Teamanalyse Dynamo Kyivs 1975 anhand der Partie gegen den FC Bayern
Valeriy Lobanovskiy gilt bis heute als einer der Pioniere des Fußballs. Taktische und statistische Analysen, konsequente Einforderung von professioneller Disziplin und Teamwork, neue Erkenntnisse in der Trainingslehre, aber auch viele taktische Dinge wie die positionsorientierte Raumdeckung oder das organisierte Pressing mit unterschiedlichen Pressinghöhen und –intensitäten können auf ihn, Ernst Happel und Rinus Michels sowie einzelne Vorgänger (z.B. Branko Zebec oder Viktor Maslov) zurückgeführt werden.
In jenen 70er-Jahren entstand die Maßanfertigung für den modernen Fußball und Lobanovskiy war einer der Grundpfeiler jener Entwicklung, die sich erst mit Arrigo Sacchi sukzessiv und breitflächig im Weltfußball manifestierte. 1975 war dabei ein besonderes Jahr für den Fußball und Lobanovskiy persönlich: Sein Dynamo Kyiv gewann nicht nur als erstes Team der Sowjetunion einen großen europäischen Titel, nämlich den Pokal der Pokalsieger gegen Ferencvaros, sondern krönte sich im europäischen Supercup mit einem Triumph gegen den damals zweifachen Meisterpokalsieger Bayern München zum besten Team Europas.
Um diesen Sieg und somit auch die Fortschrittlichkeit Lobanovskiys zu verstehen, blicken wir in unserer Retroanalyse auf den Hinspielerfolg; ein überraschender 1:0-Auswärtssieg im Münchner Olympiastadion stellte die Weichen für den Gewinn des prestigeträchtigen Supercups.
Bayerns Aufstellung
Der Favorit und amtierende Meisterpokalsieger aus München startete mit einem 1-3-3-3-System, wie es für sie damals üblich war. Dabei spielten sie ohne Franz „Bulle“ Roth, Johnny Hansen, ohne Conny Thorstensson und auch ohne Uli Hoeneß, die verletzungsbedingt fehlten. Hoeneß, der im Vorjahr in 34 Spielen 28 Scorerpunkte erzielt hatte, wartete auf eine Meniskusoperation – es war jene Verletzung, die er sich im Finale gegen Leeds United zugezogen hatte und deren Nachwehen schließlich seine Karriere beenden würden.
Im Sturm erhielt auch deswegen der noch 19jährige Karl-Heinz Rummenigge auf rechts seine Chance, während links Klaus Wunder in die Mannschaft rückte. Beide spielten als relativ klassische Flügelstürmer, wobei Rummenigge einige Male aus diesem taktischen Schema ausbrach und diagonaler zum Tor hin orientierte. Der dribbelstarke Wunder hingegen klebte auf seiner Linie und suchte die Flanken. Auch im Zentrum gab es einige Veränderungen.
Jupp Kapellmann spielte als zentraloffensiver Akteur und wohl am ehesten als das, was man als „klassische Zehn“ bezeichnen würde. Er sollte die Mittelstürmer bedienen, ging immer wieder in die Halbräume und organisierte das Spiel, wobei er in diesem Aspekt ineffektiv war – das Mittelfeld von Kyiv verhinderte längere Zeiten am Ball und isolierte ihn oftmals vom Aufbauspiel, wodurch er kaum zum Tragen kam.
Auf der „Doppelsechs“, spielten Bernd Dürnberger, der ansonsten in der Verteidigung auflief, während Rainer Zobel hinter ihm vor Georg Schwarzenbeck und Franz Beckenbauer auflief. Dürnberger spielte einen sehr einfachen Ball: sichere Kurzpässe, Ballsicherheit und defensive Aufmerksamkeit gehörten zu seinen Stärken, doch nach vorne kam wenig von ihm. Auch Zobel konnte kaum überzeugen, hatte aber vorrangig defensive Aufgaben, wie auch die Außenverteidiger.
Diese gingen zwar situativ mit nach vorne und versuchten sich primär mit Halbfeldflanken (Udo Horsmann) oder Unterstützung im Mittelfeld (Josef Weiß), sollten aber defensiv sicher stehen. Weiß hatte im Meisterpokalfinale den Weltklassespieler Billy Bremner ausgeschaltet und spielte nun auf rechts gegen den linksorientierten Zehner von Dynamo Kyiv, nämlich Weltklasseakteur Leonid Buryak.
Horsmann auf links hatte es mit Petro Slobodyan zu tun, der als rechter Mittelfeldspieler immer wieder in die Spitze ging und sich als zweiter Stürmer neben Oleg Blokhin positionierte. Dieser wechselte von seiner Rolle als Mittelstürmer immer wieder auf die linke Seite, wo er situativ seine eigentliche Rolle als linker Flügelstürmer bekleidete. Schwarzenbeck verfolgte Blokhin dann, während Franz Beckenbauer sicher stand und dadurch den Bayern eine hohe defensive Stabilität verschaffte. Allerdings war diese Anordnung etwas improvisiert.
Die ursprüngliche Idee Dettmar Cramers
Horsmann war beispielsweise eigentlich als rechter Verteidiger geplant. Im Normalfall spielte bei Kyiv Buryak deutlich zentraler, Slobodyan war ein Edelreservist und Blokhin war eher halblinks vorgesehen. Zumeist hatte Blokhin eine Mischrolle aus linkem Flügelstürmer und einem Mittelstürmer, doch Lobanovskiy hatte bewusst umgestellt.
