Türchen 19: Liverpool – Borussia Mönchengladbach 1977

Im Europapokal-Finale von 1977 traf die erfolgreichste Liverpool-Mannschaft aller Zeiten auf die erfolgreichste Mönchengladbach-Mannschaft aller Zeiten. Udo Latteks Gladbacher hatten gerade den dritten Bundesliga-Titel in Folge gewonnen. Bob Paisleys LFC konnte den Titel im Folgejahr verteidigen und kurz darauf noch zwei weitere Male gewinnen; außerdem holte die Elf von 76 bis 83 sechs von sieben Meistertiteln in England.

Der Gladbacher Weg ins Finale war bereits von Trainerlegenden gepflastert: Mit knappen Ergebnissen besiegten sie zunächst Ernst Happels Club Brügge im Viertel- und dann Walerij Lobanowskis Dynamo Kiev im Halbfinale. Kiev hatte zuvor übrigens die Bayern rausgeworfen, den (dreifach) amtierenden Titelträger. Mit Berti Vogts, Jupp Heynckes und Uli Stielike war übrigens auch die Gladbacher Startelf mit späteren Spitzentrainern durchsetzt.

Die Kurzanalyse des Finals: Beide Mannschaften waren taktisch zumindest ein Stück weit ihrer Zeit voraus und spielten ausgewogenen, mannschaftlich sehr geschlossenen Fußball. Beide verteidigten diszipliniert mit allen Spielern und hatten eine klare, einigermaßen kontrollierte Spielidee mit dem Ball. Die Gladbacher zeigten dabei den eleganteren, aber auch etwas chaotischeren Fußball, Liverpool spielte etwas einfacher, aber dabei ziemlich funktional.

In Hälfte eins hatte Liverpool aus taktischen Gründen die Oberhand. Im zweiten Durchgang dominierten zunächst die Gladbacher bei nachlassenden Kräften mit Spielstärke, bevor Liverpool in einer ausgeglichenen und hektischen Endphase das Spiel mit einen Quäntchen Glück für sich entschied.

Reds Bull und Latteks Fehler

Paisleys Fußball war dabei eine Mischung aus Kick and Rush und solider Spielkultur mit großem Zentrumsfokus. Das 4-4-2-System der Reds war eher mit dem 4-2-2-2 der Red-Bull-Schule vergleichbar. Beide Stürmer waren extrem mobil und forderten permanent Bälle, die Flügelstürmer und Sechser bewegten sich für Ablagen und Weiterleitungen in die umgebenden Räume.

Der Spielaufbau wurde dabei ziemlich strikt von den Innenverteidigern übernommen, die meist den langen Ball auf Kevin Keagan suchten. Sowohl Kapitän Emlyn Hughes als auch Torschütze Tommy Smith spielten eine gute Partie und trieben sehr aktiv an, vereinzelt sogar per Vorstoß mit Ball am Fuß. Die Außenverteidiger hingegen übernahmen konsequent defensiv absichernde Rollen und wurden kaum ins Spiel eingebunden.

Hier sieht man den – geschickt platzierten – langen Ball und die Staffelung mit engen Flügeln. Außerdem die Flexibilität, die Liverpool durchaus auch hat: Heighway ist zurückgefallen und hat den Spielaufbau eingeleitet.

Mit den aufrückenden Sechsern und den passiven Außenverteidigern lässt sich Liverpools System praktisch quasi als 2-0-2-2-2 beschreiben. Das offene Zentrum vor der 4-0-Restverteidigung konnte Gladbach kaum nutzen, die sie in ihrer Mannorientierung aus diesen Räumen herausgedrückt wurden.

Hier lag meines Erachtens ein klarer taktischer Fehler von Lattek: In der Gladbacher Zuordnung wurden die Liverpooler Innenverteidiger frei gelassen oder nur von Heynckes angelaufen, während die Außenverteidiger klare Gegenspieler hatten. Allan Simonsen war dadurch weit weg vom Tor und man spielte der Rollenverteilung der Liverpooler Aufbaulinie komplett in die Karten. Innenverteidiger zustellen und auf die Außenverteidiger leiten hätte große Vorteile gebracht.

