Türchen 9: Inter Mailands dynamische Raumbesetzung
Unter Simone Inzaghis Leitung hat sich Inter Mailand in den vergangenen Jahren wieder in der Spitze des europäischen Fußballs etabliert. Erfolge wie der Einzug ins Champions-League-Finale, zwei Coppa-Italia-Titel und der letztjährige Gewinn der Serie A untermauern die Rückkehr zu alter Stärke. Auch in der laufenden Champions-League-Saison bleibt Inter bislang ungeschlagen und steht auf Platz zwei der Gruppenphase. Ein zentraler Erfolgsfaktor neben der kompakten Defensive ist Inters dynamische Raumbesetzung.
Ziel dieser Spielweise ist es, durch eine Vielzahl von Rotationen gegnerische Mannorientierungen zu manipulieren und Räume freizuziehen. Gegen Raumorientierungen greift man auf ein etwas strikteres Ballbesitzspiel mit etwas weniger Rotationen zurück, weicht jedoch nicht von seinen Prinzipien ab. Anders als bei herkömmlichen Ansätzen, die darauf abzielen, den freien Mitspieler zu finden, liegt hier der Fokus auf dem Finden und Bespielen von offenen Räumen. Diese Räume werden dynamisch belaufen, wobei die Bewegungsmuster zunächst willkürlich wirken. Sie folgen jedoch einer Reihe von spannenden Prinzipen und Bewegungsmuster, die als Auslöser für die darauffolgenden Rotationen fungieren.
Räume werden dabei flexibel interpretiert und nahezu spontan besetzt. Die Grundposition der Spieler hat dabei eine untergeordnete Rolle – entscheidend ist, dass die Räume belegt werden, unabhängig davon, welcher Spieler sich dort befindet. Die Orientierung der Spieler erfolgt nicht anhand fester Zonen, sondern an der Positionierung des Gegners und den offenen Räumen. Dennoch gibt es Rollen, die stärker an feste Positionen gebunden sind. Diese Flexibilität erinnert an Futsal, wo das Bespielen von Lücken in der gegnerischen Defensivstruktur durch ständige Bewegungen ohne Ball im Vordergrund steht. Ebenso bestehen Parallelen zum Basketball: Dort besetzen häufig fünf Spieler oft sechs Zonen, wobei die unbesetzte Zone dynamisch belaufen wird, um das reaktive Verhalten des Gegners auszunutzen.
Inters Spiel ist sehr vertikal ausgelegt und zielt drauf ab die Tiefe als Zielraum zu bespielen. Die dynamische Raumbesetzung ermöglicht es den Spielern, offene Räume zu nutzen, um den Ball vertikal in Richtung Tor zu tragen. In geordneten Ballbesitzphasen, etwa gegen ein Mittelfeld- oder Abwehrpressing, wird häufig der Pass zurückgespielt, um durch Überladungen, Rotationen und das Freiziehen von Räumen Angriffe auf die Tiefe vorzubereiten.
Tiefenläufe der Halbverteidiger
Auch in der Aufbaustruktur zeigt sich Inter sehr variabel. Eine Konstante im tiefen Aufbau ist das aktive Einbeziehen des Torhüters. Die Flügelverteidiger rücken situativ in den Aufbau ein, wodurch sich die Innenverteidiger ohne Ball dynamisch ins Offensivspiel einschalten können. Dies löst häufig eine Kettenreaktion an Rotationen aus, wodurch gegnerische Mannorientierungen manipuliert werden und vor Entscheidungen gestellt werden: Entweder muss das Pressing neu organisiert werden, was Fehler provozieren kann, oder die Angreifer folgen den Innenverteidigern weit ins Mittelfeld oder die eigene letzte Linie, was zu ungünstigen Positionen führt.
