Der englische Mut ist ein zartes Pflänzchen – LB
Am Sonntag trafen Spanien und England im Finale der Europameisterschaft 2024 aufeinander. Welche taktische Umstellung in der Halbzeitpause brachte England aus dem Konzept? Wie schaffte es England den Ausgleich zu erzielen und wie konnte Spanien dieses Finale letzten Endes für sich entscheiden? Das alles lest ihr in diesem Artikel.
Spanien bestimmt den Beginn
Die ersten rund 15 Minuten des Spiels sind vom spanischen Ballbesitz geprägt. Spanien baute im 4-3-3 auf. Die beiden Außenverteidiger Marc Cucurella und Daniel Carvajal schoben dabei häufig sehr hoch und rochierten gegebenenfalls auf dem Flügel mit Nico Williams beziehungsweise Lamine Yamal. Die beiden Youngster ließen sich dabei hinterlaufen und schoben auch gerne etwas in die Mitte. Im zentralen Mittelfeld gab Rodri den alleinigen Sechser und orientierte sich entweder vor den beiden Innenverteidigern oder ließ sich für den Spielaufbau neben oder zwischen die beiden fallen. Oftmals half auch einer der beiden Außenverteidiger (meistens Cucurella) beim Spielaufbau und schob erst anschließend offensiv nach vorne. Fabián Ruiz agierte im Gegensatz zu Rodri etwas offensiver. Dani Olmo bewegte sich zwischen der englischen Viererkette und den Sechsern meist etwas hinter Alvaro Morata, teilweise aber auch auf derselben Höhe.
Die Engländer liefen im 4-2-3-1 an und verteidigte situativ auch im 4-4-2. Beim Anlaufen war Kane für die beiden spanischen Innenverteidiger zuständig, allerdings geling es ihm selten ernsthaft Druck auszuüben, noch den Spielaufbau der Spanier auf eine Seite zu lenken. Hinter Kane hat Phil Foden in der ersten Halbzeit die Aufgabe, Rodri in Manndeckung zu nehmen. Dies gelang dem Engländer größtenteils gut und Spanien verlagerte den Spielaufbau häufig auf Le Normand, Laporte, Cucurella oder Fabián. Bukayo Saka und Jude Bellingham hatten gegen den Ball jeweils die Aufgabe, Cucurella beziehungsweise Carvajal anzulaufen. Im tieferen 4-4-2 Block halfen die beiden dann auch dabei Nico Williams und Lamine Yamal zu verteidigen. Die Spanier fanden in der ersten Halbzeit gegen die englische Verteidigung wenig Mittel. Die einzigen gefährlichen Situationen entstanden, wenn einer der beiden spanischen Innenverteidiger über die Mittellinie in den Achterraum dribbelte. Dies war möglich, weil Kane nur einen der beiden anlaufen konnte und Foden mit Rodri beschäftigt war. Kobie Mainoo oder Declan Rice mussten den gegnerischen Innenverteidiger dann aufnehmen und es entstand wiederum Raum für Fabián oder für die einrückenden Yamal und Williams. Allerdings konnte Spanien auch aus diesen Situationen in den ersten 45 Minuten nur einmal wirklich Torgefahr entwickeln, und zwar kurz vor der Halbzeit, als Aymeric LaPorte andribbelt und einen Steckpass auf Morata spielen kann. Das englische Bollwerk funktionierte in der ersten Halbzeit und Spanien fand selten einen Weg vor das gegnerische Tor zu kommen, allerdings bedeutete die englische Taktik auch sehr viel Laufarbeit, insbesondere für Phil Foden.
Erste englische Ballbesitzphase
Nach einer Viertelstunde gibt es die erste etwas längere Ballbesitzphase von England. Idealerweise will England aus einem 3-2-5 aufbauen mit Guéhi, Stones und Kyle Walker in der Dreierkette und Rice und Mainoo als Sechser. Währenddessen positionieren sich der linke Außenverteidiger Luke Shaw und Bukayo Saka sehr hoch und breit. Bellingham und Foden bespielen die offensiven Halbräume und Kane bewegt sich in der Sturmspitze. Allerdings tut sich England in der kompletten ersten Halbzeit und bis zum Gegentreffer kurz nach der Halbzeit extrem schwer mit einem kontrollierten Spielaufbau. Spanien läuft im 4-1-3-2 an und presst die englische Mannschaft gewohnt sehr hoch. England findet nur sehr selten einen Weg, sich aus diesem Pressing zu befreien, da sie sich im zentralen Mittel meist in Gleich- oder Unterzahl wiederfanden und daher oft nicht mal versuchten, spielerische Lösungen zu finden. Deswegen wusste sich Jordan Pickford oftmals nur mit langen Schlägen zu helfen, die allerdings so gut wie immer in einem Ballverlust endeten. Später in der ersten Halbzeit versucht sich Bellingham vermehrt fallen zu lassen, um den Spielaufbau zu unterstützen, aber auch dass stellt keine großartige Hilfe dar. Die Probleme beim Spielaufbau führen dazu, dass die Engländer in der ersten Halbzeit wenig längere Ballbesitzphasen verbuchen können. Ihre Angriffe leiten sie zumeist über die Seite von Saka ein, der allerdings von Spanien recht einfach isoliert werden kann, da der Rest vom englischen Angriffsquartett wenige Laufwege anbietet, um die spanische Verteidigung auseinanderzuziehen. Auch das situative Fallenlassen von Harry Kane hilft daher nur wenig. So schaffte es England in der 1. Halbzeit kaum Torgefahr auszustrahlen.