Darum musste Horsmann auf die linke Seite wechseln, um Slobodyan abzudecken – Weiß, der gegen Leeds wie erwähnt noch den zentraleren Bremner gedeckt hatte, musste also auf die für ihn ungewohnte Außenposition, was ihn in der Offensive sichtlich behinderte. Ein weiterer Dominoeffekt: Dürnberger, der Linksverteidiger, ging in die Mitte.
Lobanovskiy hatte damit schon eine Schlacht gewonnen, denn die Bayern mussten sich früh in der Partie stark anpassen und waren in ihrer offensiven Effektivität beschnitten. Gleichzeitig waren die Sowjets im Mittelfeld enorm kompakt.
Dynamo Kyivs 4-5-1/4-1-4-1/4-4-1-1
Wie man es vielleicht vermutet hatte: Dynamo spielte mit nur einem wirklichen Stürmer, nämlich dem Weltklassestürmer und eigentlichem Linksaußen Oleg Blokhin, der mitunter auch als das sowjetische Pendant zu Johan Cruijff bezeichnet wurde. Es gab durchaus gewisse Parallelen zwischen den beiden.
In einer Mannschaft voller hervorragender Spieler stachen sie beide hervor, sie hatten gewisse Freirollen in Offensive und Defensive, wodurch sie sich frei bewegen konnten. Gelegentlich sah man Blokhin im Aufbauspiel zurückfallen, einmal kippte er sogar zwischen Linksverteidiger Valeriy Zuyev und dem linken Innenverteidiger Stefan Reshko ab. Ansonsten fungierte er als umschaltender und ausweichender Stürmer, der Räume für Slobodyan und Buryak öffnen sollte. Eine falsche Neun, sozusagen.
Slobodyan rückte dabei auch in diese Rolle als verkappter Stürmer, weil der zweite Stürmer im eigentlichen 4-4-2 Kyivs, Vladimir Onishchenko, zweifacher Torschütze im Finale gegen Ferencvaros, fehlte. Nicht nur die Bayern hatten einige namhafte Ausfälle zu beklagen, Kyiv musste neben Onishchenko auch auf Vladimir Muntyan verzichten. Letzterer war ein großer Verlust, weil er defensiv wie offensiv sehr stark war, ungemein technisch stark und pressingresistent, wodurch er als box-to-box-Spieler im Mittelfeld sowie als Spielgestalter im zweiten Drittel für Gefahr sorgte.
Diese Aufgaben übernahmen in dieser Partie Anatoliy Konkov und Viktor Kolotov, welche vor der Abwehr agierten. Konkov war dabei der nominell defensivere Akteur und jeweils einer der beiden war der einzige Mittelfeldspieler, der sich bei den Kontern nicht miteinschaltete. Generell war er mit Linksverteidiger Zuyev und Innenverteidiger Reshko einer der wenigen, die sich offensiv zurückhielten. Besonders beeindruckend war neben Weltklasselibero und Spielgestalter im ersten Drittel Mikhail Formenko die Spielweise von Oleksandr Damyn.
Oleksandr Damyn, der offensive Rechtsverteidiger
Bereits in den späten Fünfzigern hatte sich in Brasiliens Nationalmannschaft langsam die Tradition des aufrückenden Rechtsverteidigers gebildet. Es war Carlos Alberto bei der Weltmeisterschaft 1970, der diese Rolle mit seinem Treffer gegen Italien im WM-Finale symbolisch perfektionierte. Fünf Jahre später schien Lobanovskiy dies kopiert zu haben, denn Damyn (eigentlich ein Mittelfeldspieler und Bankwärmer) begann auf der rechten Außenbahn und der eigentliche Rechtsverteidiger, Vladimir Troshkin, spielte überraschenderweise rechts im Mittefeld.
Dabei sicherte Troshkin immer wieder für Damyn bei dessen Vorstößen ab und übernahm seine Position. Konter konnten darum gegen Dynamo Kyiv kaum effektiv durchgebracht werden, während Damyn selbst bei eigenen Kontern gefährlich wurde oder im Aufbauspiel mit Dynamik nach vorne ging. Insbesondere mit den diagonalen Laufwegen Slobodyans und dem Wegziehen von Schwarzenbeck durch Blokhin auf die linke Seite sollten so Räume geschaffen werden.
Hierbei ist besonders auffällig und bewundernswert, wie abgestimmt die einzelnen Mechanismen im System Dynamo Kyiv unter Lobanovskiy waren. Troshkin erfüllte seine Rolle unauffällig, aber mit Bravour, Damyn wirkte keineswegs wie ein Bankdrücker und auch die Bewegungen der Stürmer an jene der Verteidiger waren überaus passend. Hinzu kam noch die Asymmetrie in dieser Spielweise, denn auf links gab es eine solche Organisation nicht.
Zuyev blieb tief und rückte selten auf, stattdessen verschob die Kette leicht in das entstehende Loch auf rechts und sicherte zusätzlich ab. Dies bedeutete nicht nur zusätzliche defensive Sicherheit, sondern auch offensive Freiheiten für die Schlüsselspieler. Blokhins Verschieben nach links und die Rolle von Buryak kamen dadurch situativ besser zum Tragen.
