Bayern in Good Kompany – SZ
Das erste große Mysterium dieser neuen Epoche beim deutschen Rekordmeister ist offenbar die Grundordnung. Ordnung war da ohne Zweifel in den im Wesentlichen überzeugenden Testspielen und der ersten Runde im DFB-Pokal unter Vincent Kompany und seinem neu zusammengestellten Trainerteam. Allein der Kicker sah da ein 4-4-2, wo der SofaScore ein 4-5-1 sah und 11 Freunde ein 4-3-3 nach alter Guardiola-Schule, manche sahen auch mal eine Dreierkette. Und da haben wir über die einzelnen Positionen noch gar kein Wort verloren. Also, was ist da eigentlich los? Wir wollen hier sieben Aspekte von Kompanys neuem Bayern-System unter die Lupe nehmen, die diese Saison wichtig werden dürften.
1. Die Basis heißt 4-2-4, doch darin steckt viel Variabilität
Am besten ist die Grundordnung des deutschen Rekordmeisters als 4-2-4 beschrieben, auch wenn es in vielen Spielsituationen kaum danach aussehen mag. Dass eine Mannschaft in 2024 nicht mehr eine Formation spielt und diese mehr oder weniger über volle 90 Minuten und klar erkennbar bleibt, ist natürlich ohnehin selbstverständlich. Was wir allerdings beim FC Bayern der anbrechenden Saison sehen können, geht weit über diese grundlegende Beobachtung hinaus. Am einfachsten lässt sich natürlich erklären, wie ein 4-2-4 als ein 4-4-2 oder 4-2-2-2 gelesen werden kann. Zwischen allen drei gibt es eher nur marginale Unterschiede, auf die sich vermutlich die meisten Beobachter nicht einmal einigen könnten. Der Grund, warum wohl von einem 4-2-4 gesprochen werden sollte, ist, dass es in vielen Spielen wirklich nicht systematisch erkennbar gewesen wäre, welche zwei der vorderen vier Spieler nun tatsächlich vor den anderen beiden einzuordnen gewesen wären. Zwei Spieler, die grundsätzlich besonders häufig oder besonders früh den Strafraum besetzen, sind so nicht auszumachen.
Um die typischen Permutationen dieses 4-2-4 einmal durchzugehen: Im Angriffspressing verwandelt es sich grundsätzlich in ein 4-2-2-2, bei dem natürlich die Außenverteidiger unterschiedlich weit aufrücken, wobei ein nomineller Außenverteidiger sogar als Halbverteidiger in der letzten Linie bleiben kann. Wenn das Angriffspressing nicht zum Erfolg führt, kann sich mitunter, je nach Staffelung des Gegners, ein 4-2-1-3, wiederum ein 4-2-4 oder auch ein 3-4-3 oder 3-3-4 bilden, hier ist die Vielfalt der Variationen groß. Bei diesen Umformungen im Wesentlichen stabil bleiben die beiden Innenverteidiger und die beiden Sechser. Noch tiefer in der Defensive kann sich die Formation dann über ein 4-4-2 bis hin zu einem 5-3-2 oder 5-4-1 verändern, bei dem entweder ein Flügelstürmer oder ein Sechser die Kette auffüllt – in der Vorbereitung sehr häufig Kimmich oder Gnabry.
Bei eigenem Ballbesitz sind es zunächst in den meisten Fällen die beiden Flügelstürmer, die die vorderste Angriffslinie bilden und die primär die Tiefe bedrohen. Dahinter stehen meistens die beiden zentralen Angreifer, hinter denen wiederum sich der 2-4-Aufbau sortiert. Wird der Gegner weit in seine eigen Hälfte zurückgedrängt, sind die Außen in aller Regel doppelt besetzt und man schreckt auch keineswegs davor zurück, diese Paare eng zusammenzuschieben. Es wird, wenn auch manchmal anders dargestelt, kein klassisches Positionsspiel gespielt, sondern großer Wert auf Überladungen auf den – gerne zuvor beim Gegner ausgedünnten – Flügeln gelegt.
