Türchen 21: Sydney FC agiert mit organisierter Freiheit
Obwohl wir im Türchen 11 bereits Racing Santander unter die Lupe genommen haben, lohnt es sich, das Thema des Relationsspiels noch einmal aufzugreifen. Diese spezielle Art der Rauminterpretation hat längst nicht nur in Südamerika oder Europa Aufmerksamkeit erregt, sondern sogar in Australien ihren Platz gefunden. Ufuk Talay und der Sydney FC haben das Relationsspiel ebenfalls zu einem zentralen Bestandteil ihrer taktischen Ausrichtung gemacht – aber mit Schranken.
Aus Kreuz werden Diagonal-Verbindungen
Möchte man die positionelle Struktur von Sydney FC im Spiel mit dem Ball analysieren, so lässt sich ein 3-1-5-1 erkennen. Positionell? Diese Bezeichnung mag zunächst überraschen, doch Sydney FC integriert sowohl Elemente des Positionsspiels als auch des Relationsspiels. Hält der zentrale Innenverteidiger den Ball, wird eine relativ klassische, positionelle Raumaufteilung sichtbar: Die Halbraumverteidiger positionieren sich, ihrem Namen entsprechend, im Halbraum. Der Sechser positioniert sich zentral davor, die Außenspieler sorgen für Breite, während zwei Halbraum-Achter, ein zentraler Mittelfeldspieler und ein Mittelstürmer die restlichen Zonen gleichmäßig besetzen. Durch die gleichmäßige Raumbesetzung aus dem 3-1-5-1 entsteht eine Art Kreuz-Systematik.
Zu Beginn des Spielaufbaus durch den zentralen Innenverteidiger orientieren sich alle Spieler zunächst zum eigenen Tor, was schlichtweg den Fokus auf die nächste Aktion beziehungsweise den Ball lenkt. Typischerweise sucht der Innenverteidiger den Pass zu einem der Halbraumverteidiger. Im Anschluss verschieben sich fast alle Spieler zur angespielten Seite. Diese Bewegung verdeutlicht die starke Ballorientierung: Der ballnahe Halbraum-Achter schiebt diagonal in die letzte Linie, während der Außenspieler die volle Breite hält. Gleichzeitig rücken der Sechser und der zentrale Mittelfeldspieler in Richtung Flügel, während der ballferne Halbraum-Achter zentral in Richtung Stürmer nachschiebt.
Nach dem ersten Bewegungs-Trigger – dem Pass vom mittleren Innenverteidiger auf den Halbraumverteidiger – entstehen zwei diagonale Linien: Zum einen auf der ballnahen Seite, bestehend aus dem mittleren Innenverteidiger, dem ballnahen Halbraumverteidiger und dem Flügelverteidiger. Zum anderen auf der gegenüberliegenden Seite, gebildet aus dem ballfernen Halbraumverteidiger, dem Sechser, dem zentralen Mittelfeldspieler und dem ballnahen Halbraum-Achter. Auffällig ist das Fehlen der klassischen „positionellen Überlegenheit“ in dieser diagonalen Anordnung – besonders bei Versuchen, den Druck durch „Herumspielen“ zu umspielen, bleiben Optionen begrenzt. Dies liegt insbesondere an der hohen Positionierung der Flügelverteidiger, wodurch direkte Verbindungen in die Breite fehlen. Der entscheidende Vorteil ergibt sich jedoch aus den engen Interaktionen, die gezielt auf Angriffsmuster innerhalb der Ballzone abzielen.
Diese Trigger sorgen zunächst dafür, dass die Spieler klare Orientierungspunkte erhalten – sie wissen, welche Räume zu besetzen sind und welche Bewegungen erforderlich sein könnten. Gleichzeitig bleibt ihnen jedoch ein gewisser Handlungsspielraum, insbesondere im Wie der Ausführung – grundsätzlich wirkt es allgemein so, als würde Talay wenig konkrete Vorgaben machen, aber den Spielern einen gewissen Werkzeugkasten an Mitteln geben. Auch die anschließenden Folgebewegungen bleiben weitgehend flexibel und unterliegen keiner strikt vorgegebenen Struktur.