Ein für Inter typisches Muster hierbei ist der Lauf aus der Tiefe in die letzte Linie durch einen der Halbverteidiger. Dies ist häufig der Start der Rotationen wie in folgender Szene gegen Atalantas mannorientiertes Pressing zu sehen. Bastoni als linker Halbraumverteidiger startet einen Lauf aus der ersten Aufbaulinie bis in die letzte Linie und zieht seinen direkten Gegenspieler Samardzic mit sich in eine für ihn ungewohnte Positionierung gegen den Ball. Zuvor hatte sich mit Pavard auch der rechte Halbverteidiger bereits in die Offensive eingeschaltet und mit Flügelverteidiger Darmian, der in dieser Szene als Halbverteidiger agierte, rotiert. Durch Bastonis Lauf entstand ein offener Raum auf der linken Seite welcher durch den breitschiebenden Acerbi besetzt wurde. Das Zentrum in Inters erster Aufbaulinie wurde nun durch Sommer und den halbrechts abkippenden Calhanoglu besetzt. Durch diese Abkippbewegung und das Mitziehen seines Gegenspielers öffnete Calhanoglu den vertikalen Passweg im Zentrum für den nun den Sechserraum vor der Abwehr auffüllenden Mkhitaryan. Durch diese Reihe an Rotationen entstand halblinks ein offener Raum, den es nun dynamisch zu belaufen und zu bespielen galt. Durch die hohe Anzahl an Positionswechseln und die starke Mannorientierung Atalantas wurde das Verteidigen reaktiv wodurch Inter einen Zeitvorteil hatte.
Dimarco belief nun von seiner Positionierung in der Breite den offenen Raum und konnte von Mkhitaryan, der sich sofort als Exit-Option in die erste Linie absetzte, gefunden werden. Aufgrund des starken Gegnerdrucks nutze Dimarco diese Option auch und orientierte sich nach dem Abspiel weiter ins Zentrum um den nun offenen Sechserraum aufzufüllen. Als Reaktion auf das Abkippen Mkhitaryans schob Acerbi nun in die Breite und Inter baute neu auf. Zusätzlich kippte Barella zentral in die erste Aufbaulinie und sorgte für Zuordungsprobleme Atalantas, da Djimsiti als nomineller Innenverteidiger zögerte diesem weiten Weg Barellas zu folgen, was diesem Zeit am Ball verschaffte.
Dadurch baute Inter nun mit einer flachen fünf und Dirmaco als Sechser davor auf, wodurch die Halbräume unbesetzt waren. Interessant zu beobachten ist, dass die drei zentralen Positionen in der ersten Linie von den ursprünglichen Zentrumsspielern besetzt waren. Dies ist keine Seltenheit unter Inzaghi und hat neben dem Manipulieren von Mannorientierungen den Effekt seine aufbaustärksten Spieler in möglichst einflussreiche Positionen zu bringen und so die Aufbauqualität in der ersten Linie zu erhöhen. Der Halbraum wurde nun diagonal vom zuvor in die Breite schiebenden Acerbi dynamisch belaufen. Dieser wurde von Mkhitaryan im offenen Fuß gefunden und konnte in einer aussichtsreichen Umschaltsituation auf die Restverteidigung Atalantas zudribblen. Die Chance wurde jedoch durch ein taktisches Foul an Acerbi verhindert.
Aufrücken des zentralen Innenverteidigers
Unter hohem Druck orientiert sich der zentrale Innenverteidiger nach einem Querpass häufig in den Sechserraum. Durch dieses Aufrücken öffnet sich für den angespielten Halbverteidiger der Passweg zum Torhüter als Exit-Option. Zusätzlich wird das Mittelfeldzentrum überladen, wodurch sich einer der Zentrumsspieler frei in den offenen Raum bewegen kann. Eine Möglichkeit wäre, dass der Zentrumsspieler in die erste Linie abkippt, um dort als zusätzliche Passoption zu dienen und den Gegenspieler vor die Entscheidung zu stellen, herauszurücken oder das Zentrum abzusichern. Allerdings könnte ein erneuter Rück- oder Querpass als Pressingauslöser interpretiert werden. Eine weitere Option wäre das Ausweichen nach außen, um dort einen vertikalen Pass zu empfangen. In jedem Fall kurbeln diese Bewegungen die Rotationen an, wodurch neue Räume geöffnet und das gegnerische Pressing überspielt werden.