2. Variables hybrides Pressing
Integral für das Münchner Spiel ist ein intensives Angriffspressing. Das Angriffspressing ist geprägt durch eine Mannorientierung, wenn auch mit zum Teil weiten Abständen zum jeweiligen Mann, die eine stärkere Hybridisierung erlauben. Charakteristisch für das Pressing der Münchner ist das Schaffen von Konstellationen, aus denen heraus ein Spieler gerade über eine kurze Strecke anlaufen kann, sodass der Spieler in seinem Rücken im Deckungsschatten verbleibt. Im Spiel gegen Tottenham in Seoul waren das insbesondere vertikale Läufe auf den Torwart. Als Tottenham diesem Konzept im “Rückspiel” in London mit einem veränderten Aufbau begegnete, kam das Anlaufen schlicht aus anderen Winkeln, etwa – weiterhin auf geradem Wege – von der Seite, wenn die Innenverteidiger eine Torwartkette bilden.
Besonders unberechenbar wird das Pressing durch die bereits erwähnte variable Front der Bayern. Durch die relativ weiten Abstände der nicht unmittelbar ballnahen Spieler, die Kompanys Mannen erlauben, ihre Gegenspieler mit höherer Geschwindigkeit anzulaufen, wird es zugleich erschwert, sich ihnen durch unerwartete Richtungswechsel und/oder Klatschpässe zu entziehen.
Co-Trainer René Marić legt großen Wert darauf, dass alle Spieler die Situationen, in die sie auf dem Fußballplatz geraten, unter denselben Gesichtspunkten und aus derselben Perspektive betrachten. Vielleicht lässt sich auch damit gut erklären, was die Stärken dieses Bayern-Pressings sind: Nicht jeder Spieler muss seinem momentanen direkten Gegenspieler direkt auf den Füßen stehen, damit jeder weiß, wer gerade für wen zuständig ist und was passieren wird, wenn dieser kurz kommt, in die Tiefe startet oder angespielt wird. Die Spieler müssen vielmehr gut kommunizieren und das Spiel durch dieselbe Brille betrachten, damit hier keine fatalen Missverständnisse entstehen. Wenn das aber gelingt, dann ist es sehr effektiv.
3. “War das Mädchen brav, bleibt der Bauch konkav”
Freunde zotiger Eselsbrücken und/oder optischer Linsen gegen Kurzsichtigkeit dürften am Spiel der Männer von der Säbener Straße in den letzten Wochen ihre besondere Freude gehabt haben. Grund dafür waren die konkaven Strukturen, die sich auf dem Spielfeld immer wieder offenbarten. Gemeint sind damit nicht die seitlichen Ränder des Spielfeldes, sondern vielmehr die vorderste Linie im Angriff und die erste Linie im Aufbau, bei denen die zentrale auffällig oft unbesetzt blieb, sodass mit der Linie direkt davor beziehungsweise direkt dahinter ein konkaver Bogen entstand. So sehr sich beide Konstellationen optisch ähneln, so sehr unterscheiden sie sich freilich in ihren zugrunde liegenden Prinzipien. Eines verbindet beide aber doch: Der konkave Aufbau wie die konkave Front verfolgen das Ziel, Räume frei zu lassen, in denen zum entsprechenden Zeitpunkt kein gutes Verhältnis besteht zwischen dem, was dort gewonnen und verloren werden kann. Außerdem soll damit die räumliche Struktur des gegnerischen Teams manipuliert werden.
Die konkave Front folgt dabei im Grunde dem uralten Prinzip, das schon Matthias Sindelar vor 100 Jahren kannte, nämlich die Verteidiger des Gegners durch tiefere Positionierung aus ihrer Position zu locken, beziehungsweise sie vor die unangenehme Entscheidung zu stellen, sich herauslocken zu lassen oder einen großen Abstand zu ihrem Gegenspieler zuzulassen. Der FC Bayern im Sommer 2024 will die gegnerischen Verteidiger allerdings nicht nur nach vorne locken, sondern verfolgt ausgefeiltere Ziele. Die letzte Linie des Gegners soll in vielen Situationen so schmal wie möglich werden und dabei idealerweise auch mit weniger Spielern besetzt. Häufig gelingt es diesem FC Bayern im Zuge von schnellen Angriffen aus dem Pressing, Gegenpressing oder aus dem tiefen Ballbesitz so, den Ball schnell nach vorne zu bringen und Spieler aus der gegnerische letzten Linie durch die konkave Front zunächst herauszulocken und die verbliebene Kette durch diagonale Läufe von außen nach innen so eng wie möglich zusammenzuziehen.
