Die Türken fordern ihr Glück zu sehr heraus – NK
Das Spiel Niederlande gegen Türkei versprach eine spannende Begegnung zweier Mannschaften, die im Laufe dieses Turniers auf ihre jeweils eigene Art zumindest ein wenig mehr begeistern konnten als viele ihrer auf Risikovermeidung bedachten Konkurrenten. Die Niederländer haben mit ihrem Ballbesitzspiel im Achtelfinale überzeugt, bei den Türken haben einige Einzelspieler beeindruckt und Coach Vincenzo Montella hat im Laufe des Turniers ein paar spannende taktische Kniffe ausgepackt. Die von Montella gewählte Herangehensweise passte auch im Viertelfinale für lange Zeit, die Türken brachten sich in der zweiten Halbzeit aber ein Stück weit selbst um den verdienten Lohn.
Niederländisches Ballbesitzspiel: Stets bemüht
Bei den Aufstellungen ergaben sich keine Überraschungen. Ronald Koeman setzte auf das bekannte 4-2-3-1 und die Erfolgself aus dem Achtelfinale. Montella musste aufgrund von Sperren erneut Veränderungen vornehmen, blieb aber bei dem gegen die Österreicher erstmals bei dieser EM gewählten 5-2-3 als Grundformation. Hakan Calhanoglu rückte nach abgesessener Sperre zurück in die Startelf und bildete zusammen mit Salih Özcan die Doppelsechs.
Gegen das 5-2-3 der Türken taten sich die Niederländer im Ballbesitz zunächst deutlich schwerer als gegen das 4-1-4-1 der Rumänen im Achtelfinale. Die Türken stellten die Abstöße der Niederländer im mannorientierten 1-gegen-1-Pressing zu, zogen sich ansonsten aber in ein tiefes Mittelfeldpressing zurück. Der Fokus lag dabei auf dem Schließen des Zentrums und dem Einengen der Kreise von Xavi und Steven Bergwijn, welche die Niederländer im Achtelfinale noch häufig zwischen den Linien finden konnten. Aus dem gewohnten 3-2-Aufbau gelang dies den Niederländern in der ersten Halbzeit nur sehr selten. Stattdessen ergaben sich besonders zu Beginn immer wieder Szenen, in denen sich Xavi oder Bergwijn neben den zentralen Block der Türken bewegten oder bewegen mussten, um sich anspielbar zu machen. Die türkischen Halbverteidiger reagierten auf diese Bewegungen zunächst nur zögerlich und verfolgten ihren Gegenspieler so lange nicht, wie diese sich außerhalb des türkischen Blocks befanden.
Stattdessen fühlten sich die Türken durchaus wohl damit, innerhalb der eigenen Verteidigungsstruktur zu bleiben und die Niederländer um diese Struktur herum spielen zu lassen. Xavi und Gapko schafften es in der Anfangsphase zwar zweimal, sich trotz numerischer Unterlegenheit vom linken Halbraum oder Flügel in den Strafraum zu spielen, konnten darüber hinaus aber nur wenig Gefahr kreieren.
Vereinzelt ist es den Niederländern auch gelungen, Bergwijn halbrechts anzuspielen und von dort zurück ins Zentrum zu verlagern. Jerdy Schouten zeigte dabei hin und wieder ein gutes Gespür für den Raum und die Dynamik der Situation und lief sich zwischen der ersten und zweiten Pressinglinie der Türken so frei, dass er mit Blick zum gegnerischen Tor angespielt werden konnte.
Im weiteren Verlauf wurde aus der 5-2-3-Struktur der Türken aber immer mehr ein 5-4-1, sodass die Räume neben den Sechsern der Türken immer kleiner wurden. Xavi und Bergwijn hatten dadurch weniger Ballaktionen, dafür wurde der Druck auf die niederländischen Halbverteidiger und Sechser geringer. Das Problem der Elftal blieb aber auch in dieser Konstellation dasselbe: Sie haben es zu selten geschafft, die eigenen Spieler im Zwischenlinienraum zu finden.
Die Elf von Koeman verpasste es in dieser Phase vor allem, die Sechser mehr als Wandspieler zu nutzen und mit kurzen Pässen zwischen Innenverteidigern und Sechsern die türkischen Zentrumsspieler etwas aus ihrer Position zu locken. Dies hätte die Räume zwischen Abwehr- und Mittelfeldkette der Türken zumindest etwas größer werden lassen und mehr erfolgreiche Anspiele im Zwischenlinienraum ermöglicht. Die Bereitschaft, die entsprechenden Pässe durchs Zentrum zu spielen, war, anders als bei vielen anderen Mannschaften bei der EURO 2024 durchaus vorhanden. Die entsprechenden Räume dafür gaben die Türken allerdings bewusst nicht her und die Niederländer konnten solche nicht für sich schaffen.