Kick and Kopfball

Stattdessen mussten die Fohlen immer wieder den langen Ball auf Keagan oder Heighway verteidigen, der meist gut gespielt wurde und von den beiden hervorragend verarbeitet. Insbesondere Keagan konnte sich mit seiner Dynamik oft lösen und auch Heighway zeigte einige beeindruckende Momente in puncto Ballverarbeitung und Dribbling.

Ein spezielles Element war die direkte und gezielte Ablage per Kopfball zum Mitspieler, die vor allem Keagan immer wieder versuchte. So waren die zahlreichen langen Bälle nicht im gleichen Maße chaotisch und physisch geprägt wie man das von dieser Spielweise kennt. Vielmehr versuchte Liverpool in diesen Aktionen trotzdem die Ballkontrolle zu wahren und dann auch kontrolliert weiterzuspielen.

In den Folgemomenten der langen Bälle unterstützten sich die Liverpooler aktiv im Kombinationsspiel und zeigten viel Aktivität mit und ohne Ball. Das Spiel in den Strafraum hinein war trotzdem einigermaßen flankenlastig, allerdings ging von Keagan und Heighway permanent die Gefahr aus, Situationen auch schnell mit flachen Aktionen zu lösen. So entstanden letztlich auch das 1:0 durch Heighway, der nach Innendribbling auf den tiefgehenden McDermott durchsteckte, sowie der Elfmeter zum 3:1, bei dem Keagan nach flachem Zuspiel Vogts düpierte.

Insgesamt ist das direkte Überspielen des Mittelfelds mit vielen nachstoßenden Bewegungen ein recht logischer Ansatz gegen eine manndeckende Defensive. Trotzdem bekam Gladbach die meisten Angriffe noch in den Griff. Manndecker-Legende Berti Vogts tat gegen Keagan sein bestes und konnte zwar nicht dessen permanente Präsenz verhindern, doch sorgte zumindest dafür, dass dieser zu wenig entscheidenden Momenten kam.

Dass Liverpool nicht zu mehr Chancen kam, lag auch daran, dass Ray Kennedy und Jimmy Case kaum Akzente setzen konnten. Rainer Bonhoff und Frank Schäffer hatten ihre Gegenspieler gut im Griff. Neben den beiden Stürmern machte nur McDermott ein hervorragendes Spiel und belohnte sich leistungsgerecht mit dem Führungstreffer zum 1:0, obwohl er das Spiel die meiste Zeit aus tieferen Räumen lenkte.

Raumdeckung gegen Rotationen

Wo Gladbachs defensiver Ansatz nicht gut auf Liverpools System passte, war andersherum beinahe das Gegenteil der Fall. Liverpool verteidigte in einem 4-4-2-Mittelfeldpressing, welches recht passiv ausgelegt war mit großem Fokus auf Kompaktheit, insbesondere im Zentrum. Hierbei zeichneten sich die Flügelstürmer (und auch die Außenverteidiger) mit großer Lautstärke aus. Gefühlt verteidigten die Reds mit vier Sechsern und zwei Zehnern.

Gladbach zeigte im Bespielen dieses Systems gute individuelle Qualitäten und ein elegantes Zusammenspiel, doch fehlte es an Struktur im Aufbau. Anders als bei Liverpool wurde dieser nicht von den Innenverteidigern übernommen, sondern von…fast allen? Alle möglichen Spieler ließen sich ballfordernd in die tiefen Freiräume fallen. Indes nahmen die Verteidiger oftmals irgendwelche Mittelfeldpositionen ein.

Latteks Elf hatte schlichtweg keine Struktur im Spielaufbau und “keine” ist da nicht unsachlich übertrieben, sondern beschreibt die Spielweise der Mannschaft. Es ging bei den Fohlen darum, permanent in hoher Aktivität überall Passmöglichkeiten zu schaffen, nicht darum, irgendwelche bestimmten Positionen zu besetzen. In den besten Momenten sah das überragend aus, in den schwachen Momenten unnötig kompliziert und vergeblich.

Gegen einen aktiv pressenden Gegner können solche Rochaden effektiv sein, um die pressenden Spieler zu irritieren oder zu überladen und ins Leere laufen zu lassen. Gegen den passiven, kompakten Block von Liverpool führten sie primär dazu, dass Gladbach weiter vorne die Spieler fehlten und dass sie es sich immer wieder unnötig schwer machten.