Eine konkave Linie im Aufbau entstand dagegen – mit Ausnahme des Pokalspiels in Ulm – immer dann, wenn auf die beiden Innenverteidiger, die die erste Linie im 2-4 bildeten, erhöhter Druck ausgeübt wurde. Ballverluste in der letzten Linie sollen vermieden werden, allerdings insbesondere im Zentrum, wo die Gefahr eines darauffolgenden gegnerischen Torerfolges besonders hoch wäre. Die Konsequenzen, die der FC Bayern daraus zieht, sind dreierlei: 1. Die beiden Innenverteidiger positionieren sich breit. 2. Der Torwart wird häufig eingebunden, punktuell bis hin zur Torwartkette. 3. Beide Sechser halten sich jederzeit bereit, um meist nicht einzeln, sondern eben zusammen kurz zu kommen und sich als Anspielstationen anzubieten, sodass ein 2-2-2 oder die genannte konkave Linie entsteht.
4. Schlagseite rechts, Schlagseite links?
Das neue System der Münchner ist allerdings nicht schlicht auf ein symmetrisches 4-2-4 gebaut, ganz im Gegenteil, wie bereits oben am Rande angedeutet. In einigen der Testspiele waren die beiden Seiten der bayerischen Formation längst keine Spiegelbilder voneinander, vielmehr war es oft, wenn auch nicht ausschließlich, die rechte Seite, auf der die besonderen Dinge passierten, während de linke Seite relativ normal funktionierte. Beim Spiel in Seoul gegen Postecoglous Tottenham etwa, das hierfür als recht paradigmatisch angesehen werden kann, hielt Raphael Guerreiro auf der linken Seite vor allem die Breite, während Mathys Tel einen Hybrid aus Mittelstürmer und Flügelspieler gab und Josip Stanišić einen Hybrid aus Innenverteidiger und Halbverteidiger. Die rechte Seite allerdings war für die Londoner kaum ausrechenbar, sodass die Bayern die rechte Seite oft für den Vortrag ihrer Angriffe nutzten, um dann nicht selten über links den Abschluss zu suchen. Serge Gnabry schien einmal die Rolle eines Flügelverteidigers auszufüllen, einmal die eines Mittelstürmers, Gabriel Vidović wollte der Kicker als Linksaußen identifiziert haben, obwohl er sich größtenteils in der rechten Hälfte des Spielfelds bewegte, Sacha Boey erfand die Rolle eines Flügelinnenverteidigers. Was war geschehen?
Tatsächlich war das nichts anderes als eine Variation innerhalb des Systems und innerhalb des oben umrissenen 4-2-4. Es entsteht aus diesem, indem die rechte Außenverteidiger als Halbverteidiger nach innen gezogen wird, wie wir es in der Person von Sacha Boey hervorragend umgesetzt sehen konnten. Dadurch rückt der linke Innenverteidiger etwas weiter nach außen und wird selbst zum Halbverteidiger und gibt dem Linksverteidiger, in diesem Fall häufig Raphael Guerreiro mehr, Rückendeckung, sodass dieser die linke Seite größtenteils alleine bespielen kann, wodurch wiederum Mathys Tel einrücken und mehr im Halbraum zuhause sein kann. Mathys Tel wird dadurch stärker zu einer vollwertigen linken Sturmspitze, sodass die beiden zentralen Angreifer wiederum ihre Arbeitsteilung etwas verändern können, sodass einer häufiger die rechte Sturmspitze gibt und der andere stärker zurückfällt als echter Zehner. Als Folge kann nun der rechte Angreifer, häufig Gnabry seine höchst variable Rolle ausfüllen, die ihn überall auf der rechten Seite, aber gleichermaßen neben dem echten Zehner in der Mitte auftauchen lässt, der dann letztlich – auch mit dem rechten Sechser zusammen – absichern kann, wenn Sacha Boey von ganz hinten bis nach ganz vorne stößt.