Buryak, die verkappte Nummer Zehn
Ein weiterer der Spieler von internationalem Format (im damaligen medialen Ansehen) war Leonid Buryak, eigentlich ein nomineller Zehner, allerdings wie die heutigen Kreativspieler mit enormer Laufstärke und Dynamik auf den ersten Metern ausgestattet. Und ähnlich wie viele moderne Zehner agierte auch er von der Seite aus – immer wieder rückte er von seiner breiten Position nach innen, spielte als Spielgestalter oder übte seine Kreativität direkt vom Flügel aus.
Für damalige Zeiten war das eine eher unübliche Rolle. Normalerweise spielten die Flügelstürmer relativ breit und hatten defensive wie offensive Aufgaben in den damals üblichen 4-3-3, 4-2-4 und 4-4-2-Systemen, die allesamt aus dem 4-2-4 stammten, die sich wiederum aus dem WM-System entwickelten. Kurz gesagt: Die eigentlichen Flügelstürmer wurden nach hinten gezogen und halfen hinten mit, wodurch Asymmetrien entstanden.
Eine Zehn auf dem Flügel gab es eigentlich selten. Solche Akteure gab es meist in Südamerika zu sehen, einmal mehr war Brasilien mit Roberto Rivelino als linkem Flügelstürmer bei der Weltmeisterschaft 1970 ein Vorreiter anderer Entwicklungen. Lobanovskiy führte dies weiter aus, er installierte ein asymmetrisches 4-4-2 mit Buryak als äußerem Flügelstürmer, der immer wieder gefährliche Läufe Richtung Tor startete und dadurch gegen die oftmals manndeckenden Gegensysteme Räume öffnete.
Kam Buryak über die Halbräume, gab es eine variable Besetzung des linken Flügels, welche von unterschiedlichen Spielern praktiziert wurde. Entweder einer der Sechser schob auf die Seite oder Blokhin ließ sich fallen, während Zuyev tief blieb. Dadurch gab es auch bei Verwaisen des Flügels, also einer NichtBesetzung zwecks zentralen Überzahlen, eine stabile Absicherung. In diesem Spiel hatte Rummenigge dadurch kaum eine Chance auf erfolgreiche Konter, was womöglich auch Lobanovskiys Ziel war. Doch Rummenigge war nicht der einzige Schlüsselspieler, der nur wenig Einfluss ausüben konnte.
Das Beckenbauer‘sche Aufrücken
Bis heute sind Franz Beckenbauers Ausflüge nach vorne aus seiner Libero-Position legendär. Sie waren ein Überbleibsel seiner Zeit als Mittelfeldspieler, wo er immer wieder den Raum attackierte, in die Vertikale sprintete und Angriffe einleitete. Beckenbauer war dabei einer jener Spieler, die alles für eine Rolle als taktgebende Mittelfeldspieler mitbringen: Herausragende Spielintelligenz, überlegene Athletik, wunderbare Technik und die Ausstrahlung eines Grandseigneurs.
Dennoch war er als Verteidiger besser aufgehoben, individuell wie auch für das Kollektiv. Mit seiner Beweglichkeit und den langen Phasen mit Ball am Fuß konnte er zwar punktuell für Gefahr sorgen – und dies auch sehr oft –, doch eine durchgehende Spielkontrolle und das organisatorische Planen von Angriffen wäre seinem taktischen Naturell vermutlich zuwider gewesen. Dafür war Beckenbauer zu attackierend und vertikal, wenn er in der Nähe des letzten Drittels Raum mit Ball am Fuß vorfand. Als Libero konnte Beckenbauer situativ das Spiel beeinflussen, erkannte diese Räume und stieß nicht nur mit Ball am Fuß nach vorne, sondern teilweise sogar ohne Ball als nachrückender Akteur mit Sprints über vierzig bis fünfzig Meter in den Strafraumrückraum.
Als Libero konnte er weiters als wichtiger Spieler im Aufbau und Koordinator im ersten Spielfelddrittel seine technische Stärke nutzen und das Spieltempo ankurbeln. Defensiv war er dank seiner Dynamik ohnehin über jeden Zweifel erhaben und lief viele Bälle ohne Grätsche ab. Dies bedeutete, dass er die eroberten Bälle und abgefangenen gegnerischen Pässe auch sofort sichern und behaupten konnte, wodurch es nicht nur weniger Standards in Tornähe gab, sondern auch mehr sofortige Gegenangriffe, an denen er sich im Idealfall beteiligen konnte.
Beckenbauers Pressingresistenz verhinderte Ballverluste und mit seinem guten Dribbling konnte er viel Raum in kurzer Zeit überbrücken. Abgesichert wurde es zumeist von den zwei ballnahen Spielern beziehungsweise Schwarzenbeck und einem aus dem zentralen Mittelfeld oder den beiden Außenverteidigern. Gegen Dynamo Kyiv kamen diese Vorstöße aber kaum zum Tragen, was an mehreren Aspekten lag.
Die Kyiver spielten mit einer Raumdeckung, was den Raum für Beckenbauer bei seinen Vorstößen einengte. Normalerweise weichten seine Vordermänner ihm instinktiv aus, wodurch sie ihm Räume öffneten, was an der gegnerischen Manndeckung lag. Jeder Gegner hatte einen bayrischen Gegenspieler und verfolgte ihn mannorientiert; Beckenbauer visierte dann schlicht die sich öffnenden Räume an.
