99% sicherer Sieg, aber kein finaler Maßstab

Julian Nagelsmann und die deutsche Nationalmannschaft sind zum Start der Europameisterschaft 2024 im eigenen Land erfolgreich mit einem 5:1 Erfolg über Schottland ins Turnier gestartet. Dabei passte der Matchplan der Gastgeber perfekt auf die Probleme der Schotten gegen den Ball. Schottland hingegen wirkte erschreckend schwach und passiv in den meisten Spielphasen der Partie.

Variabilität im Aufbau

Während gegen Griechenland im letzten Test vor dem Start des Turniers viele Abläufe noch nicht passten, wirkten die Deutschen gegen Schottland deutlich besser vorbereitet auf den tiefen 5-4-1 Block des Gegners. Gegen Griechenland im letzten Test entsprang jeder Ballbesitzvortrag des Teams von Nagelsmann einer 3-1-5-1 Struktur, bei der sowohl das Tempo nach Verlagerungen fehlte, als auch die fehlende Tiefe in letzter Linie (zurecht) bemängelt wurde. Problematisch hierbei war vor allem, dass nahezu alle deutschen Offensivspieler in einer entgegenkommenden Bewegung zu leicht zu verteidigen waren und in der Spielfortsetzung meist keine tiefe Option mehr vorhanden war, hierfür jedoch zwischen den Linien ein Überangebot herrschte.

Gegen das schottische 5-4-1 löste es das deutsche Team im Auftaktspiel deutlich flexibler und wechselte immer wieder zwischen einer 3-1-5-1 Struktur durch das seitliche Abkippen von Toni Kroos in Verbindung mit dem Hochschieben von Mittelstädt und Kimmich und dem gegenüberstehend einem 4-2-3-1 mit der Doppelsechs bestehend aus Kroos und Andrich. Da die Schotten nominell mit Adams als einzige Spitze agierten, konnten und wollten sie über weite Strecken der Partie keinen Druck auf die ballführenden Spieler der ersten deutschen Linie ausüben.

Durch die im 4-2-3-1 flacheren Außenverteidiger Mittelstädt und Kimmich schaffte es Deutschland, die schottischen Außenspieler McGinn und Christie ins Zweifeln zu bringen. Um die Kompaktheit im Zentrum nicht zu verlieren, konnten sie nicht die Breite von Kimmich und Mittelstädt aufnehmen. Zugleich konnten Musiala und Wirtz in deren Rücken die Halbräume besetzen und somit die Flügelverteidiger Robertson und Ralston immer wieder in das Einschieben locken. Toni Kroos, der mit einer Passquote von 99% (101 von 102 gespielten Pässe kamen an) auflief, bestimmte beim deutschen Team immer wieder die Aufbauvariante. Im 4-2 Aufbau ordnete er sich neben Andrich und pendelte in der Folge häufig zwischen der Sechser- und der Halbverteidigerposition. Dadurch war er für die Schotten schwierig zu greifen, da sie ihn situativ mit McTominay direkt anlaufen konnten und beim kompletten Abkippen ihm entweder kompletten Freiraum gewährten oder durch McGinn über einen „Blind-Side-Hit“ den Ballverlust erzwingen wollten. Die Freiheiten von Toni Kroos ergaben sich somit aus der Rotation des deutschen Aufbaus, jedoch auch aus der Passivität der schottischen Mannschaft gegen den Ball. Folglich konnte Kroos immer wieder ohne direkten Gegnerdruck drehen und den vertikalen Passempfänger suchen, anstatt den Querpass wählen zu müssen.

Während das deutsche Team gegen Griechenland und die Ukraine seine Außenverteidiger häufig in letzter Linie positionierte und in der Folge eine deutliche Konteranfälligkeit offenbarte, war der deutsche Matchplan gegen die Schotten darauf ausgelegt, defensiver zu agieren. So war jeweils eine Restverteidigung von +1 hergestellt und man lief zu keiner Zeit ernsthaft Gefahr in Situationen wie gegen Griechenland oder die Ukraine zu geraten. Durch die Flexibilität im Aufbau schaffte man es zudem, nicht so ausrechenbar zu sein, wie man zuletzt in den Testspielen wirkte. Schottland wirkte darauf bedacht, das Zentrum kompakt zu halten und schien Deutschland im 3-1-5-1 mit hohen Flügelverteidigern zu erwarten. Besonders bemerkenswert war hierbei jedoch, dass sie auf die Anpassung der deutschen Mannschaft im Aufbau nicht reagierten.

Das 5-4-1 der Schotten ermöglichte es ihnen kaum, Druck auf den Ball zu bekommen. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie keinen tiefen Block wählten, sondern ihre eigene letzte Linie extrem hoch positionierten und es den deutschen immer wieder erlaubten, durch den fehlenden Druck auf den ballführenden Spieler die Kette zu überspielen.

Die Tore der ersten Halbzeit als Endprodukt dieser Konstellationen

Gegen Griechenland fehlte, wie bereits erwähnt, vor allem in letzter Linie die tiefe Bewegung, um den Gegner zum Ab- und Durchsichern zu bekommen und damit eventuelle Unordnung zu kreieren. Gegen Schottland zeigte das deutsche Team, dass es aus dem Test der Vorwoche gelernt hat. Musiala und Wirtz positionierten sich immer wieder im Halbraum zwischen den Achtern, Halb- und Flügelverteidigern. Hierdurch schafften sie es immer wieder, Zuordnungsprobleme herzustellen, da Gündogan als Überzahlspieler zwischen den Linien „schwimmen“ konnte. Diese Positionierungen von Wirtz und Musiala sorgten bei Schottland dafür, dass sie in letzter Linie rausgezogen wurden und in der Tiefe verwundbar waren, da sie wenig bis gar nicht absichern geschweige denn durchsichern konnten. Diese gegenläufigen Bewegungen sorgten in den ersten 45 Minuten des Öfteren für das Überspielen der schottischen Abwehrkette mit einem Chipball.