Es besteht generell gar das Potenzial, diese Rochaden nicht komplett auf die rechte Seite zu beschränken, sondern von Spiel zu Spiel oder gar innerhalb eines Spiels mal rechts und mal links zu präsentieren mit dem geeigneten Spielermaterial.
5. Neue Hierarchien
Man kann sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, dass einige Spieler in der internen Hackordnung große, zum Teil unerwartete Schritte nach vorne gemacht haben. Ganz vorne hierbei zu nennen ist Thomas Müller, dessen zwei Tore plus Vorlage in der ersten Pokalrunde nicht den Blick darauf verstellen sollten, dass er noch viel wichtiger dabei ist, das Pressing zu steuern. Für viele zuletzt eher ein Auslaufmodell, das sich nur durch seinen in der Vergangenheit erworbenen Legendenstatus noch von Wechselkandidaten wie Goretzka unterschied, erscheint der bald 35-Jährige plötzlich vielleicht mehr denn je wie der Chef auf dem Platz. Das Pressing der Bayern erfordert es, ständig die richtigen Abstände zu den Gegenspielern einzuhalten, wofür er fast immer das richtige Auge hat.
Ein weiterer Name, der dabei nicht fehlen darf, ist Mathys Tel. Tel besticht insbesondere in der Rolle eines hybriden Flügel-/Mittelstürmers, die für ihn wie maßgeschneidert erscheint. Als Spieler, der vor allem dadurch dazu beiträgt, Gegner zu überspielen, dass er für progressive Pässe zur Verfügung steht oder sie ausdribbelt, ist Tel kein Spieler für eine hohe Zahl hoher Flanken, weder als Absender noch als Empfänger. Dadurch ist es perfekt für ihn, in vielen Situationen, etwa im Angriffspressing oder in Umschaltsituationen – sehr weit vorne und auch zentral zu stehen, in Druckphasen gegen eine tief gestaffelte Defensive aber nicht und schon gar nicht allein die Funktionen eines typischen Mittelstürmers erfüllen zu müssen oder maßgeblich für hohe Flanken als Option verantwortlich zu sein.
Ein weiterer Gewinner war auch schon einer der Gewinner der zweiten Saisonhälfte 2023/24, nämlich Aleksandar Pavlović. Auch wenn Joshua Kimmich weiterhin beim FC Bayern unter Vertrag steht und offiziell durchweg für das Mittelfeld vorgesehen war und ist und mit João Palhinha ein weiterer Hochkaräter für die Doppelsechs nun endlich auch seinen Weg an die Säbener Straße gefunden hat, scheint Aleksandar Pavlović weiterhin ein mindestens gleichwertiger Konkurrent um einen der beiden Stammplätze zu sein. Für den FC Bayern ist Pavlović kaum verzichtbar als bester Passspieler auf dem Platz und damit zu Recht Kandidat auf die Nachfolge eines gewissen Toni Kroos in der Nationalmannschaft.
