel oft in den Halbraum vor den ballspielenden Innenverteidiger, um dann über das Dreieck mit dem Außenverteidiger auslösen zu können. Tendenziell spürte man dann Mitte der ersten Halbzeit, als diese Bewegungen begannen, eine gewisse Verwirrung bei den Stürmern. Danach stellte Kanada im Anlaufen durch das Hochschieben der Flügelspieler auf ein 4-2-4 um. Dadurch musste Kanada etwas an Kompaktheit und Stabilität einbüßen, denn der Raum vor der eigenen Abwehrreihe war teils enorm und auch die breit schiebenden Flügelspieler waren nun mit langen Bällen besser einsetzbar. Im 4-2-4 agierte Kanada dahingehend im Angriffspressing weiter auch nicht besonders risikoreich mit direkten Anlaufverhalten, sondern lief erst beim Pass vom Innenverteidiger auf den Außenverteidiger an, damit dieser nicht den entgegenkommenden und breit agierenden Flügelspieler einsetzen kann. Hierbei war es essenziell, dass Millar und Buchanan so anlaufen, damit der Passweg zugesperrt bleibt, vereinzelt wurden hier Fehler gemacht und die Außenverteidiger mussten risikoreich auf die Flügelspieler rücken.

„Remember the name, Lionel Messi“

Lionel Messi, mit gewohnter Ballsicherheit und 90 % Passquote, nahm auch beim Eröffnungsspiel der Copa América eine wichtige Rolle ein. Im tiefen Aufbau ordnete er sich neben Alvarez als zweite Spitze an und pendelte in der Folge häufig zwischen der zentralen Position und der im Halbraum zwischen der kanadischen Innen- und Außenverteidiger. Dadurch war er für die Kanadier schwierig zu greifen, da sie ihn gerne stets mannorientiert zugestellt oder sogar mit beiden Innenverteidiger gedoppelt hätten. Aber bei einer zentralen Positionierung von Messi wurden die Halbräume extrem bespielbar durch die enge IV-Anordnung für Argentinien und Nachrücker aus dem Zentrum wie Alvarez wollten dies in tiefen Läufe in die Halbräume nutzen, teils auch ausnahmsweise mit langen möglich. Kanada löste es dann teils, indem sie die Viererkette sehr flach agieren und die Flügelspieler sich mehr fallen ließen, daher wurden Übergaben einfacher.

Mit dem Laufe der Spielzeit fand aber Lionel Messi noch besser ins Spiel und angefangen mit der Umstellung auf der 4-2-4-Angriffspressing begann die Mannschaft von Jeese Marsch zu schwimmen. Immer wieder fand Argentinien im Rücken des numerisch unterbesetzten zentralen Mittelfeld der Kanadier den Weg hinter die Abwehrreihe, da auch die Übergaben mit den Innenverteidigern mehr als ausbaufähig war. Das Problem bestand hauptsächlich darin, dass die zentralen Mittelfeldspieler von Argentinien sich im Ballbesitz breiter anordneten und die kanadischen Sechser diese Breite nicht annehmen wollten, denn sonst wäre der Raum im Zentrum sowie vor der Abwehrkette viel zu groß geworden. Das sah man auch beim Treffer kurz vor Ende des Spiels zum 2:0: Nachdem Kanada aggressiv bereits mannorientiert die Innenverteidiger angelaufen hatte, rückten sie im Kollektiv zu langsam nach und verloren daher an Kompaktheit. Daher tat sich Argentinien ziemlich einfach beim Überspielen der ersten und zweiten Pressinglinie, auch weil die Zuordnung im Pressing sowie die Übergaben nicht mehr stimmten. Infolge fanden die Argentinier den Raum vor der Abwehr über die Flügel, nachdem Johnston sehr weit aufrückte und Platz hinterließ. Danach fand man über den eingewechselten Lo Celso, der als zentraler Mittelfeldspieler horizontal verschob, den Weg ins Zentrum. Warum, Johnstone ist doch dran, werden sich nun einige fragen. Ja, aber Johnston erkennt, dass er auf den Flügel rücken muss, denn sonst ist sein eigentlich Gegenspieler durch. Allerdings hinterließ er in seinem Rücken Lo Celso, der dann den Ball erhält und aufgrund des fehlenden von hinten Attackierens durch Russell-Rowe, erst einige Meter dribbeln kann, um dann im Raum vor der Abwehr Messi finden zu können. Im letzten Drittel zog Argentinien dann mit der Breite auf letzter Linie die Abwehrreihe der Kanadier auseinander und die Schnittstelle war für Martinez offen.