So konnte das deutsche Team beim zwischenzeitlichen 2:0 aus der cleveren Positonierung von Gündogan zwischen den Linien drehen und durch die entgegenkommenden Musiala und Wirtz die Kette Schottlands auseinanderziehen. Havertz, der kurzzeitig im Abseits weilte, verstand es in der Folge sich im Rücken der Abwehr abzusetzen und das 2:0 vorzubereiten. Besonders auffällig war das Herausziehen von Porteous durch Musiala. Hier zeigte sich auch die Spielintelligenz von Havertz, der den frei gewordenen Raum im Rücken von Porteous erkannte und sich dort positionierte, um im Anschluss an Gündogans Aufdrehen die Tiefe attackieren konnte.

Hier hätte Schottland durch zwei kleine Details verhindern können, ein weiteres Tor zu kassieren nach dem frühen Rückstand. Der unten stehenden Grafik ist zu entnehmen, dass der Passwinkel von Kroos auf Gündogan dadurch aufging, dass McTominay auf Kroos achtete und McGregor die Bewegung von Gündogan im Rücken der beiden zu spät erkannte und nicht darauf reagierte.Des weiteren hätte Ralston den Raum im Rücken von Porteous schließen müssen. Auch wenn die deutschen Offensivspieler im Halbraum sehr clever agierten, indem sie immer wieder die direkten Gegnerbindung erzwangen durch die entgegenkommende Bewegung, muss sich Schottland im Nachgang den Vorwurf machen lassen, im Ab- und Durchsichern zu nachlässig gewesen zu sein. Mit mehr Konsequenz hätte das deutsche Team sich nicht so einfach durch kombinieren können.

Das Gegnerbinden und Freiziehen von Räumen war essenzieller Bestandteil des deutschen Erfolgs über Schottland. Beim zwischenzeitlichen Führungstreffer durch Wirtz war es eine Reihe von Läufen ohne Ball, die Zielräume öffneten und es Deutschland ermöglichten, in Führung zu gehen. Zunächst zog Musiala durch die Positionierung zwischen Tierney und Robertson den Flügel für Kimmich frei, den Kroos (erneut unbedrängt) aus dem Sechserraum bespielen konnte. Nachfolgend verstand es Gündogan McGregor und Hendry durch seinen Lauf in die Box zu binden und konnte, auch durch das Attackieren des zweiten Pfostens von Kai Havertz gegen Porteous, den Rückraum für Florian Wirtz öffnen, der dann einen freien Abschluss hatte.

Somit lässt sich konstatieren, dass Schottland mit McTominay gegen Kroos aktiv keinen Druck auf den Ball bekam und nachfolgend Lücken schließen musste, wodurch Deutschland am Ende den freien Fuß im Rückraum generieren konnte.

Schottland hätte dies jedoch verhindern können durch einige Faktoren. Der unteren Grafik ist zu entnehmen, was die Schotten vermeiden hätten müssen. Der bereits angesprochene fehlende Druck von McTominay gegen Kroos ist hierbei nur der Anfang. Durch das Anlaufen von McTominay fehlt er vor der eigenen Kette im Raum gegen Gündogan und Wirtz, wodurch McGregor nominell in einer 1vs2-Unterzahl stand, wenngleich er den beiden deutschen Offensivakteuren den Raum in seinem Rücken gewährte. So konnte Gündogan in letzter Instanz beim Führungstreffer den Raum für Wirtz öffnen, da McGregor nach der Verlagerung von Kroos mit Blick auf das eigene Tor verteidigen musste und somit Wirtz schlichtweg aus dem Blick verlor. Durch ein Einrücken von Christie beim Rausverteidigen McTominays hätten die Schotten durch eine Mannorientierung gegen Wirtz und Gündogan das Freiziehen des Rückraums verhindern können. Dass der Seitenwechsel auf Kimmich von Kroos gespielt werden konnte, lag vor allem an der sehr ballorientierten Verschiebung der Schotten gegen den Ball.


Die Fünferkette der Schotten orientierte sich an der Zentrumsorientierung von Musiala und Havertz, wodurch auch Robertson auf die ballnahe Seite einrückte und Musiala im Halbraum aufnahm, wodurch die Gäste in letzter Linie 5vs2 standen. Hier wäre also eine breitere Positionierung durch Robertson inklusive des Nachschiebens von Tierney auf Musiala möglich gewesen. Alternativ hierzu wäre auch ein Verhalten Robertsons „auf dem Sprung“ möglich gewesen, um beim horizontalen Balls von Kroos rausverteidigen zu können.


Auch ein Vorwärtsverteidigen der Schotten gegen Wirtz und Gündogan wäre denkbar gewesen, jedoch hätte sie dies durch die Tiefenläufe von Havertz, Musiala und Co. nur noch verwundbarer gemacht. Allgemein lässt sich konstatieren, dass die Schotten zwar ein 5-4-1 gegen Ball wählten, um Personal in letzter und vorletzter Linie gegen den Ball zu haben, jedoch nicht klar wusssten, wie sie dieses Personal einsetzen wollten.

Zu keiner Zeit Gefahr durch Schottland

Der Matchplan von Trainer Steve Clarke wirft nachfolgend Fragen auf. Auch nach dem deutschen 2:0 durch Musiala änderte sich am schottischen Spiel wenig bis gar nichts.
Die einzige Chance auf Umschaltmomente hätte sich ergeben, sofern das deutsche Team im Zentrum zu gierig in den Druck gespielt hätte und Schottland so den Ballverlust hätte erzwingen können. Ansonsten fehlte gegen den Ball ein klarer Plan, wie man die deutschen Spieler ins Zweifeln hätte bringen können.