Und, ja, auch Joshua Kimmich ist eben noch da und gerade nicht aus der Mitte verbannt worden, wie bei Bundes- und Ex-Bayerntrainer Julian Nagelsmann. Das ist keine politische Entscheidedung, sondern eine taktische. Das neue Bayern-System ist auf eine Weise angelegt, die Kimmich zu keinem guten Kandidaten für die Außenverteidigung macht. Kimmich ist nicht gut geeignet, die Rolle eines – zumindest Teilzeit- – “Flügelinnenverteidigers” zu geben, wie wir es Boey und teilweise Stanišić gesehen haben. Allerdings wäre auch eine gespiegelte Guerreiro-Rolle nicht dafür gemacht, Kimmichs Stärken zur Geltung kommen zu lassen. Für erstere fehlt ihm die Schnelligkeit, für zweitere die taktische Disziplin, die Außenbahn verlässlich besetzt zu halten. Nur in einer sehr symmetrischen Version des System könnte sich Kimmich rechts möglicherweise zuhause fühlen, womit viel Flexibilität verlorenginge. Kimmichs neue Rolle im Zentrum dagegen ist die eines leicht offensiveren Parts in der Doppelsechs. Kimmich ist nicht Bayerns Stratege aus der Tiefe, denn das ist sein Nebenmann Pavlović, Kimmich ist vielmehr derjenige von beiden, der über einen größeren Aktionsradius verfügt und nach Gelegenheiten sucht, sich anzubieten, Löcher in der Defensive stopft und auch mal seine typischen Chipbälle und Flanken einbringen kann. Eine zentrale Rolle im Aufbau, wie er sie bisweilen unter Nagelsmann hatte, hat Kimmich nicht.
Damit ist Sacha Boey von einem Kandidaten für eine Leihe oder gar schon wieder einen Verkauf nun zu einem wichtigen Spieler im Kader geworden. Einstmals hinter Kimmich und Mazraoui in einem ungleichen Kampf mit Josip Stanišić, der freilich auch zentral spielen kann, um die Rolle eines Backups eines Backups, kann Boey nun wohl mit viel Spielzeit rechnen und bietet den Bayern eine ganz andere Option als Stanišić für die defensive rechte Seite. Boey scheint damit dann doch noch schneller so richtig in München angekommen zu sein, als bis vor kurzem noch zu erwarten war.
6. New Wave
Ein weiterer Aspekt, den wir bereits kurz angedeutet haben, der aber auch noch ausführlicher gewürdigt werden soll, ist das Nachvornerücken in Wellen, das Angriffe dynamischer machen soll. Dieses Angreifen in Wellen beginnt bereits mit den vier Angreifern, von denen in offensiven Umschaltsituationen oder im tiefen Ballbesitz oft die beiden nominellen Flügelstürmer die vordersten Spitzen bilden – manchmal auch ein Flügelstürmer und ein zentraler Angreifer. Schickt sich der FC Bayern nun an, den Ball ins Angriffsdrittel zu bringen, bleibt das in aller Regel nicht so. Und die Veränderungen an dieser Struktur sind keineswegs zufällig, sondern folgen einer klaren Systematik. Eine Variante dabei ist die Angriffswelle durch die Mitte, nicht selten zu einer Seite hin, so etwa vorgetragen in der 12. Minute im “Rückspiel” in London gegen Tottenham Hotspur. Pavlovic bekommt den Ball in der erwähnten konkaven Linie. Müller tastet sich gerade leicht nach vorne, sodass Bayern ungefähr 2-2-3-3 steht mit Müller rechts vor Musiala weiter links. Pavlović spielt aus dem Druck heraus den Seitenwechsel weiter nach vorne auf Gnabry, der über einigen Platz und einige Zeit verfügt.
Er orientiert sich mit der Ballannahme nach innen und vollführt damit die Gegenbewegung zu den anderen: Müller und Stanišić sind an ihm vorbei gestartet und Muisala hinter ihnen her, sodass Müller jetzt ganz vorne im rechten Halbraum an der Schnittstelle zwischen zwei Verteidigern steht und Stanišić ganz rechts außen. Musiala und Pavlović haben in der Mitte viel Platz und Tel und Guerreiro hängen auf der Gegenseite ein wenig zurück. Gnabry kann den unbedrängten Pavlović in offener Stellung problemlos anspielen.
Trotz vorbereitungstypischer Missverständnisse zwischen Pavlović und Musiala kann er den leicht verunglückten Ball problemlos zu Tel bringen. Acht Londoner stehen jetzt nicht weiter aufgefächert als die Breite des Fünfmeterraums und doch kann Tel den Ball fast an die Kante von ebendiesem für Gnabry servieren, dem der Abschluss allerdings misslingt. Die große Welle nach außen und die Läufe von Gnabry und Müller ins Zentrum haben Tottenhams gesamte Formation wie eine Ziehharmonika zusammengezogen.