Gegen die Raumdeckung von Dynamo klappte dies nicht. Sie konnten entweder mit ihren offensiven Akteuren bereits früh gegen Beckenbauer aus ihrer eigentlichen Position herausrücken und ihn unter Druck setzen, was zwar nicht in Ballverlusten, aber zumeist in einem Abbruch des Angriffes resultierte. Alternativ ließen sie ihn nach vorne aufrücken, standen dann aber tief und massiert mit zwei Viererketten oder eben einer flachen Fünf im Mittelfeld, weswegen Beckenbauers Vorstöße ins Nichts gingen. Seine Pässe waren zwar kreativ und gefährlich, jedoch war der Raum bei den tiefstehenden Ukrainern zu eng, um die Pässe effektiv verwerten zu können.
Lobanovskiys Dynamo Kyiv war nämlich keineswegs eine „Pressingmaschine“, welche durchgehend in einem Angriffs- oder Mittelfeldpressing agierte, wie es heutzutage vielfach vermutet wird. Teilweise standen sie sogar überaus tief.
Dynamos überraschendes Pressing
Entgegen dem weit verbreiteten Mythos der unaufhörlich pressenden und ultra-offensiven Dynamo-Mannschaft war das damalige Bild von ihnen ganz anders geprägt. Dynamo Kyiv galt als gefährliche Kontermannschaft, herausragend im Umschalten und insbesondere ein schwieriger Gegner für größere Vereine. Sie spielten zwar in der heimischen Liga gegen unterlegene Teams mit einem Angriffspressing, doch bei schwierigeren Gegnern und in speziellen Partien wie dieser schoben sie ihre Pressinglinie weiter nach hinten.
Zumeist spielten sie dann in einem tiefen Mittelfeldpressing, welches zwischen fünf und vier Mittelfeldspielern wechselte. Vorrangig war es ein flexibles 4-4-1-1-Pressing, in welchem ein Mittelstürmer die Speerspitze an vorderster Front darstellte. In dieser Partie war es Oleg Blokhin, der ansonsten öfters als Linksaußen oder hängende Spitze agierte. Hinter dem Mittelstürmer gab es eine fluide Besetzung; es wich immer einer aus der Mitte oder den Flügel (in dieser Partie Buryak, Kolotov oder Slobodyan) eine Ebene nach vorne und versuchte das gegnerische Aufbauspiel in bestimmte Zonen zu leiten. Im 4-5-1/4-1-4-1 in dieser Partie war der Effekt noch stärker.
Die Kette hinter dem herausrückenden Akteur verschloss den durch das Herausrücken geöffneten Raum und formierte sich in einer Viererlinie. Die Kompaktheit und insgesamt ein ballorientiertes Verschieben waren ebenfalls schon gegeben. Dabei war die Raumdeckung weitestgehend positionsorientiert und ging zumeist auf den Außen oder bei schnellen Vertikalsprints der Bayern in eine stärkere Mannorientierung über. Bayerns bis heute sehr unterschätzter Mittelfeldspieler Jupp Kapellmann wurde von Lobanovskiys Mannen gesondert beachtet. Kyivs Spieler deckten ihn variabel mannorientiert und hielten ihn immer in der Nähe eines Spielers, um den Bayern die zentrale Verbindung nach vorne zu nehmen.
Interessant war gegen die Bayern besonders die Wechselwirkung zwischen dem Herausrücken aus der Position, dem Linienspiel in einer Vierrereihe und dem Augenmerk auf Jupp Kapellmann. Das eigentliche 4-5-1-Pressing Kyivs wurde womöglich deswegen oft zu einem 4-1-4-1, in welchem sich einer der drei zentralen Mittelfeldakteure situativ fallen ließ und vor der Abwehr als freier Mann spielte. Davor spielte dann eine Viererreihe, die von Blokhin defensiv unterstützt wurde. Häufig wurde dadurch aus dem tiefen Mittelfeldpressing ein Abwehrpressing. Dieses Wechselspielchen konnte sich aber auch nach vorne fortsetzen.
Positionsorientierte Raumdeckung, situative Mannorientierungen und das Herausweichen
Auffallend war, dass die Kyiver aus ihrer tiefen Anordnung immer wieder Befreiungen durch das Spiel ohne Ball in die Höhe suchten. Sie standen in ihrem positionsorientierten und formativ flexiblen 4-5-1 da und verschoben horizontal wie vertikal sehr kompakt. Teilweise verdichteten sie ihren Defensivblock sogar noch extremer, als es heutzutage praktiziert wird und profitierten wiederum davon, dass der Gegner den Ball selten so schnell zirkulieren ließ, wie es heutiger Standard wäre.
Dadurch verschlossen sie die Mitte und konnten dennoch nicht über Außen ausgespielt werden. Wenn der Gegner es mit Tiefensprints in freie Räume versuchte oder langen Seitenwechseln, agierten sie ballnah situativ mit Manndeckungen und verfolgten einzelne Spieler. Dies zerriss die Formation Kyivs zwar etwas, war aber effektiv, um gegnerische Angriffe zu neutralisieren.
Falls der Gegner aber den Ball zirkulieren ließ, um durch konstantes Hin und Her Räume zu öffnen, reagierte Dynamo Kyiv überaus aggressiv. Einzelne Spieler wichen immer wieder aus ihrer Position, näherten sich dem Gegner an und falls dieser bei der Ballverarbeitung zu lange brauchte oder ihm ein Fehler unterlief, sprinteten sie durch und pressten. Dann schob zumeist auch der ballnahe Außenspieler mit und es entstand eine 4-3-3-Formation, welche die Bayern und ihr Passspiel zum eigenen Tor lenkte. Kyiv konnte aufrücken und positionierte sich wieder in ihrem üblichen Mittelfeldpressing.