Viel besorgniserregender war der schottische Matchplan jedoch im puncto eigener Ballbesitz. Bei einem 5-4-1 vermutet man eher, dass bei relativ flachen Flügeln das Pressing des Gegners direkt überspielt wird mit einem langen Ball auf einen Zielspieler, um nachrücken zu können. Schottland versuchte es jedoch immer wieder mit einem Kurzpassspiel aus der eigenen Hälfte heraus, wodurch das deutsche Team in ballnaher Mannorientierung anlaufen konnte. Während Havertz Hendry und Musiala Tierney beziehungsweise Wirtz Porteous anliefen, endeten die Sequenzen des Ballbesitzes der Schotten spätestens an der eigenen Außenverteidigerposition. Deutschland konnte durch Mittelstädt und Kimmich auf den gegnerischen Außenverteidiger hochschieben und schaffte somit ballnah immer mindestens eine Gleichzahl, da Schottland scheinbar keinen genauen Plan dafür entwickelt hatte. Somit mündete dies meist in einem unkontrollierten langen Ball der schottischen Mannschaft. Hierbei waren jedoch die deutschen Innenverteidiger Tah und besonders der starke Rüdiger in der Anfangsphase häufig zur Stelle und konnten jegliche, potenzielle Gefahr meist im Keim ersticken. Doch auch mit dem Rückstand änderte sich an dieser schottischen Herangehensweise nichts. Es wirkte fast so, als wolle man dieses Spiel über sich ergehen lassen.

Fazit: Wichtig für die Euphorie, aber auch nicht perfekt

Das Auftaktspiel der Europameisterschaft im eigenen Land zu gewinnen, war essenziel, um eine Euphorie im Land zu erzeugen. Durch den berechtigten Platzverweis gegen Porteous kurz vor der Pause war das Spiel bereits früh entschieden. Entgegen der Darbietungen gegen die Ukraine und Griechenland war die deutsche Mannschaft effektiv vor dem gegnerischen Tor und erzielte aus wenigen großen Chancen drei Tore im ersten Durchgang. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Schottland nach 90 Minuten bei 0,00 xGoals stand und lediglich durch das unglückliche Eigentor von Antonio Rüdiger zu einem Ehrentreffer kam.

Jedoch waren es die außerordentlichen Performances von Kroos und Musiala, gepaart mit einer besseren Konterabsicherung durch die etwas verhaltenere Positonierung der Außenverteider im deutschen Spiel, die einen Erfolg über ein passives Schottland ermöglichten. Gegen individuell stärkere und vor allem mutigere Gegner wie Ungarn und die Schweiz wird es für Deutschland wichtig sein, erneut variabel zu sein, Kroos in Freiräume zu bekommen und weiterhin konsequent die Tiefe zu attackieren. Auch wenn es gegen Schottland eine gute Leistung von Julian Nagelsmann und seinem Team war, war es keine überragende, wenngleich es diese auch nicht erforderte. Spannend zu sehen sein wird, ob das deutsche Team die Euphorie weiter tragen kann und seinen Prinzipien treu bleiben kann. Die potenziell härteren Brocken warten noch auf das deutsche Team und es wird sich erst dann zeigen, wie hoch diese Leistung gegen Schottland zu bewerten ist. Denn aus den knapp 2xG erzielte Deutschland 5 Tore gegen Schottland, während es aus knappen 3xG gegen die Ukraine keine Tore gab. Auch das Matchglück und der Spielverlauf werden also immer wieder Faktoren für den weiteren Verlauf des Turniers darstellen.

Zum Autor: MS ist Analyst und Fan des Fußballs seit vielen Jahren. Auf Social Media kennt man ihn durch borussiaxplained und auch im Privaten beschäftigt er sich als Trainer mehrmals die Woche mit dem Spiel und tauscht sich viel darüber aus.

Koom 24. Juni 2024 um 09:33

Achtung, leichter Populismus: Das 1:1 gestern zeigte den Unterschied von Füllkrug (gelernter MS) zu Havertz (Offensivallrounder) auf. Havertz hatte etwa 3 Situationen, wo er mit einem guten Kopfball ein Tor hätte erzielen können. Machte aber keines, traf nie wirklich richtig. Füllkrugs Kopfstoß war aus dem Lehrbuch.

So, genug des Populismus. War ein interessantes Spiel. Fand es gut von Nagelsmann, dass er es nicht mit der „Wirsindschondurch“-Aufstellung versucht hat und das Spiel halb abschenkt. Das hat auch schon vielen Favoriten den Kopf gekostet, weil man nicht mehr umschalten konnte.

Die Probleme aus dem 2. Spiel waren nun noch präsenter: Es fehlte ganz vorne die Torgefahr, weil dort zu wenig Präsenz war. Und vor der Viererkette war oft ein Loch defensiv. Und man muss auch sagen, dass die Schweiz das 90 Minuten lang ziemlich gut machte. Hoch presse, gut zustellte, aber auch im Raum vor dem eigenen 16er präsent und giftig war.

Man kam trotzdem zu Chancen, aber die Schweiz auch. Und IMO zu deutlich besseren und mehr Chancen.

Fairerweise: Woher solls kommen? 6-7 Jahre lange hatte die N11 kaum einen Fokus, Defensivspiel war ihr und der Bundesliga in weiten Teilen unbekannt. Da wachsen jetzt keine erzdominanten Sechser heran. Das der Status Quo ein Kompromiss ist, ist bekannt. Ich finde es weiterhin gut, dass man sich nicht ergibt, sondern rackert, kämpft, alles versucht.

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AG 24. Juni 2024 um 10:16

Ich habe das Spiel verpasst, deshalb kann ich gar nicht viel sagen. Nur eines: nach Statsbomb waren die xG für Schweiz – Deutschland 0,4 zu 1,7, und die Schweizer haben nach dem Tor drei Schüsse abgegeben. Da muss doch ziemlich viel knapp vor dem Schuss geklärt/verstolpert worden sein, um auf bessere und mehr Chancen zu kommen 😉

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Koom 24. Juni 2024 um 10:27

Naja, Abseitstore spielen bei Statsbomb nicht mit, aber bei dem, was man im Stadion oder Fernsehen sieht im Gesamteindruck schon. Finde durchaus, das 20cm mehr im Abseits oder 20cm am Tor vorbei durchaus eine ähnliche knappe Relevanz haben. 😉

Abgesehen von den Torschüssen gab es im Sechserraum viel Konfusion. Es war nicht so wirklich souverän, was die N11 da so treibte, das Aufbauspiel speziell Kette – Rest war ein Problem.