Die Türkei sucht den langen Ball
Der türkische Plan für die eigenen Ballbesitzphasen ging dagegen deutlich besser auf. Auch die Niederländer nutzten bei gegnerischen Abstößen Mannorientierungen über das gesamte Feld. Die Türken störte dies wenig. Ihr Plan war es sowieso zunächst, den Ball möglichst schnell und weit in die gegnerische Hälfte zu befördern, unabhängig davon, ob die Niederländer hoch anliefen oder nicht. Dabei versuchte die Elf von Montella regelmäßig, Gleichzahl gegen die Viererkette der Niederländer und somit ein 4-gegen-4 herzustellen, gleichzeitig aber auch möglichst viel Breite in der letzten Linie herzustellen.
Der rechte Schienenspieler Mert Müldür rückte zumeist bis an die niederländische Viererkette, dazu suchten zumindest Baris Yilmaz zentral und Kenan Yildiz weit links die Tiefe, während der vierte Spieler variierte. Oft war dies mit Arda Güler der letzte nominelle Offensivspieler der Türken. Güler hatte allerdings auch sehr viele Freiheiten auf dem Platz und konnte sich auf der rechten Spielfeldseite positionieren, wo er wollte. Manchmal sah man ihn an der rechten Seitenauslinie, noch häufiger fiel er bis in den Sechserraum neben Calhanoglu zurück.
Die Freirolle von Arda Güler
Wenn Güler sich in den Sechserraum hat fallen lassen, war es zumeist Özcan, der nach vorne rückte und die letzte Linie der Niederländer als vierter türkischer Spieler beschäftigen sollte. Der Vorteil dieser Positionsrochade war zum einen, dass die Türken so im Sechserraum mit Calhanoglu und Güler zwei extrem ballsichere Spieler positionierten und so auch etwas ruhige Ballzirkulation für sich selbst ermöglichten. Zum anderen führte die Positionsrochade von Güler und Özcan immer wieder zu Zuordnungs- und Übergabeproblemen bei der Elftal.
Da die Niederländer zum einen mit einer recht hohen Abwehrkett spielten, zum anderen aber aus ihrem 4-4-1-1 Mittelfeldpressing nur wenig Druck auf die türkischen Innenverteidiger ausübten, ergaben sich für die Türken eine Vielzahl an Möglichkeiten, den Ball direkt hinter die Kette zu suchen. Zu verdanken war es der enormen individuellen Qualität und Geschwindigkeit in der niederländischen Viererkette, dass die Türken sich trotzdem keine ganz klaren Torchancen erspielen konnten. Sie schafften es mit ihrem Ansatz trotzdem immer wieder, längere Ballbesitzphasen zu kreieren, sich zeitweise in der niederländischen Hälfte festzusetzen und für ein insgesamt ausgeglichenes Spiel zu sorgen, in dem man nach der ersten Halbzeit auf ca. 47 % Ballbesitz kam. Das Tor fiel zwar in der Folge einer Ecke, von denen man sich in der ersten Halbzeit allerdings auch bereits vier erspielen konnte. Die Niederländer hatten dagegen zu dem Zeitpunkt noch keine Ecke auf dem Konto.
Fehlende Anpassungen und doch ein anderes Spiel
Nach dem Seitenwechsel verpassten es die Türken allerdings, diese Qualitäten weiter auf den Platz zu bringen. Es liegt ein Stück weit in der Natur des Spiels, dass die Dominanz eines in Rückstand liegenden Favoriten in der zweiten Halbzeit nur noch größer wird, die Ballbesitzwerte steigen und mehr Torraumszenen entstehen. Die Türken haben allerdings bereits im Viertelfinale gegen die Österreicher nach eigener Führung einen sehr passiven Ansatz gewählt und auch dort nur mit etwas Glück den Sieg über die Zeit bringen können. Gegen die Niederlande haben sie dieses Glück vielleicht überstrapaziert.
Doch der Reihe nach: Koeman brachte zur Halbzeit Wout Weghorst für Bergwijn, an der grundsätzlichen Ausrichtung beider Teams änderte sich aber nichts. Die Türken verteidigten weiterhin primär im 5-4-1, die Probleme der Niederländer blieben dieselben. Große taktische Anpassungen hatte der Bondscoach auch nicht anzubieten. Nathan Ake schob im Aufbau immer mal wieder hoch und löste so den Dreieraufbau auf, der nun im rechten statt im linken Halbraum spielende Simons suchte bei Ballbesitz von Rechtsverteidiger Denzel Dumfries mehr die Tiefe als es sein Vorgänger Bergwijn tat. So konnte man den türkischen Block manchmal etwas mehr zurückdrängen und Räume in der Mitte öffnen. Wie eine bewusste Anpassung wirkte letzteres aber nicht, dafür waren entsprechende Muster viel zu selten zu sehen.