Beispiel für Gladbachs komplexen Aufbau, hier zu Beginn der zweiten Hälfte: Heynckes (!) bekommt am Flügel den Ball, dribbelt zurück, während Wittkamp gegenläufig hinterläuft, dann fällt Wohlers zurück und Schäffer rochiert auf die 6, dann noch Bonhof auf die 10: ein Spielzug direkt durch’s Zentrum über drei Spieler, von denen keiner ein zentraler Mittelfeldspieler ist.

Und so sieht dann der Ertrag aus: Liverpool frisst jeden Raum, Gladbach hat kaum Spieler in hohen Positionen zur Spielfortsetzung.

So verloren sie besonders in der Anfangsphase viele Bälle sehr einfach, weil Pässe nicht sauber gespielt wurden oder kurzzeitig keine Passmöglichkeiten in Ballnähe da waren. In den besseren Angriffen kombinierten sie sich zentral nach vorne, doch Liverpool schien darauf nur zu warten und zeigte ein hervorragendes Rückzugsverhalten. Die zentralen Räume wurde immer stärker verengt und die Gladbacher hatten – wie bereits erklärt – zu wenig Spieler vorne, um die Angriffe schnell fortzusetzen.

Die besten Spieler ins Spiel bringen

Ein entscheidender Unterschied zwischen den Mannschaften war die Einbindung der Topspieler. Mit Keagan stand hier immerhin der Ballon d’Or-Sieger der beiden Folgejahre auf dem Platz und zudem auf Gladbacher Seite mit Allan Simonsen der amtierende Preisträger, der ihn im laufenden Jahr knapp auf Platz zwei verwiesen hatte.

Während Liverpools Spiel massiv auf Keagan fokussiert war, kam Simonsen auf dem rechten Flügel aber nur vereinzelt ins Spiel. Passenderweise erzielte er seinen Ausgleichstreffer bei seiner einzigen Aktion auf der gegenüberliegenden linken Seite und bekam den Ball dabei auch noch vom Gegenspieler. Wunderbarer Abschluss in den Winkel übrigens.

Die Gladbacher spielten geschlossen und mannschaftlich; das führte aber auch dazu, dass die Spielerrollen nicht geschärft genug waren. Noch größere Präsenzprobleme als Simonsen hatten Uli Stielike und Jupp Heynckes, die beide im Zentrum von der Liverpooler Kompaktheit aufgefressen wurden.

Stielike wirkte in jeder Aktion als sei er der technisch beschlagenste Spieler auf dem Platz. (Im Anschluss an das Finale wechselte er übrigens zu Real Madrid.) Sein Freilaufverhalten allerdings funktionierte in der Liverpooler Engmaschigkeit nicht gut. Gegen Ende der ersten Halbzeit holte er sich den Ball sogar ein Mal als Libero hinter den Verteidigern ab, nur um in eine Enge zwischen drei Gegnern reinzudribbeln und den Ball dort zu verlieren – ein Symptom seiner mangelnden Anbindung ans Spiel.

Heynckes hatte als Sturmspitze noch weniger Präsenz, da er viele Gegenspieler und kaum Mitspieler in seiner Nähe hatte. Auch er zeigte bei den wenigen Ballkontakten seine Qualität, doch gefühlt waren Keagan und Heighway jeweils fünf bis zehn Mal häufiger am Ball als er.

Dass Hacki Wimmer (Fußballgott!) nach der Anfangsphase verletzt runter musste, half auch nicht, obwohl Christian Kulik ein ordentliches Spiel machte. Wimmer spielte seine 24 Minuten auch so, als sei er bereits angeschlagen in die Partie gegangen.

Gladbach dominiert über außen bei nachlassenden Kräften

Nach dem durchwachsenen ersten Durchgang kamen die Gladbacher beeindruckend aus der Pause. Ein paar Worte von Lattek und ein paar Feinjustierungen halfen wohl; Stielike spielte nun höher und suchte Räume am Flügel (siehe Grafik oben). Auch Heynckes war zeitweise am Flügel mit Kulik zentral und die ganze Mannschaft wirkte noch einmal eine Spur aktiver und nach dem etwas glücklichen Ausgleich auch selbstbewusster, handlungsschneller.