Taktische Umstellung in der Halbzeit
Und wie der Fußball manchmal eben so ist, führte ausgerechnet die verletzungsbedingte Auswechslung vom Spieler des Turniers zu der taktischen Umstellung, die es England im zweiten Durchgang schwer machte, Zugriff auf das zentrale Mittelfeld von Spanien zu bekommen. Für den angeschlagenen Rodri wechselte Luis de la Fuente in der Halbzeit Martin Zubimendi ein. Infolgedessen bildete der 25-Jährige von Real Sociedad eine klassische Doppelsechs mit Fabián Ruiz, der zuvor etwas offensiver agierte, als Rodri noch auf dem Feld stand. In der ersten Halbzeit spiegelte England noch das spanische Mittelfeld, indem Foden Rodri in Manndeckung nahm und Rice und Mainoo sich um Fabián und Olmo kümmern konnten. Nach der Umstellung verlor Foden seinen Bezugspunkt und rückte im Verlauf des Spiels immer wieder durch bis zu den spanischen Innenverteidigern, um diese zusammen mit Kane anzulaufen. Gleichzeitig schob Mainoo durch, um Fabián beim Spielaufbau zu stören. Dies wiederum resultierte in zwei Dingen: Zum einen musste Declan Rice jetzt sehr viel Raum vor der eigenen Viererkette verteidigen (dazu später mehr) und zum anderen verschaffte sich Fabián von Zeit zu Zeit Raum, indem er sich auf die Höhe seiner Innenverteidiger fallen ließ, so auch vor dem Führungstreffer der Spanier.
Spanien trifft zum 1:0
Fabián steht auf der Höhe von Laporte und Le Normand und bekommt den Ball. Foden läuft ihn an, währenddessen steht Jude Bellingham etwas verloren hinter ihm, weil er nicht weiß, ob er Fabián oder Carvjal decken sollte. Letztendlich verpasst er es, den Passweg zu Carvajal zu schließen, der aufgerückt an der Seitenlinie steht. Carvajal bekommt den Ball und spielt direkt weiter auf Yamal, der sich etwas zentraler positionierte und freisteht, weil Luke Shaw Carvajal anlaufen wollte. Jetzt hat Yamal vor dem Sechzehner der Engländer etwas Platz zum Dribbeln. Diesen Platz hat er, weil sich Mainoo zuvor beim eröffnenden Pass von Fabián Zubimendi orientiert und Rice kurz darauf etwas nach links in Richtung Carvajal verschob und dadurch Raum vor der eigenen Abwehrkette frei wird. Yamal hat also den Ball vor dem Strafraum Englands und dribbelt Richtung Mitte und Richtung Tor, währenddessen verschiebt Guéhi etwas zu spät in seine Richtung, um ihn nicht in die Box dribbeln zu lassen und jetzt sind zwei Tiefenläufe Spaniens tödlich für England. Sowohl Morata als auch Olmo sprinten in die englische Box und ziehen Stones beziehungsweise Walker mit sich. Dadurch, dass sich Kyle Walker entscheidet, Olmo zu decken, ist seine Seite völlig frei und Yamal kann auf den frei stehenden Nico Williams passen, der zur 1:0 Führung trifft. Ob Walkers Entscheidung mit Olmo mitzugehen richtig ist, lässt sich meiner Meinung nach nicht endgültig beantworten. Es kann sein, dass Stones Olmo noch zugelaufen bekommt, es kann aber genauso gut sein, dass Olmo völlig frei zum 1:0 einschiebt, wenn Walker nach außen zu Williams läuft. Grundsätzlich entsteht dieses Tor vielmehr durch die schlechte Zuteilung im englischen Mittelfeld (Foden läuft den tief stehenden Fabián an, Bellingham ist unsicher, wo er am besten stehen sollte, Mainoo rückt bis auf Zubimendi auf, während Rice den kompletten Raum vor der eigenen Kette allein verteidigen muss, dabei allerdings etwas zu weit nach außen verschiebt).