Typische Muster über die Halbraumverteidiger
Die Ballung bietet eine solide Grundlage für die Progression. Kleine Abstände zwischen Sechser und zentralem Mittelfeldspieler sowie große Distanzen zwischen Halbraumverteidiger und Halbraum-Achter in der zweiten Diagonalstaffelung schaffen große Zwischenräume in den Pressinglinien des Gegners. Diese Räume versucht Sydney gezielt mit dem Halbraumverteidiger zu bespielen.
- In dieser Szene zeigt sich ein häufiges Muster: Der Flügelverteidiger kippt vor der gegnerischen Pressingwand ab, um den direkten Gegenspieler mitzuziehen und dadurch den Zwischenraum zu öffnen. So kann der Halbraumverteidiger den Halbraum-Achter direkt diagonal anspielen, der dann voll durchschiebt.
- Zunächst sucht der Halbraumverteidiger den Zwischenraum zum zentralen Mittelfeldspieler. Dieser leitet den Ball dann im Ablagenspiel an den tief einrückenden Flügelverteidiger weiter. Dieses Ablagespiel aus der Diagonal-Staffelung stellt ein häufig genutztes Muster bei Sydney dar.
- Das Muster zeigt sich logischerweise auch in umgekehrter Reihenfolge: Der Halbraumverteidiger sucht den Flügelspieler, der entweder den zentralen Mittelfeldspieler im Zwischenlinienraum anspielt oder den Halbraum-Achter direkt tief schickt. Die bevorzugte Variante ist hierbei häufig der Pass zum zentralen Mittelfeldspieler, der gezielt immer wieder in diese Drucksituationen gebracht wird, da gerade der etatmäßige ZM Sena hier seine Stärken ausspielt.
- Ein weiteres häufig genutztes Mittel ist das Bespielen des „leeren Zwischenlinienraums“, der besonders gegen mannorientierte Gegner oft unbesetzt bleibt. Durch die Diagonalstaffelung schafft Sydney jedoch ideale Ausgangspositionen, um mit technisch starken Spielern gezielt in diesen Fokusraum vorzustoßen und temporäre Überzahlsituationen zu erzeugen – ohne diesen Raum bereits in der Ausgangsposition zu besetzen, um keinen Gegner dorthin zu ziehen. Insbesondere gegen herausrückende Verteidiger, die dabei die Tiefe im Rücken öffnen, gelang es mehrfach, in vielversprechende Abschlusspositionen vor das leere Tor zu kommen.
In den eher relational geprägten Folgebewegungen dieser Passmuster spielt das klassische „Spielen-und-Gehen“-Prinzip eine zentrale Rolle. Die Halbraumverteidiger schieben nach einem gespielten Pass im Halbraum konsequent nach, um temporäre Überzahlsituationen zu erzeugen, in der Tiefe als Anspielstation zu dienen und die gegnerische Defensive aus der Balance zu bringen. Dabei schieben sie stets vollständig durch. Selbst wenn sie nicht direkt angespielt werden, bleibt ihre Bewegung wertvoll, da sie auf der letzten Linie eine zusätzliche Option schaffen.
Diese Pass- und Bewegungsmuster verdeutlichen anschaulich, welchen taktischen Werkzeugkasten Talay seinen Spielern an die Hand gibt. Er verankert sie in einer grundlegenden Systematik mit initialen Raumbesetzungs-Vorgaben, die sie in bestimmte relationale Strukturen lenken. Die konkrete Ausgestaltung und Interpretation dieser Muster bleibt jedoch den Spielern selbst überlassen.
Vorhersehbarkeit erfordert Dynamik
Ein Problem liegt aber dennoch in der relativ starren Positionsstruktur der zentralen Grundformation und den festgelegten Bewegungsmechanismen beim Pass auf den Halbraumverteidiger. Dadurch entsteht eine gewisse Vorhersehbarkeit der frühen Abläufe, die Gegner gezielt ausnutzen können. Zwar vermeiden es viele Teams, Sydneys Dreierkette direkt zu pressen, um keine Dynamik im Aufbau zu provozieren, doch sie agieren zunehmend kompakter und fokussierter auf die entsprechenden Anspielstationen.