Das Nachrücken bei diesem FC Bayern ist kein Zufallsprodukt. Kein Spieler entscheidet isoliert und spontan, sich in den Angriff einzuschalten. Stattdessen ist klar definiert, wie Spieler den Weg für andere freimachen und mehrere gemeinsam eine Angriffswelle bilden.
7. Grundlegende Anpassungen
So ausgeklügelt das Münchner System ist, so sehr ist allerdings dann doch auch kein steifes Korsett, sondern diverse Variationen sind in ihm bereits angelegt. Wir haben bereits die Dreierkette und einige damit verbundene andere Abwandlungen gewürdigt. Auch in Verbindung mit der Dreierkette und diesen Abwandlungen steht die genaue Ausgestaltung der Angriffsreihe. Diese kann entweder symmetrisch strukturiert sein mit Flügelstürmern und zentralen Stürmern, die jeweils spiegelbildliche Aufgaben erfüllen, oder sehr asymmetrisch. Im Angriffspressing etwa können es entweder beide Flügelstürmer sein, die in vorderster Reihe pressen, wie nicht selten gesehen, oder ein Flügelstürmer und ein zentraler. Auch beide zentralen Spieler sind denkbar. Die Variationen gehen so weit, dass man manchmal eher von einer Viererreihe sprechen kann, manchmal auch eher von einem 1-3 mit einem echten Zehner hinter mehr oder weniger drei Angreifern.
Ein großes Fragezeichen steht weiter noch hinter der Rolle von João Palhinha. Der FC Bayern verfügt über drei ausgesprochen verschiedene Spieler für zwei zentrale Mittelfeldrollen. Das bedeutet allerdings auch, dass Palhinha kein natürlicher 1-zu-1-Ersatz für auch nur einen der beiden Sechser darstellt. Mit Konrad Laimer steht dagegen jemand zur Verfügung, der wohl Kimmich oder Palhinha brauchbar rollengetreu ersetzen kann. Anders als Laimer ist Palhinha allerdings so etwas wie der, wenn auch verzögerte, Königstransfer dieses Sommers, wenn man diese Krone nicht Michael Olise aufsetzen möchte. Palhinha bietet sich an als taktische Variation insbesondere für Spiele, in denen der FC Bayern nicht davon ausgehen kann, das Spielgeschehen zu dominieren. Taktisch eine bequeme Situation für die Münchner, wenn auch möglicherweise weniger in Bezug auf die Zufriedenheit der Spieler.
Eine weitere taktische Option, die sich organisch aus dem angelegten Grundgerüst ableiten lässt und punktuell mitgedacht schien, ist eine etwas verzogene Rautenstruktur und mithin ein 3-Raute-3, bei dem vorzugsweise Kimmichs Position im rechten zentralen Mittelfeld stärker zu einer Halbposition wird und vorzugsweise Guerreiro auf der linken Seite entsprechend ein Stück einrückt, während ein zentraler Angreifer, wie bereits oben beschrieben zum Zehner wird und die Flügelstürmer einen größeren Teil ihrer Arbeit tatsächlich auf dem Flügel erledigen. Damit würden auch zwei echte Halbverteidiger entstehen, die sich häufiger auf ihrer Seite mit nach vorne einschalten.
Fazit
Der FC Bayern hat jetzt ein System, das größer ist als die Einzelspieler und bei dem wirklich konsequent alle Teile aufeinander abgestimmt sind. Das bedeutet nicht nur, dass jede Rolle zu den Rollen um sie herum passt, sondern auch jeder Spieler zu seiner Rolle und zu den Spielern um ihn herum. Das sind gute Nachrichten für alle Bayernfans. Es dürfte auch in großen Spielen nicht mehr das Neutralisieren der gegnerischen Pläne im Mittelpunkt stehen, sondern die Entfaltung des eigenen Spiels.
SZ nennt Adolfo Valencia weiterhin konsequent den “Bayern-Express”, anstatt den “Entlauber”, egal was Uli H. darüber denkt, und ist außer Podcaster a.D. (Super Bayern Podcast) auch Germanist.
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