England erwacht… und schläft wieder ein
Nach dem Rückstand bleibt England gegen den Ball dabei, dass Mainoo und Foden Fabián und Zubimendi anlaufen und Rice als alleiniger Sechser vor der Viererkette agiert. Das führt auch weiterhin zu Problemen. Kurz nach dem 1:0 kommt Olmo im Strafraum zum Torschuss und in der 55 Minute nutzt Yamal den Raum vor der englischen Abwehrkette, um recht ungestört einen Steckpass auf Morata zu spielen, der fast zum 2:0 trifft. Mit dem Ball entdeckt England allerdings erstmals in diesem Finale seinen Mut und spielt deutlich besser. Sie wagten von nun an endlich den Versuch, sich spielerisch aus dem spanischen Pressing zu befreien und waren damit erfolgreich. Zudem hatten sie deutlich mehr Bewegung in ihrem Aufbau und auch nach einem Ballgewinn spielten sie schneller und direkter nach vorne. Des Weiteren haben sie in der Zeit zwischen dem 0:1 (Min. 47) und dem Ausgleich (Min. 73) ihre längsten Ballbesitzphasen, in denen sie auch sehr weit nach vorne schieben. England bekommt mehr Dynamik in ihr Spiel durch Seitenverlagerungen, mehr Läufe in die Box und Mainoo, der offensiver agiert als zuvor. Spätestens seit der Einwechslung von Ollie Watkins (Min. 60 für Harry Kane) suchten sie auch deutlich häufiger den vertikalen Pass in die Schnittstellen. In dieser Drangphase belohnen sich die Engländer dann auch mit einem Tor durch Cole Palmer. Der 22-Jährige vom FC Chelsea kam kurz zuvor für Mainoo. Bellingham rückte nun neben Declan Rice, während Palmer zusammen mit Foden die offensiven Halbräume bespielte. Der englische Ausgleich entsteht durch ihr schnelles Umschalten nach einem Abschluss von Spanien. Cucurella rückt sehr weit raus, um Bellingham in der englischen Hälfte anzulaufen, der die Situation allerdings über den dritten Mann auflösen kann und der Ball kommt genau in den Raum, den Cucurella nun offen gelassen hat: Zu Saka auf die rechte Seite. Der konnte in den spanischen Strafraum dribbeln und auf Bellingham zurücklegen, weil Spanien noch unsortiert ist. Bellingham wiederum legt auf Palmer zurück, der vor dem Strafraum völlig frei steht und aufs Tor schießen kann.
So gut und so mutig wie England nach ihrem Rückstand spielte, so schnell verloren sie ihre Risikobereitschaft allerdings auch nach ihrem Tor wieder. Offensiv sah man erneut häufiger die langen Schläge von Pickford anstatt kontrolliertem Spielaufbau und auch nach Ballgewinnen rückte England nicht mehr mit voller Entschlossenheit nach vorne. Außerdem überließen sie vermehrt Spanien den Ball und ließen sich in einen 4-4-2 Block fallen. Dadurch schlossen sie die großen Lücken vor der eigenen Viererkette, mit denen sie sich so oft in der zweiten Halbzeit in Schwierigkeiten gebracht hatten. Aus diesem 4-4-2 wurde situativ auch ein 5-3-2, weil sich Saka auf der rechten Seite stark an Cucurella orientierte und sich in die letzte englische Kette fallen ließ, wenn Cucurella sehr weit nach vorne schob. Diese Druckphase von Spanien hielt rund zehn Minuten an und endete im Siegtreffer. Nach einem Einwurf in der eigenen Hälfte konnten die Spanier das halbgare Pressing Englands sehr einfach überspielen. Weder Fabián noch Olmo werden richtig unter Druck gesetzt und können völlig ungestört den Ball annehmen und bis zu Oyarzabal weiter passen. Währenddessen trabt Saka auf der rechten englischen Seite zurück und verliert Cucurella völlig aus den Augen, der in seinem Rücken die Seitenlinie hochläuft. Womöglich fehlten Saka aber auch die Kräfte, um in der 86 Minute noch einmal diesen Laufweg mitzugehen. Gleichzeitig will Walker im Mittelkreis Olmo anlaufen, weil weder Rice noch Bellingham sich trauen aus ihrer defensiven Position vor der Viererkette herauszurücken (siehe rot markierter Bereich in der Abbildung: Sehr viel Platz für Olmo und Fabián). Oyarzabal kann deswegen auf den freien Cucurella passen und läuft anschließend selbst in den Sechzehner. Walker versucht zwar Cucurella noch an seiner Hereingabe zu hindern, aber ist bereits zu weit weg. Oyarzabal kann dann zum 2:1 einschieben, weil Stones sich nicht für ihn verantwortlich fühlt und Guéhi ebenfalls ein Schritt zu spät kommt.