Den Bayern fehlte es damit an allen Ecken und Enden an der nötigen Kreativität: Beckenbauers sporadische Vorstöße waren zu wenig, Kapellmann konnte nicht die Bindung nach vorne schaffen und durch die Verletzung Hoeneß‘ fehlte ein weiterer Kreativposten. Müller und Rummenigge waren dadurch aus dem Spiel genommen. Zwar versuchten auch Horsmann und Schwarzenbeck für Gefahr zu sorgen, doch sie waren glücklos in ihren Versuchen und wurden von der gegnerischen Raumdeckung abgefangen. Gleichzeitig spekulierten die Ukrainer exakt auf solche Ausflüge, um dann ihr markantes Konterspiel ins Rollen zu bringen.
Dynamos offensives Umschaltspiel
Selten waren Mannschaften wegen ihres Konterspiels so gefürchtet, wie jene Teams Valeriy Lobanovskiys. Hierbei gab es mehrere Gründe. Der wichtigste dürfte die Offensivkompaktheit gewesen sein. Sämtliche Mittelfeldspieler schoben in die Spitze auf und agierten mit Vertikal- und Diagonalsprints, wodurch sie gegnerische Manndeckungen teilweise komplett zum Zusammenbruch zwangen.
Lediglich einer aus Konkov oder Kolotov blieb tief vor der Dreierabwehr und diente als Anspielstation nach hinten. Selbst der eher passive Vladimir Troshkin schob mit nach vorne, blieb aber immer in der Nähe von Damyn und sicherte dessen Räume dahinter ab. Durch die Pärchenbildung war dies allerdings flexibel. So ging Troshkin einige Male nach vorne, während sich stattdessen Damyn zurückfallen ließ. Eine sehr gute Idee, um gegnerische Manndeckungen zu zerschlagen.
Es waren diese organisierten langen Vertikalsprints, die Kombinationsstärke und Kompaktheit beim kollektiven Aufrücken, das die Lobanovskiy-Elf so stark machte. Sie schalteten schnell um, überbrückten mit vielen Akteuren den Raum dynamisch und konnten dann qualitativ hochwertige Chancen herausspielen. Mit Blokhin hatten sie auch einen Akteur, der intelligent Räume öffnete oder auch im Dribbling Bälle behaupten konnte.
Interessant war dabei, wie Kyiv dank dieser hohen Anzahl an aufrückenden Spielern auch im Konterspiel auffächern konnte. Im Normalfall erzeugen konternde Teams situative Engen, wie es beispielsweise Mainz 05 aktuell mit den einrückenden und flexiblen Flügelstürmern tut (zumindest in ihrem 3-4-3).
Kyiv hingegen spielte auch beim Konterfokus teilweise enorm breit, ohne aber an die Verbindungen der Spieler zueinander zu verlieren. Mit den vielen nach vorne schiebenden Akteuren in der Mitte konnten sie auf den Seiten problemlos auffächern. Die Gefahr eines Ballverlustes war gering die vielen in der Offensive genutzten Akteure erhöhten die Schwierigkeit für die verteidigende Mannschaft. Auch gegen raumdeckende Mannschaften hatten sie durch Verbreiterung der Schnittstellen eine effektive Spielweise und waren extrem schwer aufzuhalten.
Auffällig war hierbei ebenfalls eine Asymmetrie. Kolotov blieb oft zentral und Konkov ging dann auf halblinks und rückte auf, wodurch die linke Seite situativ besetzt wurde, wenn Buryak sich im Angriffsvortrag frei und zentral bewegte. Mit Slobodyan und Buryak besetzten sie die Halbräume, konnten flexibel und situativ die Flügel besetzen und zeigten sich somit außerordentlich modern – die Vergleiche mit dem totalen Fußball von Ajax‘ in den frühen 70ern werden schlagartig verständlich. Auch im Spielaufbau fiel Kyiv mit einigen interessanten Bewegungen auf.
Kyivs Aufbauspielkreisel
Nicht nur in der Offensive, der Defensive, dem Umschaltspiel und im Pressing waren sie flexibel, sondern auch im Aufbauspiel, dem fünften großen Aspekt einer Mannschaft. Neben Blokhin, der wie erwähnt einige Male nach hinten abkippte und ansonsten durch konstante Bewegungen Räume öffnete, zeigten sich auch die anderen Spieler überaus beweglich.
Kolotov holt sich immer wieder vor der Abwehr den Ball ab und versuchte das Spiel zu organisieren. Troshkin wurde im Spielaufbau geflissentlich übergangen, während sich Konkov oftmals nach halbrechts bewegte. Er nutzte den Raum hinter dem aufrückenden Damyan und bildete mit Buryak auf links weitere Kreativspieler neben Organisator Konkov in der Mitte.
Durch diese Bewegung wurden also entweder Räume eröffnet oder zwei der kreativeren Spieler in der Mitte befreit, während Troshkin sich bereits zwecks späterer Absicherung breiter im rechten Halbraum positionierte.
Slobodyan wurde durch die Bewegung von Damyan und Konkov befreit, konnte sich sehr hoch und mittig positionieren, wodurch man situativ einen Zweiersturm erzeugen konnte oder eben Blokhin Richtung Buryak verschieben und sogar das Sturmzentrum kurzzeitig verwaisen lassen konnte. Mit dieser enormen Bewegung sowie dem aufrückenden und spielgestalterischen Formenko waren sie überaus fluid.