Dazu kam, dass Liverpools Kräfte etwas nachließen und sie das Mittelfeld nicht ganz so dicht halten konnten wie zuvor, was den Gladbachern nun häufiger die entscheidenden zusätzlichen Meter Raum verschaffte. Diesen fanden sie auch öfter auf den Flügeln, den sie nun häufiger anvisierten, was zu mehr Präsenz für Simonsen und generell leichteren Angriffen führte.

Nach einem Liverpooler Ballverlust im Umschalten – Case wollte auf Neal ablegen, doch verpasste ihn – kam Simonsen aus spitzem Winkel zum 1:1. In der folgenden Druckphase zeigten die Fohlen ihr ganzes Können und hätten eine Hand an den Henkelpott legen können, verpassten aber ihre Möglichkeiten.

Offener Schlagabtausch und das Quäntchen Glück

Entschieden wurde das Spiel im zweiten Durchgang von einigen unglücklichen Momenten der Gladbacher. Direkt nach seinem Ausgleich kam Simonsen zu zwei sehr gefährlichen Kopfballchancen. Den ersten platzierte er nicht gut, an den zweiten kam er nicht richtig ran, aber doch noch gut genug, um versehentlich den Ball aus der Gefahrenzone zu klären – und hinter ihm war Wohlers wahrscheinlich in Position, den Ball ins leere Tor zu verfrachten, wenn Simonsen einfach nicht rangekommen wäre.

Kurz darauf konnte Bonhof am eigenen Strafraum einen Ball abfangen, Simonsen finden und dieser spielte einen überragenden tiefen Flugball auf Stielike, der frei vor dem Torwart zum Abschluss kam. Ray Clemence war jedoch gut herausgeeilt, verkürzte den Winkel, Stielike verpasste die Möglichkeit des Lupfers und vergab die größte Chance des Spiels aus kurzer Distanz.

Im Gegenzug kam Liverpool über eine völlig ungefährliche Halbfeldflanke zu einer Ecke, die Klinkhammer vielleicht etwas zu leichtfertig hergab. Kulk kam zu spät in die Manndeckung gegen Smith, der den Kopfball wuchtig auf den ersten Pfosten platzierte. Torwart Kneib, der aus irgendeinem Grund vom zweiten Pfosten aus startete, hätte den Ball mit besserem Stellungsspiel wohl trotzdem halten können – ein entscheidendes Tor, das sich gemessen am Spiel und Wettbewerb unheimlich banal anfühlt.

Bemerkenswert war, dass Wittkamp im eigenen Ballbesitz nun meist mit nach vorn ging – und zwar bis in die Sturmspitze. Liverpool eröffnete hingegen zunehmend mit langem Ball direkt vom Torwart und hielt sich nicht mehr mit dem Spielaufbau der Innenverteidiger auf. Das sorgte in beide Richtungen für mehr Direktheit, aber auch etwas weniger kontrollierte Aktionen. In den letzten 15 Minuten wurde das dadurch wieder aufgelockert, dass sich Simonsen viel entschlossener ins Spiel einschaltete und nun viele Bälle im Mittelfeldzentrum forderte.

Es war dennoch Liverpool, die den letzten Schlag setzen konnten. Keagan ging mit einem hervorragenden Kontakt an Vogts vorbei und marschierte in den Strafraum. Meines Erachtens konnte Vogts ihn mit einer starken Grätsche gerade noch stoppen und spielte dabei eindeutig den Ball, doch der Schiedsrichter entschied auf Elfmeter, welcher von Phil Neal souverän verwandelt wurde.

So siegte zum Schluss die etwas solidere Mannschaft mit der taktisch etwas clevereren Herangehensweise gegen eine Gladbacher Elf, die an diesem Tag vielleicht noch etwas mehr Spielstärke zeigte als der Gegner, letztlich aber nicht genug davon. Es war kein unheimlich dramatisches Finale, aber ein sportlich hochwertiges, in dem man viele Elemente findet, die heute noch relevant sind, und hier und da vielleicht sogar ein wenig spielerische Inspiration; trotz einiger Grundlagen, die in der Rückschau noch fehlen.

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