Diese Herangehensweise wird auch häufig genutzt, wenn der Torhüter stark unter Druck gesetzt wird. Der Gegenspieler des zentralen Innenverteidigers versucht dann, diesen in den Deckungsschatten zu nehmen, während der Torhüter angelaufen wird. Der zentrale Innenverteidiger bewegt sich daraufhin proaktiv aus dem Deckungsschatten nach vorne und bietet eine diagonale Passoption im Mittelfeld. Dieses Aufrücken kann weitere Rotationen, wie das Abkippen der Zentrumsspieler, auslösen. Vorrangig dient es jedoch dazu, den ersten Anläufer zu überspielen und eine Überzahl im Zentrum zu erzeugen, die Zuordnungsprobleme für den Gegner schafft.
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Die Bewegung aus dem Deckungsschatten erschwert es insbesondere den nominellen Offensivspielern des Gegners, die tendenziell über ein weniger ausgeprägtes defensives Bewusstsein verfügen, dem Lauf des Innenverteidigers zu folgen – selbst dann, wenn der Torhüter nicht direkt angelaufen wird.
Abkippende Sechser
Das Abkippen der Sechser wurde bislang vor allem als Folgebewegung der im Weltfußball eher untypischen Läufe der Innenverteidiger betrachtet. Allerdings können die Sechser ebenso der Auslöser einer Rotationskette sein. Ein Abkippen in die erste Aufbaulinie führt häufig zu einer Bewegung der Innenverteidiger, auch wenn dieses Muster deutlich seltener vorkommt.
Oftmals kippt jedoch einer der Zentrumsspieler nach außen in eine Außenverteidigerposition. Dies eröffnet verschiedene Anschlussmöglichkeiten: Der Flügelverteidiger rückt in die letzte Linie vor, während der Halbverteidiger einen Lauf aus der Tiefe startet, um den dadurch freigewordenen Achterraum dynamisch zu besetzen. Nach einem Pass des Zentrumsspielers kann der Halbverteidiger den Ball mit offenem Fuß nach vorne tragen und den Spielaufbau vorantreiben.
Chancen und Risiken
Die hohe Anzahl an Positionswechseln erfordert eine ausgeprägte Spielintelligenz von Inzaghis Spielern. Sie müssen sich ständig an eine sich verändernde Umgebung anpassen, sich öffnende Räume erkennen und diese im richtigen Timing belaufen. Das Timing der Rotationen ist entscheidend, um das Auffüllen der Positionen perfekt aufeinander abzustimmen und so über den vierten oder auch fünften Mann den freien Raum zu bespielen. Auch dieser muss wiederum im passenden Moment belaufen werden. Zudem sind eine hohe technische Qualität sowie Ruhe am Ball erforderlich, da Gegner immer wieder in die eigene Hälfte gelockt werden, was ein präzises Spiel unter hohem Druck notwendig macht.
Diese Aufbaumuster bringen jedoch nicht nur Vorteile mit sich. Häufig finden sich Spieler aufgrund der untergeordneten Rolle der Positionen in für sie ungeeigneten Situationen wieder. Es kommt nicht selten vor, dass Innenverteidiger den Ball im Halbraum unter Gegnerdruck empfangen und dadurch aussichtsreiche Situationen verpuffen. Ähnliches gilt für das defensive Umschalten nach einem Ballverlust in der Vorwärtsbewegung. Zwar sind die höher positionierten Verteidiger durch ihr defensives Denken in der Rückwärtsbewegung deutlich zuverlässiger, doch besetzen teilweise drei Zentrumsspieler die erste Linie. Dies führt zu einer offensiver ausgerichteten Restverteidigung, was Risiken birgt. Allerdings ist dies immer eine Frage der Risikoabwägung und die mannschaftstaktischen, positiven Effekte der dynamischen Raumbesetzung überwiegen in dieser Hinsicht.
Autor: FN beschäftigt sich intensiv mit Taktiktheorie als auch Analysen zu aktuellen Spielen und Entwicklungen im Fußball. Auf Twitter ist er als @felixnb aktiv.
1 Kommentar Alle anzeigen
Jota 10. Dezember 2024 um 11:32
El dinamismo de los defensas centrales del Inter, estoy casi seguro que será algo que cree tendencia en Italia. Sin embargo no todos podrán hacerlo a ese nivel ya que considero clave el buen pie de jugadores como Barella, Calhanoglu o Bastoni. Además de carrillos ofensivos como Dimarco o jugadores tan autosuficientes en ataque como Thuram.