Individuell und gruppentaktisch überlegene Kroaten mit souveränem Sieg
Im Duell Bosporus gegen Balkan konnten die Kroaten aufgrund der besseren gruppentaktischen Abläufe und der höheren individuellen Qualität im Mittelfeldzentrum einen souveränen Sieg einfahren. Trotz der Stars im Mittelfeld kamen die Vatreni besonders über die Flügel zum Durchbruch. Die Türken enttäuschten insbesondere hinsichtlich Kompaktheit und Bewegungsspiel und konnten sich glücklich schätzen, nicht höher zu verlieren.
Im ersten Spiel der Todesgruppe D trafen die Kroaten mit den Superstars Luka Modrić und Ivan Rakitić auf die Türken, die große Hoffnung auf ihren Dribbelkönig Arda Turan legten. Um Letzteren zu stoppen, hatten sich die Kroaten eine spezielle Strategie überlegt. Der eher defensivere Flügelspieler Marcelo Brozović wurde als zusätzliche Unterstützung für Kapitän Dario Srna installiert. Zudem spielte Modrić etwas breiter, so dass Turan stets von drei Leuten umzingelt war. Dieses Mittel funktionierte. Der türkische Superstar fand nie ins Spiel und auch ein kurzer Tausch mit Hakan Çalhanoğlu auf der anderen Seite ermöglichte es ihm nicht, sich in Szene zu setzen.
Bemühte Türken und konternde Kroaten
Auch strategisch begannen die Mannen in Blau etwas zurückhaltender, so dass die Türkei zunächst ein Ballbesitzplus aufweisen konnte. Kroatien verteidigte die Angriffsversuche der Mannschaft Fatih Terims im kompakten 4-4-1-1, wobei Zehner Rakitić sich hinter Stoßstürmer Mario Mandžukić am türkischen Sechser Selçuk İnan orientierte. Aus der kompakten Stellung gab es ein weites Herausrücken von Modrić und Mittelfeldpartner Milan Badelj, die hier ihre Stärken in dem Timing und der Zweikampfführung beweisen durften. Balanciert wurden diese Bewegungen durch Rakitić, der sich daneben leicht zurückfallen ließ, um abzusichern, gegebenenfalls zu unterstützen und lose Bälle aus den direkten Zweikämpfen einzusammeln. Die Türkei baute das Spiel dagegen aus einem 4-3-3 auf, wobei durch das Vorrücken von Çalhanoğlu als hängende rechte Spitze auch häufig 4-1-3-2/4-1-3-1-1 hafte Staffelungen entstanden. Der Spielaufbau lief meist über Sechser Selçuk İnan, der häufig nach rechts auswich, um seinem Gegenspieler Rakitić zu entkommen. Bei Ballgewinnen der Kroaten schalteten diese schnell mit vertikalen Zuspielen die Flügel herunter um. Dabei konnten sie gegen die mannorientierte türkische Verteidigungsarbeit auf einfache gruppentaktische Elemente setzen. Auf Links ließ sich Perišić zurückfallen, um Rechtsverteidiger Gökhan Gönül herausziehen und so Räume für das Ausweichen Mandžukićs auf die Flügel zu öffnen. Ähnliche Bewegungen gab es auch auf Rechts, wobei die offenen Räume hier von Srna aus der Tiefe attackiert wurden.
Modrić übernimmt das Ruder
Nach etwa 20 Minuten konnten auch die Kroaten längere Ballbesitzzeiten verbuchen. Dabei nutzen sie eine Aufbaudreierkette, in der Srna deutlich höher schob als Nebenmann Ivan Strinić. Diese Asymmetrie hatte ein paar Vorteile gegen das nicht sehr kompakte 4-4-2/4-4-1-1 der Türken, welches durch situative Mannorientierungen geprägt war. Zu einem wurde durch die hohe Position Srnas Gegenspieler Turan nach hinten gedrängt, so dass Raum für das Herauskippen Modrićs geschaffen wurde. Aus dieser Lücke konnte der kroatische Superstar das Spiel ankurbeln und die gruppentaktischen Abläufe zwischen Brozović und Srna bedienen und unterstützen. Waren die Kroaten erst einmal aufgerückt, ließ sich die Türkei häufig mannorientiert in Fünfer- und Sechserketten zurückdrängen. Die Mannorientierungen nahmen im letzten Drittel nämlich noch einmal zu, so dass eine etwas chaotische Strafraumverteidigung zu beobachten war. Die tiefe zurückgedrängte Stellung erlaubte es der Vatreni, den Rückraum zwischen dem zweiten und dritten Drittel über Modrić und Badelj zu dominieren. Diese Dominanz kam den Kroaten auch beim Tor zu Gute, wobei die Direktannahme den Türken natürlich auch wenig Zeit zum Herausrücken ließ.
Die unkompakte, mannorientierte Spielweise der Türken war auch im Zentrum anfällig. Mehrfach gelang es Modrić und Rakitić, sich um den herausrückenden Gegenspieler zu winden, um anschließend riesige Räume vorzufinden. Allerdings konnten die eigentlich guten Abläufe der Offensivreihe in diesen Situationen nicht erfolgsstabil abgerufen werden, so dass die Türken diese Situationen durch ein Zusammenziehen der Abwehrkette auffangen oder zumindest auf die Flügel leiten konnten.