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WVQ 24. Juni 2024 um 15:11

Mehr Chancen hatte die Schweiz ganz sicher nicht – Torschüsse 4:18. Die Qualität der Abschlüsse war bei der Schweiz aber (insbesondere relativ zur Chancenanzahl) besser – im Grunde drei Großchancen und daraus ein Tor, eine Torwart-Glanzparade und ein Abseits-Tor. Deutschland auf der anderen Seiten mit im Grunde nur einem einzigen richtig gefährlichen Abschluß aufs Tor (Füllkrugs Treffer, oder meinetwegen dazu auch noch das aberkannte Andrich-Tor). Post-Shot xG entsprechend tatsächlich 1,58:1,0 für die Schweiz (FWIW).

Zum Populismus: Klar ist Füllkrug der bessere Kopfballspieler, das steht ja außer Frage, und klar hätte es uns gestern sehr geholfen, wenn Havertz‘ Kopfballspiel besser gewesen wäre. Die Frage ist nur, was man in anderen Spielbereichen mit Füllkrug aufgegeben hätte. Deutschland spielte in der ersten Halbzeit erst einmal nur flach in den Strafraum, und Havertz‘ Arbeit im Entgegenkommen ist generell und war auch gerade in diesem Spiel (s.u.) extrem wertvoll. Zudem bekam Füllkrug für sein Tor auch immerhin die mit Abstand beste Flanke und der Strafraum war engräumig mit drei kopfballstarken Spielern besetzt (Füllkrug + Havertz + Rüdiger) statt wie vorher oft mit nur einem, wodurch Füllkrug schon ab dem Zeitpunkt der Flanke quasi unbedrängt war. Insofern würde ich sagen (unabhängig von der Frage, ob Havertz dieses Ding selbst gemacht oder auch versemmelt hätte), daß die Aufgabenverteilung so schon paßt.

Interessanter für die Beurteilung der Partie finde ich derweil, daß die Schweiz nun als erster Gegner hohes und weitgehend kollektiv sehr gut abgestimmtes Pressing gespielt, uns phasenweise komplett vom ruhigen Spielaufbau abgehalten, zu unfreiwilligen langen Bällen gezwungen hat, ihrerseits nur selten gefährliche Zwischenräume frei ließ und vielmehr oft bei unseren spielerischen Befreiungsversuchen interessante Ballgewinne hatte oder zumindest die Angriffe stoppen konnte. Die durch das aggressive Vorschieben von Flügelläufer und Halbverteidiger entstehenden Räume hinter/neben der Kette hat Deutschland nur sehr bedingt bespielt bekommen. Havertz zwar lange Zeit weit auf dem Flügel und Gündogan dann lauernd auf der Neuner-Position (insofern war das wohl Teils des deutschen Plans), aber angespielt bekam man diese Konstellation meist – wenn überhaupt – nur mit langen Bällen, während den tief fallenden Halbraumzehnern nach Anspielen für Spielfortsetzungen oft die Unterstützung aus dem Sechserraum und von den AV fehlte. Und überhaupt schienen mir diese letzteren Versuche viel vertikaler angelegt, als wir es tatsächlich beherrschen. Auch Musiala und Sané können das nicht mehr als ein-, zweimal pro Spiel komplett alleine lösen.

Bin ob des Spiels daher so hin- und hergerissen: Einerseits haben wir gegen einen sehr stressigen und passend eingestellten Gegner (generell ein sehr hohes Niveau im Raumverteidigen, hat mir imponiert) noch ziemlich viele (potentielle) Abschlußsituationen geschafft, andererseits hat der Gegner aus seiner aggressiven Spielanlage letztlich sogar noch recht wenig gemacht. In einem möglichen Viertelfinale gegen Spanien würden wir noch weniger spielerisch lösen können und noch mehr Richtung Konter bzw. schnellem Vertikalangriff gedrängt werden, was wir aber nicht draufhaben. Daß wir da noch auch nur ausgeglichenen Ballbesitz bekämen, kann ich mir kaum vorstellen, und dann fehlt uns das eine, was wir derzeit ganz ordentlich können.

Aber gut, ist noch ein gutes Stück hin, und für den Moment sprechen die Statistiken und Ergebnisse immerhin für uns und gegen Einsatz und Arbeitswillen kann man auch nichts sagen. Und wie Koom anmerkte, ist es derzeit bei der N11 halt ein Kompromiß-Zustand, und die Fortschritte und Erfolge bis zu diesem Punkt sind daher bis auf weiteres immer noch eher erfreulich.

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Koom 24. Juni 2024 um 13:08

Noch ein anderer Gedankengang: Kroos. Ich fand, dass er in den Testspielen und gegen Schottland nicht so weit nach hinten gegangen ist. Und ich finde, es ist Teil des Problems. Kroos lässt sich neben die IV fallen, bildet effektiv eine Dreierkette hinten. Warum?

Das Problem der N11 (Bayern, BVB etc.) ist, dass im Sechserraum keiner anspielbar ist. Keiner ist dort präsent, keiner will dort sein. DAS Problem hat Kroos doch schon gelöst, in dem er dort spielt und superpressingresistent ist. Jetzt macht er einen Aufbau-IV und die N11 hat riesige Probleme gehabt, aus der Abwehr zu spielen – trotz/wegen Kroos.

Hätten wir jetzt eisenfressende Klumpfüße als IV – ok. Aber die IV können alle solide bis gut passen. Warum also lässt Kroos sich so brutal tief zurückfallen und findet dann keine Anspielstation?

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tobit 24. Juni 2024 um 15:39

Und dafür hatte Havertz bestimmt zehn Situationen im und um das letzte Drittel in denen Fülle wesentlich nutzloser (um nicht „massiv teamschädigend“ zu sagen) gewesen wäre als Havertz im Kopfball. Dazu noch war die Flanke auf Füllkrug wieder die einzig halbwegs gut und sinnvoll gespielte, die auf Havertz erreichten ihn mehr oder minder zufällig.