Beim ersten Treffer der Südamerikaner war es ebenso eine fragwürdige Zuordnung in der Abwehrlinie der Kanadier. Der Pass nach einem Einwurf von De Paul auf Messi sorgte für ein leichtes Einrücken von Eustaquio, womit der Passweg auf Lionel Messi geöffnet wurde. Somit konnte Lionel Messi einiges an Raum vor sich finden, danach folgt eine typische Aktion der „La Albiceleste“: Mit einer früh antizipierten Bewegung lockte Alvarez Cornelius etwas diagonal aus der Kette heraus und öffnete so einen Raum, in welchen Messi seinen Schnittstellenpass zu Mac-Allister ansetzte. Alvarez läuft nach seinem Entgegenkommen dennoch in die Box ein und kann so nach einem Abpraller zur Führung einschieben..

Der Plan von Kanada mit dem Ball

Wie schaute dieser aus? Grundsätzlich baute man in einem asymmetrischen Dreieraufbau auf, davor befanden sich zwei Mittelfeldspieler im Halbraum, also auch den ballfernen Außenverteidiger, wie in der Mitte einen defensiven Mittelfeldspieler, der immer auf die ballnahe Seite verschiebt. Die letzte Linie agierte ebenfalls tendenziell breit, wobei auch hier Überzahl auf dem ballnahen Flügel durch Verschieben geschaffen wurde und so jene Breite verpuffte.

Tendenziell löst man meistens über den Halbraumspieler in der Dreierkette auf, dann soll über die Überladung am Flügel Progression stattfinden. Man tat sich aber gegen das mannorientierte Pressing der Argentinier schwer. Sie erkannten aber früh, dass sie durch das konservative Pressingverhalten von Messi in seiner Nähe eine Überzahl haben und dahingehend dort auslösen können. Allgemein gewährte auch Argentinien den Innenverteidigern Raum, aber anders als Kanada selbst, verschob man frühzeitig und besser horizontal aus dem 4-1-2-3 und konnte so den Druck auf den ballführenden Außenverteidiger erhöhen. Dabei lief man in einem Winkel an, dass der Außenverteidiger seinen schwachen Fuß benutzen muss. Gefährlich wurde es vor allem, wenn der Raum zwischen den Linien über Eustaquio oder Millar gefunden wurde, dies war aber nur selten der Fall, denn Argentinien ließ wenig Raum zu den direkten Gegenspielern. Im letzten Drittel angekommen schoben beide Außenverteidiger in die Box, dazu liefen auch die nachrückenden Zentrumsspieler ein, dahingehend war die Boxpräsenz sehr hoch und Argentinien musste wachsam bleiben.

Fazit

Dass Kanada in der Gesamtbetrachtung die deutlich unterlegene Mannschaft war, scheint überzogen. Das 2:0 ist aber gerechtfertigt, auch weil Kanada auf das Abkippverhalten der Sechser und allgemein auf die Flexibilität der Argentinier keine Antwort wusste. Argentinien überzeugte, denn sie machten das, was sie gegen den Ball und mit dem Ball können, sehr gut. Dennoch sollte man noch abwarten, wenn andere Kaliber auf die Weltmeister in dieser Copa América treffen, gerade in Sachen Restverteidigung wird dann mehr Vorsicht geboten sein müssen, denn auch Kanada kam hierüber zu Chancen.

MX hat eine Vorliebe für besonders auf Ballbesitz ausgerichtete Mannschaften, steht mittlerweile aber auch auf Relationismus. Neben Der-Jahn-Blog schreibt er auch für miasanrot. Vorher war er im Analysebereich des NLZ von Jahn Regensburg tätig.

Simon_tr_08_ 23. Juni 2024 um 10:52

Bitte mehr zur Copa. Super Artikel, SV ist back!

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