Dementsprechend implementiert Sydney relationale Muster bereits im frühen Aufbau. Nach Rückpässen (Triggerpunkt) auf den Halbraumverteidiger zeigt sich häufig das Muster, dass der Flügelverteidiger ins Zentrum einschiebt und der Halbraum-Achter dessen Raum auffüllt, um den gegnerischen Außenverteidiger mitzuziehen. Dies ermöglicht es Sydney, mit einem langen Ball den Raum hinter dem gegnerischen Außenverteidiger anzuspielen, entweder über den Stürmer oder den ballfernen Halbraum-Achter. Gleichzeitig schieben die Sechser und der zentrale Mittelfeldspieler ballnah, um eine alternative Staffelung zu schaffen und kleinräumige Verbindungen in Ballnähe zu ermöglichen.
Ein weiteres beliebtes Mittel im Spiel sind scheinbar „wild“ wirkende Bewegungen und Verschiebungen innerhalb des grundsätzlichen positionellen Aufbaus (3-1-5-1). Ein typisches Beispiel ist die temporäre Bildung einer Doppelsechs (3-2-4-1), indem ein dribbelstarker Spieler neben die nominelle Sechs gestellt wird – teils rotiert diese Besetzung aber auch im Laufe der Spielzüge. Dieser Spieler sucht immer wieder das Ablagespiel, um direkt zentral in Dribblings zu gehen. Dadurch zieht er Gegner auf sich, löst Mannorientierungen auf und öffnet Räume in der Tiefe.
In diesem Muster sind häufig zwei relationale Diagonalverbindungen („escadinhas“) zu sehen, wobei der zweite Sechser als Schnittpunkt dieser Linien fungiert. Aus diesen Verbindungen entstehen oft zahlreiche Bewegungen zum Ball aus dem Zentrum. Der eigentliche Fokus liegt jedoch auf dem ballfernen Flügelverteidiger, der aus diesen Mustern heraus häufig sofort die Tiefe sucht. Durch die asymmetrische Breite stimmen die Abstände in den gegnerischen Ketten oftmals nicht, was es dem Sechser nach einem Dribbling ermöglicht, den Flügelverteidiger direkt in die Tiefe zu schicken.
Diese X-Form wird besonders wichtig, wenn die ballferne Seite bespielt werden soll. Ein zweiter Sechser bindet dabei einen zusätzlichen Gegenspieler im Zentrum, wodurch der ballferne Halbraum-Achter tendenziell mehr Freiraum erhält. Insbesondere Douglas Costa konnte auf diese Weise mehrfach angespielt werden, woraufhin er sofort ins Dribbling ging und das 1-gegen-1 suchte.
Ein charakteristisches Muster, das sich auch bei Sydney beobachten lässt, ist die tabela (auch genannt: Ablagenspiel) – eine Spielform, die bereits in den vorherigen Abschnitten in leicht abgewandelter Form angesprochen wurde. Wörtlich übersetzt bedeutet tabela „Tisch“ und stellt ein zentrales Element des relationistischen Fußballs dar. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird dieses Konzept hier bei SV häufig als Ablagenspiel bezeichnet.
Ein solches Muster ist besonders auffällig, wenn der Sechser den Ball hält. Durch das Ballhalten eines zentralen Spielers neigen sich Körperhaltungen und Blicke häufig in Richtung des eigenen Tors, was die perfekte Grundlage für eine tabela bildet. In diesem Kontext bieten sich vor allem die Halbraum-Achter und der zentrale Mittelfeldspieler an, da sie sich beim Backspiel des Sechsers oft auf engem Raum bewegen. Der zentrale Mittelfeldspieler tendiert dabei zu einer etwas tieferen Position, was das Zusammenspiel weiter unterstützt.
Die tabela eignet sich hervorragend, um einen initial gesetzten Deckungsschatten des Gegners zu überwinden. Zudem setzen Gegner in der A-League häufig auf Mannorientierungen gegen Zentrumsspieler, sodass der Pass vom Halbraum-Achter zum zentralen Mittelfeldspieler im ersten Kontakt – bei guter Technik – präzise gespielt werden kann. In diesem Bereich gab es jedoch immer wieder Probleme, da Gegner oftmals durch gezieltes Pressing Ballgewinne erzielen oder den Angriffsrhythmus durch taktische Fouls unterbrechen konnten.