Viel größeren Einfluss hatte es, dass die Türken schon von ganz allein eine über weite Strecken tiefere Verteidigungsposition wählten als in der ersten Halbzeit. Dadurch, dass man oft nur noch die letzten 35 Meter vor dem eigenen Tor verteidigen wollte, erleichterte man der Niederlande genau den Fortschritt in der Ballzirkulation, der ihr zuvor so schwergefallen war und nach den nur marginalen Anpassungen von Koeman wohl auch weiter schwergefallen wäre. Nun kam die Niederländer dennoch oft ohne große Probleme schnell in die Spielfeldbereiche, aus denen sie z.B. Halbfeldflanken auf Weghorst schlagen konnte. Verbunden mit einem funktionierenden Gegenpressing sah die Türkei immer weniger vom Ball, die Niederlande dagegen kreierte immer mehr Torraumszenen und Standardsituationen und am Ende auch die zwei entscheidenden Tore.
Kurioserweise haben die Niederländer in der Folge ihres Führungstores in der 76. Minute quasi denselben Fehler gemacht. Koeman vermied es zwar – zum Unmut seines Kapitäns – mit den Einwechslungen von Frimpong und Zirkzee ausschließlich defensiv denkende Spieler einzuwechseln. Trotzdem schafften es die Niederländer in den letzten Minuten regelmäßig, mit sechs Spielern auf einer Linie den eigenen Strafraum zu verteidigen und jegliche Tiefenstaffelung vermissen zu lassen. Die Türken verstanden dies recht schnell und dribbelten zum Teil ohne Gegnerdruck bis weit in die gegnerische Hälfte, um von dort dann Hereingaben in den Strafraum schlagen zu können, aus denen mehrfach gute Abschlusssituationen entstanden. Ein Tor war ihnen allerdings nicht mehr vergönnt.
Fazit
Die Türken sind nicht die erste Mannschaft, die sich nach einem Spiel die Frage gefallen lassen muss, ob sie nicht nach einer Führung zu passiv geworden ist. Und sie werden auch nicht die letzte sein. Nur in diesem Turnier wird ihnen eine Antwort auf diese Frage nicht mehr helfen. Angesichts des spielerischen Vermögens und auch der wirklich spannenden Anpassungen an den jeweiligen Gegner ist das Ausscheiden vielleicht schade, in der Gesamtschau der Spielverläufe in Achtel- und Viertelfinale aber nicht unverdient.
Die Niederländer lassen sich bei dieser Europameisterschaft wiederum nicht so wirklich in eine Kategorie stecken. Koemans Herangehensweise ist weit weg von dem defensiven und risikovermeidenden Ansatz der Engländer oder Franzosen. Die Elftal hat unbestritten Qualitäten im Ballbesitzspiel und möchte diese auch aufs Feld bringen. Gleichzeitig fehlte es ihnen doch spürbar an Mechanismen, um ihren Plan auch umzusetzen. Die offensiven Lösungen, die der Bondscoach anzubieten hat, sind bei Weitem nicht auf dem Niveau der spanischen oder deutschen Nationalmannschaft. Der Einzug ins Halbfinale ist auf dem Papier mit Sicherheit ein Erfolg, ob man wirklich zu den vier besten Mannschaften des Turniers gehört, darf aber weiterhin bezweifelt werden.
Zum Autor
NK ist mit den Anfängen von Spielverlagerung zur Fußballtaktik gekommen und hat zunächst die Spiele seines Herzensvereins Schalke 04 analysiert. Die Leidenschaft für den Ruhrgebietsklub ist mittlerweile abgekühlt, die für Fußballtaktik allerdings nicht. Schaut jetzt aber lieber Ballbesitzfußball als Malocherfußball.
1 Kommentar Alle anzeigen
WVQ 9. Juli 2024 um 15:48
Schöner und inhaltlich wie sprachlich sehr klarer und gut nachvollziehbarer Artikel. An manchen Stellen habe ich mich lediglich gefragt, ob in dem Spiel taktisch wirklich nicht mehr passiert ist… aber das kann bei der generellen Herangehensweise von Koeman (und infolge ausbleibender Veränderungen von dessen Seite dann auch bei den Türken) gut einfach so gewesen sein, und zumal in einem Viertelfinale.
Eine Anregung hätte ich, die aber gar nicht allzu spezifisch zu diesem Artikel oder überhaupt den neuen Autoren ist: Manchmal fände ich es sehr hilfreich, wenn früh im Artikel nicht nur die jeweiligen Grundordnungen in Ballbesitz, sondern getrennt die offensiven gegen die defensiven Grundordnungen grafisch dargestellt würden. (Es sei denn es hatte eh nur eine Seite interessanten Ballbesitz, aber das ist meistens und u.a. ja auch hier nicht der Fall.) Das alles in einer Grafik mit Bewegungspfeilen zu vereinen, ist zwar irgendwie schick und Kicker-esque, aber ungleich weniger genau und oft auch nur bedingt nachvollziehbar. (Zumal man zwei Grundordnungen in Ballbesitz gleichzeitig auf dem Platz natürlich nie sieht.) Und selbst wenn im Text eigentlich alles beschrieben wird, machen Grafiken es immer nochmal anschaulicher und im übrigen auch leichter, im Zweifelsfall nochmal schnell hochzuscrollen und nachzuschauen oder mit einzelnen Szenenbildern zu vergleichen.