Interessanterweise waren sie in der Anfangsphase noch eine Stufe variabler, um die gegnerischen Manndeckungen aus den Angeln zu heben. So schob beispielsweise Reshko einige Male im Aufbauspiel nach vorne und ließ Formenko alleine hinten. Dies lag daran, dass sich Gerd Müller zuerst an Reshko orientierte, der diesen dann schlicht wegschob und den Libero von sämtlichen Pressingmöglichkeiten der Bayern befreite.
Formenko konnte auch deswegen enorm weit und lange mit Ball am Fuß marschieren. Dies ermöglichte ihm gezielt offene Räume anzuvisieren und intelligente wie strategische Pässe zu spielen. Mit Blokhins Zurückfallen und der hohen Bewegung im Mittelfeld wurden die Bayern sporadisch ins Chaos getrieben. Die Mittelfeldspieler, welche sich in der Horizontale frei bewegen durften und immer wieder vertikal starteten, erhöhten die Probleme der Bayern. Diese gingen teilweise deswegen auch in Raumdeckungen einzelner Spieler über, vorrangig die drei Stürmer und die zwei höheren Mittelfeldspieler.
Dennoch kamen sie mit der Bewegung nicht klar und eroberten die meisten Bälle (tief) in der eigenen Hälfte. Kyivs bewegliche Spielweise gab ihnen nicht nur mehr Sicherheit im Spielaufbau, sondern sie waren auch im Stande den Gegner effektiv zu attackieren, ob er mit oder ohne Pressing oder auch mit Raumdeckung statt Manndeckung agierte.
Lob und Kritik an den Münchnern
In der bisherigen Analyse haben wir immer wieder die Probleme der Bayern in die jeweiligen taktischen Erklärungen des Kyiver-Systems einfließen lassen. Kapellmann kam kaum zum Tragen, Rummenigge und Wunder spielten sich an der Linie fest und Gerd Müller wurde kaum mit Bällen gefüttert. Das ein oder andere Mal ließ sich der Nationalstürmer auch deswegen weit nach hinten fallen, suchte die Ballkontakte und wollte beim Angriffsvortrag helfen, doch seine Unterstützungen waren zumeist wegen der Einbindung und der Raumdeckung Kyivs ineffektiv.
Auch die vereinzelten Positionswechsel in der Mitte des Feldes bei den Bayern sollten nicht den gewünschten Erfolg bringen. Weiß bzw. Dürnberger, Kapellmann und Zobel bewegten sich relativ frei und wurden auch von Beckenbauer sowie vereinzelt Schwarzenbeck unterstützt. Sie scheiterten aber immer wieder an der gegnerischen Abwehr, dem Pressing und den situativen Engen, aus denen sie nur selten herausfanden. Zumeist gingen die Bälle jedoch nach hinten und der Angriff musste neu aufgebaut werden.
Doch trotz all dieser offensiven Probleme muss auch ein Lob an die Bayern ausgesprochen werden. Sie waren zwar taktisch klar unterlegen, aber tappten nur selten in die Fallen Kyievs und kümmerten sich um einen behutsamen Spielaufbau ohne unnötige Ballverluste. Langes, blindes Gebolze wie von vielen Mannschaften in diesen Jahren und auch den kommenden zwei Dekaden, gab es kaum zu sehen.
Durch den ruhigeren Spielaufbau waren sie zwar nur selten im gegnerischen Strafraum präsent, aber konnten die Kyiver Konter über längere Zeit vermeiden und kamen nur selten in defensive Schwierigkeiten. Insbesondere Schwarzenbeck erledigte seine Arbeit gegen Blokhin herausragend, der sowjetische Weltklassestürmer war weitestgehend abgemeldet und konnte nur selten zum Dribbling in vollem Sprint ansetzen.
Dettmar Cramer, über den Max Merkel einst sagte, seine Analysen und Matchpläne seien acht Pfund Papier schwer, hatte sich gut auf die Lobanovskiy-Truppe eingestellt. Die Konter wurden schnell und gut abgefangen, die Manndeckungen waren passend gewählt und es waren auch Ansätze eines Pressings erkennbar.
Diese Pressingansätze gab es vorrangig im Mittelfeld, da man auch hier das Auftun von Löchern für die schnellen Überfallangriffe der Ukrainer tunlichst vermeiden wollte. Der Dreiersturm ließ sich nach hinten fallen und spielte relativ tief, wodurch sie in gewisser Weise eine Art Raumdeckung spielten, sich aber natürlich an den aufrückenden Gegner orientierten. Auch im Mittelfeld gab es lose Manndeckungen, die übergeben wurden. Lediglich in der Abwehr beziehungsweise im ersten Spielfelddrittel bei den Abwehrspielern war die Manndeckung sehr strikt, rigid und starr.
Trotzdem fehlte es den Münchnern an zündenden Offensivideen, Gefahr im Strafraum und Kreativität. Es schien wie eine Frage der Zeit, bis Dynamo einen Konter erfolgreich beenden würde und somit das Momentum auf ihre Seite ziehen könnte. Darum veränderte sich nach der Halbzeit etwas im Spiel des Favoriten.