Beim defensiven Loch vor der 4er-Kette stimme ich dir zu. Das lag für mich aber hauptsächlich an der deutlich schwächeren Rückzugsbewegung der offensiven 3er-Reihe gegenüber den ersten beiden Spielen und nachher an der sehr frühen Auswechslung von Andrich für Beier (der komplett unsichtbar blieb, obwohl sich eigentlich reichlich Möglichkeiten für seine Kernkompetenz als Tiefenläufer boten, die Läufe kamen aber weiter nur von Havertz).

Die Schweiz war meiner Meinung nach offensiv zwar nicht ganz so zahnlos wie Ungarn oder Schottland. Aber mehr oder bessere Chancen als DE hatten sie definitiv nicht. Selbst wenn man bei ihnen jedes Eindringen ins letzte Drittel und bei DE nur die kurz vor dem Schuss oder beim letzten Pass vereitelten Aktionen zählt, läge DE noch klar vorn.
Diese Bewertung entsteht mMn einzig und allein aus dem weniger glücklichen Spielverlauf im vergleich mit Spiel 1 & 2, wo die frühen Führungen halt gezählt haben und man dann entspannt runterkontrollieren konnte.

Kroos hat sich in den ersten beiden Spielen finde ich nicht zurückgezogen, sondern die IV sind höher geschoben, man hat spätestens mit Ball im letzten Drittel die erste Linie an Neuer übergeben um das Feld für’s Gegenpressing kurz zu halten, weil Verteidigungsdruck kam vom Gegner ja keiner.
Gegen die Schweiz hat er sich zurückgezogen, weil die so mannorientiert gepresst haben und er als einziger aus der Hintermannschaft damit umgehen kann. Rüdiger und Andrich sind eh schon keine guten Passspieler und in Manndeckung schonmal gar nicht. Die beiden und Tah haben dann noch das zusätzliche Problem, dass sie den Ball nicht am Fuss am Gegner vorbeikriegen. Es brauchte also Kroos um überhaupt vom Torwart ohne direkten langen Ball weiter vorwärts zu kommen. Theoretisch könnte Kimmich das auch, aber der war gestern leider der schlechteste Mann auf dem Platz mit seiner permanenten Spielverschleppung und sehr viel Angsthasenfussball, wenn er nicht eh viel zu hoch stand (nicht seine Schuld, war offensichtlich die Anweisung) um beim Ballvortrag zu helfen.

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Koom 24. Juni 2024 um 17:37

Havertz vs. Füllkrug ist leider eine sehr hypothetische Diskussion. Die beiden spielen schlichtweg zu unterschiedlich. Ich habe nicht viel gegen Havertz, aber er ist so ein bisserl wie Ter Stegen in der N11: Fantastischer Spieler, aber es zündet nie so ganz (für mich).

Zu Kroos: Gegen Schottland und Ungarn war es (noch) gut, gegen die Schweiz schlecht. Ich gehe nicht konform mit der Meinung, dass Rüdiger & Co so schlecht am Ball wären, dass sie nicht ein mannorientiertes Pressing auf sich umspielen könnten. Sie haben Neuer hinter sich, Kimmich und Mittelstädt auf der Seite – und eigentlich Kroos und Andrich, dazu potentiell mal Gündogan von weiter vorne.

Vielleicht wäre da teilweise etwas konservativerer Spielaufbau, mit tieferen AVs und Präsenz im sechserraum eine bessere Variante als das unkontrollierte Spiel, das man da gegen die Schweiz hatte. DAS erinnerte dann plötzlich sehr auch wieder an die Nagelsmann-Bayern, die man auch gut pressen konnte.

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Taktik-Ignorant 26. Juni 2024 um 13:37

Das Schweiz-Spiel bietet wirklich eine ganze Menge Diskussionsstoff. Positiv festzuhalten ist m.E., dass Deutschland in der Summe dann auch mehr und bessere Torchancen hatte als die Schweiz (wenn man den Abseitstreffer der Schweizer als Chance zählt, dann bitte auch den Treffer von Andrich und die beiden nicht gegebenen Elfer für Deutschland), und insebesondere in der zweiten Halbzeit ist von der Schweiz nicht mehr viel gekommen (ein so hochkonzentriertes und intensives Pressing in vorderer Reihe bei gleichzeitig immer wieder rechtzeitiger Herstellung von Überzahl am und im eigenen Strafraum erfordert viel geistige und körperliche Arbeit, und lässt sich nicht über ein ganzes Spiel durchziehen). Der Punktgewinn von Deutschland war mehr als verdient, aber die Kosten (unverhältnismäßig?) hoch.

Erstens scheint es so, als wäre Deutschland in der ungleich schwierigeren Turnierhälfte gelandet.

Zweitens klingt es zwar auf den ersten Blick gut, dass Nagelsmann nicht viel rotiert hat (viel rotieren ist dann in der KO-Runde schon öfter schiefgegangen, und wir werden sehen, ob der spanischen A-Elf die längere Pause gut tut), aber wir haben die erste (und eigentlich völlig überflüssige) Gelbsperre und den ersten Verletzten, mit der Folge, dass unsere Stamm-Innenverteidigung komplett raus ist (ich würde es auch nicht riskieren, Rüdiger auf Teufel komm raus fitbekommen zu wollen). Bei Rüdiger hatte ich den Eindruck, dass er schon in der ersten Halbzeit seine Zerrung spürte und das deutsche Defensivloch auch damit zusammenhing. Und es kamen weitere Karten hinzu, die sich, falls das Achtelfinale gegen Dänemark überstanden wird, negativ auswirken können.

Drittens dürfte das Spiel einige Substanz gekostet haben, und wir werden abwarten müssen, wie viele Körner die NM noch hat für den Rest des Turniers.

Generell sind die altbekannten Schwächen wieder zutage getreten. Vorne fehlt es an Torgefahr, Methode 1 (feine Füße Wirtz, Musiala, Gündogan, Havertz) führt zu selten dazu, dass man sich gekonnt in den gegerischen Strafraum hineinspielt und Torchancen erzwingt, Methode 2 scheitert daran, dass Raum kein Kaltz und Füllkrug kein Hrubesch ist.
Kimmich bringt meines Erachtens offensiv zu wenig, um die Gefahr, die ständig von der gegnerischen linken Angriffsseite ausgeht, weiter zu rechtfertigen.