Terim reagiert
In der zweiten Hälfte war Fatih Terim gezwungen, seine Männer in Rückstand etwas offensiver aufzustellen. Insbesondere die zweite Hälfe der ersten Halbzeit hatten die Kroaten deutlich dominiert. Der glücklose und das Spiel seiner Mannschaft kaum prägende Oguzhan Özyakup musste das Feld für den Flügelspieler Volkan Şen verlassen. Die Türkei spielte zunächst gegen den Ball 4-1-3-1-1 mit alleinigem Sechser Selçuk İnan. Mit dem Ball rückte Arda Turan leicht vor in ein 4-3-3. Şen spielte die Rolle als linker Achter flügelorientierter als Vorgänger Ozan Tufan, der nun als rechter Achter agierte. Er entlaste Turan mit zusätzlicher Präsenz am Flügel und im Halbraum und erlaubte diesem ein freieres Bewegungsspiel. Als dieser auch trotz der zusätzlichen Unterstützung glücklos blieb, brachte Terim in der 65. Minute für ihn Burak Yilmaz, welcher im Folgenden neben Çenk Tosun als rechter Stürmer im 4-2-2-2 agierte. Darin nahmen Çalhanoğlu und Şen die Positionen als Hybrid aus Flügelspieler und seitlichem Zehner ein. Nur vier Minuten später gab es das EM-Debüt von Jungstar und BVB-Neuzugang Emre Mor, der nun als Vertretung von Tosun als Zehner im 4-2-3-1 spielte. Neben ihm tauschten Çalhanoğlu und Şen die Seiten.
Nach diesen Wechseln lief bei der Türkei viel über links, wo sich Çalhanoğlu tief am Flügel anbat, um das Spiel anzukurbeln. Aufgrund mangelnder Unterstützung konnte er jedoch leicht von den Kroaten am Flügel isoliert werden. Der junge Mor zeigte sich sehr umtriebig und schob aus der zentralen Grundposition weit zu den Flügeln, insbesondere nach rechts. Dort gab es auch die stärkste Aktion in der zweiten Hälfte beim Doppelhackenpass von ihm und dem jetzigen Rechtsaußen Şen. Ansonsten fehlten ihm jedoch durch fehlende Aktivität in seinem Umfeld die Rahmenbedingungen für seine starken Dribblings, so dass es im nicht gelang, vom Flügel bzw. Halbraum diagonale Aktionen zu starten. Insgesamt zeigte die Türkei eine verhältnismäßig gute Raumbesetzung, die sich jedoch durch fehlende Dynamik so gut wie nie entfalten konnte. Die Intensitätsverteilung der Türken war defensiv wie offensiv sehr unausgewogen – mal waren sie viel zu passiv bzw. statisch, um in anderen Situationen zu hektisch zu agieren bzw. uninspiriert hart insbesondere in Person von Şen in die Zweikämpfe zu gehen. Die Kroaten überzeugten weiterhin durch gute Kompaktheit und behielten somit das Zentrum in Person von Modrić und Badelj im Griff. So kamen die Vatreni zu einem souveränen Sieg, den sie bei besserer Chancenverwertung noch deutlich höher hätten gestalten können.
11 Kommentare Alle anzeigen
Peda 13. Juni 2016 um 09:58
Vielen Dank für die zahlreichen Analysen, die meiner Meinung nach längenmäßig optimal sind.
Aber Ivan Badelj? Da wird die RM aber noch auf die Finger klopfen dafür. 😀
TobiT 13. Juni 2016 um 15:39
Wollte ich auch gerade schreiben
TW 14. Juni 2016 um 00:20
Danke für den Hinweis, wurde korrigiert. Das kommt davon, wenn man die Analyse noch schnell vor dem Deutschland-Spiel abschickt 😉
Todti 13. Juni 2016 um 02:26
Ich konnte das Spiel leider nicht sehen, aber es klingt aus kroatischer Sicht grundsätzlich nach einer guten Kombination aus der Qualität des vorhandenen Spielermaterials und Anpassung an den Gegner. Nach dem Trainerwechsel der Kroaten hatte ich ein wenog Angst, dass das Potenzial vollkommen verschwendet wird, aber das scheint erstmal nicht der Fall zu sein.
Paule 13. Juni 2016 um 01:19
Schade, dass es keine Analyse zum Russlandspiel von euch gab.
Bei Neustädter auf der 6 müsste euch doch eigentlich das Herz aufgehen 😉
TW 14. Juni 2016 um 00:21
Auf SV.com gibt es eine Analyse: https://spielverlagerung.com/2016/06/13/england-russia-11/
Drklenk 13. Juni 2016 um 00:31
Fand die Offensivtaffelungen der Türkei schrecklich am Ende. Zwischenlinienraum nicht besetzt, keine Verbindungen, 20 Spieler hinterm Ball.
Selber dagegen es total versäumt, Kroatien auf den Flügeln festzudrücken, total unintensiv, keine leitenden Elemente, viel Raum zwischen den Linien.
Individuell aber ein paar gute Leute, Mor sah trotz der wenigen Aktionen und nicht vorhandenen Einbindung vielversürechend aus.
Dr. Acula 12. Juni 2016 um 22:37
Finds traurig dass diese EM offenbar alles über die Flügel läuft… Und außer Modric Fusballgott werden nicht mal die Rückrunde beim flanken besetzt… Ätzend
Dr. Acula 12. Juni 2016 um 22:38
Räume*
August Bebel 13. Juni 2016 um 17:14
Und über Standards natürlich! Wobei ich den Kroaten hier keinen Vorwurf machen würde, die haben vor allem in der 2. Halbzeit ein für meine Begriffe sehr gutes Spiel gemacht. Warum soll man nicht über Außen spielen, wenn Perisic gefühlt bei jedem Dribbling an Gönül vorbeikommt?
Atütata 12. Juni 2016 um 22:24
Könnte eig. mal auch ne Analyse zu POL-NIR kommen ? Ich fands taktisch ziemlich interessant, vor allem wie flexibel NIR verteidigt hat.