Dettmar Cramers Reaktion
Franz „Bulle“ Roth, der schussgewaltige box-to-box-Spieler im Mittelfeld und auch auf den Flügeln, hatte wegen einer Zerrung vorerst auf der Bank Platz genommen. Ein unglückliches Testspiel vor dem Spiel gegen Kyiv hatte seine Verletzung verschlimmert, anstatt ihm Spielpraxis zu geben. Nach der Halbzeitpause war es dennoch soweit: Der zweifache Endspieltorschütze im Meisterpokal 1975 sollte die Entscheidung bringen und die Abstände zwischen Angriff und Mittelfeld verkleinern.
Dürnberger musste für ihn weichen. Seine Bewegungsmuster waren gegen diesen Gegner und in diesen Spielsituationen etwas unpassend und nicht durchschlagskräftig genug. Mit Zobel hatte man außerdem eine alleinige Absicherung für die offensivfokussierten Roth und Kapellmann, wodurch man Kyiv noch weiter nach hinten schieben wollte. Dies sollte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, endlich über die Mitte Druck machen zu können oder eben Roths Schussstärke zu nutzen. Auch die Flanken sollten verstärkt genutzt werden.
An sich eine gute Idee, doch der ukrainische Jahrhunderttrainer passte seine Mannschaft nach der Halbzeit ebenfalls an.
Lobanovskiys Veränderungen nach der Halbzeit
Dynamo Kyiv erhöhte nun die Schlagzahl, offensiv wie defensiv. Slobodyan rochierte immer wieder auf links hinaus nach der Halbzeit. So sollten die Manndeckungen der Münchner ausgehebelt werden, was ansatzweise gelang: Horsmann folgte seinen Gegenspieler auch auf die andere Seite. Buryak fand sich ebenfalls öfter auf rechts und wurde jetzt etwas überraschend von Schwarzenbeck übernommen; Lobanovskiy Versuch Cramer eine Falle zu stellen, gelang nicht vollends, doch die erhöhten Bewegungen sollten sich später noch auszahlen.
Außerdem passte Lobanovskiy die Extremität des Pressingrhythmus an. Einige Male presste Kyiv sehr hoch und aggressiv, in vielen Situationen gab es aber ein noch tieferes und passiveres Abwehrpressing als in der ersten Hälfte. In einer Situation unmittelbar nach der Halbzeitpause stand man zum Beispiel in einem extrem kompakten 4-4-1-1 am eigenen Strafraum. Drei Spieler standen dabei in einem Haufen bei Bayerns Ballführenden, die vier Verteidiger standen sogar allesamt im Strafraum und fast am Elfmeterpunkt aufgereiht. Generell hatte Kyiv überraschend viele extrem tiefe und kompakte Staffelungen, wo man heutzutage eher Di Matteo in einem CL-KO-Spiel als Trainer vermuten würde.
Neben der Defensive stach aber auch das defensive Umschaltspiel ins Auge.
Taktische Fouls von Kyiv im defensiven Umschaltmoment
Ein besonders interessanter und in der zweiten Halbzeit fokussierterer Aspekt war die Spielweise von Kyiv nach Ballverlusten. Gegenpressing war situativ erkennbar, aber Kyiv bewegte sich nach Ballverlusten meist schnell wieder zurück auf die Positionen. Nur der ballnächste Akteur versuchte konstant den Gegner zu behindern oder im Idealfall zu foulen. Dies war weder mannorientiert noch positionsorientiert gespielt, sondern nach dem Motto: „Wer zuerst kommt, foult zuerst“.
Diese taktischen Fouls waren sicherlich mit einer der Gründe für das Funktionieren des regulären Pressings, des Defensivspiels und auch der Offensive bei den Ukrainern, welche bisweilen sehr offensiv aufrückten. Sie konnten auch deswegen ihre Pressinghöhe variieren: Spielte der Gegner vor solchen Attacken einen Pass, ging er meist nach hinten. Kyiv konnte dann seine Rückwärtsbewegung abbrechen und sich noch in der gegnerischen Hälfte neu formieren.
Dieses Variieren der Pressinghöhe im Spielverlauf – im Gegensatz zu der durch den Gegner erzwungenen Veränderung durch ein aggressiveres Aufbauspiel – war wohl auch ein taktisches Novum, welches von Valeriy Lobanovskiy eingeführt wurde und die damaligen Offensivmechanismen der Gegner massiv be- und verhinderte.
Exkurs: Pressing aus einer Manndeckung heraus
Interessant war, dass die Bayern unter Dettmar Cramer zwar weitestgehend mit einer Manndeckung, aber auch mit Ansätzen eines Pressings agierten. Das passt zum Charakter Dettmar Cramers. Dieser galt in jenen Jahren als „Fußballprofessor“ und hatte (wohl auch zu Recht) eine hohe Meinung von sich selbst. So ist beispielsweise folgendes Zitat von ihm überliefert:
„Was macht ihr aus der Raumdeckung, das ist doch das Einfachste der Welt!“ – Dettmar Cramer bei einer Trainertagung in den 80ern (laut der ZEIT)
Dennoch vermittelte er seiner Mannschaft anno 1975 nicht die Raumdeckung. In der Bundesliga sollte sich in den nächsten Jahren die Raumdeckung inklusive Pressing durchsetzen. Gyula Lorant führte die Raumdeckung u.a. bei Eintracht Frankfurt ein und sie, zumindest als Mischsystem aus Mann- und Raumdeckung, setzte sich in der Bundesliga durch. In der Nationalmannschaft war sie hingegen weiterhin nur wenig wert und wurde von Altmeister Helmut Schön nicht konstant genutzt.