Fazit
Spanien gewinnt dieses EM-Finale verdient. Zum einen, weil sie die Chancen, die sie sich herausspielten, besser ausnutzten und zum anderen, weil sie das Spiel mit der wichtigen taktischen Umstellung in der Halbzeitpause mehr in ihre Richtung lenken konnten. Zu dieser Geschichte gehört allerdings genauso sehr die beliebte Frage: „Was wäre, wenn?“. Was wäre, wenn England früher aus ihrem defensiven Tiefschlaf aufgewacht wäre? Was wäre, wenn England über das gesamte Spiel mehr Risikobereitschaft gezeigt hätte? Was wäre, wenn sie nach ihrem Tor weiter so gespielt hätten wie in der Zeit, als sie auf den Ausgleich drückten? Dem englischen Team wurde das komplette Turnier über vorgeworfen, hinter ihren Möglichkeiten zu bleiben und zu sehr auf Sicherheit bedacht zu sein. In vier K.O Spielen lag England in diesem Turnier vier Mal hinten. Vier Mal konnten sie den Ausgleichstreffer erzielen. Drei Mal konnten sie das Spiel sogar noch gewinnen. Wenn England bei dieser Euro Risiko in Kauf nahm, so wie nach ihren Rückständen, als sie dazu gezwungen waren, überzeugten sie. So auch im Finale. Allerdings reichte hier die Zeit am Ende nicht mehr, um sich erneut über Wasser zu halten. Am Ende bleibt das Finale (und ehrlich gesagt die gesamte Europameisterschaft 2024) aus englischer Sicht leider ein großes „Was wäre, wenn?“.
Autor: LB – Bei Twitter unter @GermanGOAT zu finden
2 Kommentare Alle anzeigen
Taktik-Ignorant 22. Juli 2024 um 16:42
Vielen Dank für den zweiten Artikel zum Finale, der m.E. recht gut die verschiedenen Phasen im Spiel beschreibt. Ein paar kleine Ergänzungsvorschläge meinerseits:
Dass das Spiel in der ersten Halbzeit recht ausgeglichen und relativ ereignisarm verlieft, lag neben der beschriebenen gegenseitigen Neutralisierung auch in 2-3 Szenen an für diese Mannschaft eigentlich unüblichen unsauberen Abspielen im letzten Drittel. Diese Unsauberkeiten waren vielleicht dem Umstand geschuldet, dass die Engländer gegen die spanischen Angreifer meist sehr eng verteidigten und ihre Gegenspieler, wenn sie den Ball erhielten, früh unter Druck setzen konnten, und die Spanier in manchen Momenten gar nicht damit rechneten, so frei zu sein, wie sie es in dem Moment waren. Vielleicht war es aber auch die späte Turnierphase am Ende einer für alle (zu) langen Saison, und die Spieler waren einfach müder und deswegen etwas langsamer in der Entscheidungsfindung und unpräziser in der Ausführung.
Zum ersten spanischen Tor: Ich würde es Walker nicht unbedingt anlasten, dass er einrückt und den Gegner außen frei stehen lässt. Wenn die Abwehrspieler in der letzten Linie in Unterzahl geraten, sollten sie die Spieler decken, die für das eigene Tor am gefährlichsten sind. Olmo und Morata liefen halt, als Yamal nach innen dribbelte, zentral vor das englische Tor, während Williams von der Seite kam. Olmo und Morata hätten einen besseren Schusswinkel und damit einen leichteren Abschluss gehabt als Williams, der aus etwas spitzem Winkel schießen musste und zu seinem Glück den Ball gut traf.
Was schließlich die englische Offensivphase bis zum eigenen Treffer anbelangt, möchte ich die Beobachtung im Artikel herausstellen, dass die englische Drangphase nicht sofort nach dem Rückstand einsetzte. Vielmehr hatte Spanien danach seine beste Phase mit weiteren guten Abschlussmöglichkeiten, weil die Engländer sich zwar weiter vorne postierten, hinten aber sehr viele Lücken ließen. Das wurde dann in den 10 Minuten vor dem englischen Treffer besser, wo von Spanien nichts mehr kam. Diese Drangphase endete jedoch sofort mit dem englischen Ausgleich, was vermutlich mehr eine Kopfsache bei den Engländern war; jedenfalls haben sie nicht einmal versucht, das Momentum beizubehalten und weiter zu drängen, obwohl die Spanier in den Minuten zuvor mächtig ins Schwimmen gekommen waren.
Taktik-Ignorant 22. Juli 2024 um 16:45
Ergänzung zum ersten Satz nach dem Doppelpunkt: die „unsauberen“ Abspiele beziehen sich auf spanische Offensivaktionen.