Kroos lässt sich, anders als in Madrid, durch gezieltes und aggressives Anlaufen dann doch relativ leicht aus dem Spiel nehmen. In Madrid wird er halt schneller und sauberer angespielt und es bieten ihm sich schneller taugliche Möglichkeiten, um den Ball wieder abzugeben. Insgesamt bleibt unsere Ballzirkulation bei eigenem Ballbesitz zu langsam, und damit leicht angreifbar für gegnerisches Pressing. Vielleicht sollte dazu die gesamte Mannschaft beim Spielaufbau vom eigenen Strafraum aus weiter hinten stehen.
Und man könnte über ein 4-4-2 nachdenken, bei dem das 4er-Mittelfeld aus Kroos, Andrich, Gündogan und Musiala bestünde (Wirtz fällt gegenüber seinen Leistungen im Verein doch zu stark ab), und das Angriffsduo je nach Situation aus Havertz und/oder Füllkrug und/oder Sané bestehen könnte. Denn wir müssen damit rechnen, dass Dänemark versuchen wird, die Schweizer zu kopieren, und wenn es für das Viertelfinale reichen und dort Spanien warten sollte, sind 2 Leute in vorderster Linie m.A.n. ein Muss.

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tobit 26. Juni 2024 um 14:33

Gündogan ist doch der zweite Mann in vorderster Linie. Sehe ihn da aktuell auch besser aufgehoben, weil er weiter hinten auf mich mehr wie Dahoud und weniger wie er selbst wirkt. Geniale Linienbrechende Momente und hanebüchene Ballverluste wechseln sich da zu sehr ab, während er vorne mit seinem Gegenpressing und absurd genialem Stellungsspiel viel nützlicher ist.
Und beim 4-4-2 wüsste ich gern, wie du das gegen den Ball aufstellen würdest. weil Gündogan, Kroos und Andrich sind als Außen nicht geeignet und eine Raute hätte man wenn dann früher eintrainieren müssen. Mal davon ab wäre mir Musiala in jeder möglichen 4-4-2-Formation zu tief positioniert. Ja, er ist in bestechender Form und seine Dribblings sind viel stabiler als sonst, aber eine Ballverlustmaschine ist er immernoch. Und die kann sich Deutschland nur im gegnerischen Strafraum erlauben, weil sie eben kein spanisches oder österreichisches Gegenpressing drauf haben. Raute ginge vllt, wenn man sie gegen den Ball als 4-3-3 mit Musiala zwischen breiten Havertz und Sané spielt. Aber das ist dann nicht so anders als das aktuelle 4-2-3-1/4-2-4(-0), wo ja oft einer der Außen tiefer steht und der andere höher anläuft.

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Taktik-Ignorant 26. Juni 2024 um 14:50

Beim 4-4-2 denke ich daran, dass die ganze Formation etwas tiefer steht und im Mittelfeld mit Gündogan, Kroos und Musiala 3 kreative Spieler beim Spielaufbau aus der Abwehr anspielbar wären, die auch häufiger die Positionen wechseln und eben keine feste Raute bilden, zumal sich auch Sané oder Havertz nicht unbedingt nur zentral anbieten, sondern ebenfalls gelegentlich auf die Flügel ausweichen würden. Die Ballverlust-Problematik von Musiala würde sich gegenüber dem aktuellen 4-2-3-1 weder ent- noch vrschärfen (schlimmer als vor dem 0:1 gegen die Schweiz kann es nicht werden). Im Defensivverbund würde das Doppeln gegnerischer Angriffe auf den Flügeln situativ von Außenverteidiger und einem Mittelfeldspieler oder eben auch von AV + einem der beiden Angreifer vorgenommen, so dass eine dichte Staffelung im Zentrum bestehen bleibt.

Unabhängig davon: Gündogan mit Groß auf der Doppel-6 hat übrigens gegen Frankreich im vergangenen Herbst (bis zu seiner Verletzung) ganz gut geklappt. Ob er da zum Genie oder zur Gefahr wirkt, hängt viel davon ab, wer neben und vor ihm spielt.
Dem Einwand, dass eine solche Formation vorher hätte trainiert und der Kader entsprechend nominiert werden müssen (beispielsweise Jonas Hofmann), ist berechtigt. Nur stehen wir halt jetzt vor der Situation, wo die aktuelle Formation zu viele Schwächen aufweist, als dass die deutsche Mannschaft noch länger im Turnier verweilen könnte.

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tobit 26. Juni 2024 um 15:33

Gündogan kann absolut Doppelsechs spielen, auch in einem Kontext wie dem aktuellen. Nur bringt er diese Fähigkeiten aktuell (also in den Test- und Turnierspielen der letzten 3 Wochen) nicht auf den Platz. Dem muss man in einem so kurzfristigen Kontext dann halt einfach Rechnung tragen und ihn weiter vorne lassen. Da spielt er ja auch wirklich gut, vllt sogar die beste 10, die er je gespielt hat.

Ich sehe halt einfach nicht, dass Deutschland so schlecht gewesen wäre, dass man jetzt schon wieder alles umschmeißen müsste. Außerdem gibt’s ja jetzt schon viel 4-4-2, das ganz ok funktioniert, wenn die Außen sauber und planmäßig nach hinten arbeiten. Daran haperte es gegen die Schweiz, ja. Aber das Auflösen der Positionen löst dieses Problem ja nicht.
Musiala hat bisher eigentlich nur die eine tiefere Aktion im ganzen Turnier gehabt (die dann natürlich schiefging), du willst ihn jetzt ständig direkt aus der Abwehr anspielen lassen. Das würde ich schon als massive Verschärfung des Problems ansehen.
Dazu dann noch die Auflösung der sehr klaren Rollen, deren Einführung DER Schlüssel für den aktuellen Höhenflug war, und ich kann mir selbst gegen das absolut biedere Dänemark mit deiner Herangehensweise nichts anderes als eine ganz üble Packung vorstellen. Spanien würde dagegen, wenn sie denn die Chance dazu bekämen, wohl einen EM-Torrekord aufstellen (also mehr Tore in dem Spiel erzielen, als je ein Team im ganzen Turnier). Solche (Defensiv)fluidität ist bei Nationalmannschaften einfach grundsätzlich zum Scheitern verurteilt und erst Recht wenn man sie ad hoc mitten in einem Turnier anfangen will.