Dieses häufig auftretende Muster ist ein Ausdruck der „organisierten Freiheit“ Talays, da die Sechser durch ihre Initialstaffelung in der Regel einen guten Winkel zum Halbraumverteidiger haben und oft für Pässe erreichbar sind. Dadurch geraten sie immer wieder in Situationen, in denen dieses Muster zur Anwendung kommt. Die Initialstaffelung fördert zudem eine gute Höhenbesetzung, die eine wichtige Voraussetzung für effektives Ablagenspiel darstellt. Dennoch bleibt die Ausführung in diesen Szenen variabel, da die Entscheidungsspielräume und Interpretationen nach wie vor bei den Spielern liegen.
Kreis-Form im letzten Drittel
Im letzten Drittel gibt man dann die positionelle Basis weitgehend auf und man bildet eine Art Kreis um die gegnerische Pressingwand. Ziel ist es, so viele Gegner wie möglich in eine Ballung auf der vollen Breite zu ziehen, diese Ballung jedoch in den Zwischenräumen so weit wie möglich auseinanderzuziehen.
Hierdurch entsteht Raum für einen Rückpass zu einem Spieler, der mit einem Dribbling gegnerische Mannorientierungen auflöst und die Tiefe sucht. Besonders häufig wird versucht, den zentralen Mittelfeldspieler Sena in solche Dribbling-Szenen zu integrieren, da er außergewöhnliche individualtaktische Qualitäten auf engem Raum und im Dribbling besitzt. Seine Fähigkeit, überraschend nach vorne aufzulösen, ermöglicht es, unerwartete Räume zu schaffen.
Aus diesem Kreis-Muster ergaben sich jedoch zuletzt immer wieder Probleme, da die hohe Anzahl an Spielern im letzten Drittel die Absicherung der Tiefe nach Ballverlust gleichermaßen reduziert. Besonders beim Überspielen des ersten kollektiven Gegenpressing-Versuchs von Sydney und bei sofortigen Tiefensprints der Gegner zeigte die Elf von Talay zuletzt Schwächen. Hinzu kommt, dass das Hinarbeiten auf ein Dribbling von den Gegnern häufig antizipiert und vorbereitet wird. Entsprechend müssen alternative Lösungen gefunden werden. Passwinkel aus dem Kreis heraus sind jedoch oft schwer zu realisieren, da die Nähe zur Seitenlinie zusätzliche Pressingmöglichkeiten und die Isolation der Breite für den Gegner eröffnet.
Teilweise sind auch Doppelpässe oder Ablagespiele zu sehen, jedoch lassen sich diese aufgrund der großen horizontalen Abstände nur bedingt umsetzen. Daher versucht Sydney, über Rotationen und unvorhersehbare Bewegungen zum Ball Dynamik in die Anordnung zu bringen. Besonders Flügelverteidiger Douglas Costa sucht immer wieder die Mitte des Kreises, bietet sich auf engem Raum an, sucht das 1-gegen-1 und erzeugt so Dynamik.
Ein weiteres häufiges Muster ist das Anspielen eines Wandspielers, der den Ball auf einen durchschiebenden Halbraum-Achter ablegt. Die Halbraum-Achter lassen sich zudem gerne in die durch das Positionsspiel entstehenden Zwischenräume des Gegners fallen, um anspielbar zu sein. Hier zeigen sich oft dynamische Auftaktbewegungen nach einem Druckpass. Besonders das Talent Segecic, der über hohe technische Fähigkeiten verfügt, wird immer wieder gezielt in solche Szenen eingebunden.
Ein Problem des Kreises ist, dass diese Anordnung keine optimale Höhenbesetzung ermöglicht. Das bedeutet, dass nach dem Anspielen der Tiefe häufig das Nachschieben in den Strafraum fehlt oder zu spät erfolgt. Im Verlauf der Saison war Sydney zwar oft mit dem Ball am Rand des Strafraums präsent, jedoch fehlte es an ausreichender Präsenz in der Box. Dadurch wurde der Rückraum nahezu automatisch zum Fokusraum für Anschlussaktionen.
-MX
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