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Taktik-Ignorant 26. Juni 2024 um 20:23

Es kommt darauf an, wie die Spieler ihre Aufgaben erledigen. Musiala und Wirtz sind auch in den bisherigen Spielen (situativ) in tiefere Positionen gekommen, um sich Bälle abzuholen. Das ist auch ganz normal, ansonsten wird es zu statisch. Wenn Musiala den Ball im Dribbling verliert und das nicht gerade an der Außenlinie oder am/im gegnerischen Strafraum passiert, ist es nicht weiter schlimm, sondern in sein Spiel eingekreist. Meine Idee von der insgesamt tieferen Position in einem 4-4-2 war übrigens nicht als Aufforderung gedacht, vor dem eigenen Strafraum ins Dribbling zu gehen, sondern mir ging es darum, die Abstände zwischen der letzten Reihe und dem Mittelfeld zu verringern und mehr sichere Anspielstationen für die 4er-Kette zu schaffen (mit dem Hintergedanken, dass die AV nicht so ungestüm hochschieben).

Zur Umstellungs-Problematik: mitten im Turnier die Grundformation zu ändern ist nicht per se ausgeschlossen, auch nicht für Nationalmannschaften, insbesondere wenn das Personal dabei nicht groß rotiert. Ich erinnere mich noch an das Vorrundenspiel Deutschland-Kroatien bei der EM 2008: damals war Deutschland brutal unterlegen, und es sah (bis auf eine kurze deutsche Drangphase Mitte der 2. Halbzeit) ständig so aus, als hätten die Kroaten einen Mann mehr auf dem Feld. Umso überraschter war ich, dass laut Statistik die Deutschen deutlich mehr gelaufen waren als die Kroaten. Löw und Flick haben dann (nachdem das Viertelfinale im letzten Gruppenspiel gegen Österreich mit Mühe gerettet war) reagiert und sind vor dem Viertelfinalspiel gegen Portugal vom 4-4-2 auf das bis zur WM 2018 gültige 4-2-3-1 umgestiegen, mit Klose als einzigem Stürmer.
Grundsätzlich sollten Nationalspieler mehrere Formationen beherrschen können. Ein Argument gegen die Umstellung im konkreten Fall (Achtelfinale gegen Dänemark) ist sicher die durch die Sperre und die Verletzung notwendig gewordene Neuformierung der Innenverteidigung. Wesentliches Personal und Grundformation gleichzeitig ändern könnte in der Tat etwas viel verlangt sein.

tobit 26. Juni 2024 um 21:33

Was du gern von Musiala hättest, ist ja relativ egal. Der geht dann da ins Dribbling. Und ja, das ist in sein Spiel eingepreist … nur halt nicht in das der restlichen N11. Die ist einfach nicht gut genug um ihn als regelmäßige Anspielstation für die IV auszuhalten. Mir würde ehrlich gesagt überhaupt kein Team einfallen, das das könnte.
Klar kommen Musiala und Wirtz auch aktuell mal entgegen. Aber eben längst nicht in dem Maße oder so fokussiert wie das in deinem Ansatz nötig wäre. Bzw da wäre es ja kein Entgegenkommen, sondern Musiala von vornherein in diesen Räumen als Anspielstation eingeplant.
Und jetzt sollen die AV auch noch hinten bleiben? Dann MUSS Musiala ja geradezu am eigenen Strafraum das Solo starten, wenn man irgendwelchen Raumgewinn will. Weil vorne ist dann ja niemand mehr.

Die Formation kann man ändern, und gewisse taktische Elemente auch. Du verlangst hier aber ja eine Radikalumkehr der gesamten Strategie. Und dann auch noch nachdem Plan A so stabil und gut funktioniert hat wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. 2012-16 waren da nicht viel besser und das war der absolute Peak der letzten (im Rückblick goldenen) Generation.
Ich würde auch eher sagen, dass die erzwungene Neuformation der IV eher ein Grund FÜR eine größere Umstellung zu mehr Vorsicht wäre (als die du deinen Ansatz ja siehst). Mehr Personal in Verteidigungsposition halten, weniger Risikobälle vom verbleibenden Stammpersonal fordern, usw. Dass der Gegner Dänemark heißt, spricht für mich dann aber sehr dagegen. Die haben ziemlich ähnliche Muster/Strukturen wie die Gruppengegner, werden aber vorne wahrscheinlich nicht die Intensität, Körperlichkeit und Kohärenz der Schweizer replizieren (können).


Bielsa 20. Juni 2024 um 15:40

Mit welchem Programm werden die Zeichnungen eigentlich gefertigt?
Suche noch ein brauchbares für meinen Trainer Alltag, idealerweise mit Ipad Kompatibilität und kostenlos.

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WVQ 21. Juni 2024 um 14:45

Glaube die Autoren benutzen Inkscape mit einer selbst erstellten Vorlage.

Wenn’s über den Browser gehen darf, ist tactical-board (dot) com nicht schlecht, da kann man auch allerlei Trainingsübungen darstellen und das Resultat als Bild oder (gegen Abo) als Animation exportieren. Ist halt werbe- und trackerbasiert – ein guter Werbeblocker hilft gegebenenfalls, um die Banner wegzukriegen. Das einzige, was anscheinend blöderweise nicht geht, ist das Feld hochkant darzustellen. Und wie seriös und langlebig die Seite ist, weiß man natürlich auch nicht.

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juwie 16. Juni 2024 um 10:56

Vielen Dank für den Relaunch. Gewohnte SV-Qualität.
Aber: Auch wenn es Probeläufe sind, verdienen die einzelnen Autor:innen mehr Individualität als nur das Neyt Generation-Kollektiv.

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MR 17. Juni 2024 um 11:58

Wollen wir auf jeden Fall.

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Koom 15. Juni 2024 um 20:40

> Wir rebooten Spielverlagerung.

Juchu! Zur EM natürlich auch ein idealer STart, kombiniert mit einer Bundesliga, die durchaus spannend werden könnte!

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WVQ 15. Juni 2024 um 20:36

Herzlichen Dank an den neuen Autor „NG“ ;-} für diese ausführliche und klare Spielanalyse! Deckt sich abgesehen von ein paar letztlich wenig relevanten Detailbeschreibungen sehr gut mit meinen Eindrücken. Die „Was hätte Schottland besser machen können?“-Passagen illustrieren auch die Seltsamkeit von deren Ansatz gut: Im wesentlichen wären (sogar verschiedene) Optionen zur besseren Verteidigung reichlich naheliegend gewesen und auf dem Niveau auch einfach zu erwarten; die Defensivleistung wirkte tatsächlich einfach, als hätte kaum ein Spieler gewußt, was er aus der Grundstruktur heraus gegen welche deutschen Bewegungen eigentlich tun soll, weswegen man sich immer wieder sehr unbeholfen aus den Positionen ziehen ließ oder andersherum schlicht Personal in toten Räumen hatte.

Bei der Vorsicht in Bezug auf Chancenverwertung und kommende Gegner bin ich (siehe mein vorheriger Kommentar noch unter dem alten Artikel) auch voll dabei, wenngleich ich zumindest denke, daß „nur“ 2 xG nicht problematisch sind, wenn man dafür (wie es gegen Schottland der Fall war) die Spielkontrolle hat und nichts zuläßt. Bzw. das ist mir tatsächlich lieber als die 3 xG gegen die Ukraine, der sicherlich deutlich mehr als 0,0 xGA entgegenstanden, oder jedenfalls viele zumindest potentiell haarige Situationen. Da wird dann in der Tat sehr viel von der Herangehensweise der nächsten Gegner abhängen, ob man den offensiven Output hinreichend hoch halten kann, ohne sich hinten wieder verwundbar(er) zu machen (was nun gegen die Schotten eben überhaupt kein Kunststück war).

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AG 16. Juni 2024 um 12:25

Richtig – eine xG-Differenz von +2 ist super, aber noch besser ist natürlich 2,0:0,0 nach xG, da kann ja fast nichts anbrennen 🙂

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WVQ 16. Juni 2024 um 13:12

Gibt es eigentlich irgendwo eine frei einsehbare Quelle für (seriöse) xG zur EM? Bei FBref sehe ich bisher gar nichts (kommt mutmaßlich noch, aber bei einer EM bissl blöd, zwei oder mehr Tage warten zu müssen).

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false10 16. Juni 2024 um 21:07

xG-Werte findest du bei fotmob. Diese werden sogar in Echtzeit aktualisiert. Die Daten kommen von Opta, deren Modell gut genug ist.

https://www.fotmob.com/

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WVQ 18. Juni 2024 um 15:19

Interessant, vielen Dank!

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rb 20. Juni 2024 um 21:10

Interessant… was haltet ihr von der Statistik Momentum?

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Koom 21. Juni 2024 um 10:00

Nicht uninteressant. Scheint anzugeben, wie sich der Ballbesitz, Chancen etc. präsentiert, ob Tore quasi „logisch“ waren oder ein Glückstreffer

Taktik-Ignorant 16. Juni 2024 um 15:02

An den „expected goals“-Werten erkennt man eigentlich die Grenzen jeglicher taktischer Vorbereitung und Spielführung (ein gutes Beispiel dafür bieten ja auch die Vorrunden-Statistiken der NM bei den letzten beiden Weltmeisterschaften). Wobei dieser Wert auch insofern wenig Aussagekraft hat, weil er die Qualität der herausgespielten Torchancen eher unzureichend abspiegelt.

Aber sei es drum, es ist in der Tat erfreulich zu erkennen, dass auch in Überzahl agierende Abwehrreihen (daran ändert auch das konfuse Verhalten der Schotten nichts) nicht nur durch hohe Flanken auf einen 2m50 großen Mittelstürmer überwunden werden können, sondern auch durch geschickte Spielzüge. Der Schlüssel scheint mir die Geschwindigkeit zu sein: schnelle Bewegungen, gepaart mit sofortigem Erkennen der Räume und Laufwege, und dabei den Ball rasch zirkulieren – so kann man jede Abwehr in Unordnung bringen, selbst eine italienische.
Der Bewertung, dass der Auftaktsieg mangelnde Aussagekraft im Hinblick auf die Leistung gegen künftige, stärkere Gegner hat, kann man kaum widersprechen. Dafür wurden die Deutschen zu wenig gefordert?
Wie wird die NM beispielsweise agieren und reagieren, wenn sie im frühen Aufbauspiel von 3-4 Gegnern in hohem Tempo angelaufen wird und Kroos jemanden auf den Füßen hat bzw. er durch das Anlaufen in den Deckungsschatten kommt?
Wird die energische Zweikampfführung, bei der deutsche Spieler immer etwas ungelenker wirken, nicht rasch zu vielen Sperren führen, wenn die Schiedsrichter die strenge Linie (btw. ich empfand die Doppelbestrafung der Schotten mit Elfer und Roter Karte als zu hart, zumal das Tackling von vorne kam) fortsetzen? Gegen ungefährliche Schotten hatte Andrich schon nach 30 Minuten so viele Fouls gesammelt, dass er gelb sah (gut, dass Nagelsmann das erkannt hat).

Wie hoch oder tief sollen Mittelstedt und Kimmich stehen, wenn der Gegner auch mal mit Außenstürmern agiert?

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blub 15. Juni 2024 um 20:33

Spielverlagerung – A NEW HOPE

ein guter Start in die Zukunft. Herzlich willkommen 😉

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Taktik-Ignorat 16. Juni 2024 um 14:46

Schließe mich an!

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