„Die Deutschen haben die intelligentesten Spieler, aber in der Nationalmannschaft spielen sie den dümmsten Fußball.“ – Gyula Lorant im Spiegel
Doch obwohl die Deutschen die intelligentesten Spieler hatten und auch Dettmar Cramer als Fußballprofessor galt, spielten seine Bayern in der Bundesliga jener Zeit vergleichsweise rückständig. Sie dominierten zumeist wegen ihrer individuellen Überlegenheit, der Klasse von so überaus intelligenten und kombinationsstarken Akteuren wie Gerd Müller und Franz Beckenbauer sowie fortschrittlichem Training. Auch das vereinzelte, aber nicht kollektiv organisierte Pressing war hilfreich, dennoch gab es Kritik an Cramer, der sich wie folgt äußerte:
„Solange ich nicht die dafür geeigneten Spieler habe, ist meine Ansicht von der besseren Taktik einen Dreck wert.“ – Dettmar Cramer im Spiegel
Wahre Worte. Cramer ließ seine Mannschaft auch darum bewusst in der Manndeckung spielen, weil man den Gegnern individuell überlegen war. Gleichwohl gab es einzelne Spieler, die zwar nicht in einer reinen Raumdeckung spielten, aber den Gegner übergeben konnten und ihren Mann verlassen konnten. Ob sie dabei ihren Deckungsschatten bewusst oder zufällig genutzt haben – oftmals scheiterte es, was auf letzteres vermuten lässt –, ist nicht eindeutig. Daum war das Pressing auch nicht so effektiv, wie es hätte sein können.
Dennoch hatte Cramer zumindest ansatzweise Recht, dass er der Manndeckung treu blieb. Gyula Lorant sollte ebenfalls in seiner kurzen Zeit beim FC Bayern an der erfolgreichen Vermittlung der Raumdeckung scheitern, erst Nachfolger Pal Csernai, welcher dem Mischsystem aus Mann- und Raumdeckung im sogenannten „U“-System weitestgehend abschwor, hatte beim deutschen Rekordmeister damit Erfolg. Doch sogar Csernai hatte mit der Umsetzung Probleme, wie wir im Artikel zu Aberdeens Giant Killing 1983 sehen können.
Allerdings ist die theoretische Idee eines effektiven und organisierten Pressings aus einer Mannorientierung heraus eine überaus interessante. Möglich wäre es dies zu praktizieren, auch wenn es der unlogische Schritt ist: Sobald man ins Pressing übergeht, werden (häufig) Gegenspieler frei. Übernimmt immer der aus der Tiefe kommende Spieler beim kollektiven Forechecking nach vorne, dann können lange Bälle direkt eine Überzahl in gefährlichen Zonen erzeugen. In Verbund mit einem Libero würde sogar das Mittel der Abseitsfalle von der pressenden Mannschaft selbst neutralisiert werden.
Wie sonst kann man es also praktizieren? Eine Möglichkeit wäre es, die Manndeckungen nicht nach hinten zu übergeben, sondern in die Horizontale. Soll heißen: Wenn sich die Offensivspieler zum Pressing lösen und zum Ball schieben, agieren sie mit ihrem Deckungsschatten und verhindern Anspiele. Während sie laufen, verschiebt das Kollektiv nicht, sondern nur die ballfernen Spieler rücken zum nächstfreien Gegner ein und übernehmen den freigewordenen Spieler.
Praktisch attackieren dann der linke Außenverteidiger, der linke Außenstürmer und der Mittelstürmer, während der rechte Außenstürmer und der rechte Außenverteidiger die beiden ballfernsten Gegenspieler stehen lassen und sich in die Mitte orientieren, wodurch eine Kettenreaktion entsteht. Ein kollektiv intelligentes und fehlerloses Spiel wäre zwar möglich, aber wohl weder so einfach noch so effektiv wie bei der Raumdeckung.
Cramer praktizierte es zumeist so, dass die hinteren Akteure eine meist starre Manndeckung hatten, die mittleren eine lose Manndeckung mit Anlaufen bei Ballannahme und die Offensivspieler sich in einer Dreierreihe hinter oder gar einer Viererreihe mit Müller positionierten. Sie hatten zwar einen Gegenspieler, standen aber weit weg und ließen den Gegner im ersten Spielfelddrittel in Ruhe. Dafür konnten sie dann den Manndeckern im Mittelfeld helfen und ein situatives und lokales Pressing im Mittelfeld aufbauen.
„Fußball ist ein Spiel von Zeit und Raum.“ – Dettmar Cramer
Fazit
Mit diesem 0:1-Auswärtserfolg nach Tor von Oleg Blokhin hatte Dynamo Kyiv alle Karten in der Hand. Im Gegensatz zu heute gab es noch ein Rückspiel in der Ukraine, welches die Bayern einen Monat später ebenfalls verlieren sollten. Kyiv trat in dieser Partie mit Muntyan und Onishchenko auf, Lobanoskiy stellte also auf ein reineres 4-4-2 um –die taktisch überaus wirkungsvollen, aber spielerisch etwas schwächeren Damyan und Slobodyan fielen aus der Startaufstellung. Oleg Blokhin traf prompt zwei Mal und es war somit ein nie gefährdeter Erfolg gegen die Münchner, welche in dieser Saison abermals den Meisterpokaltitel holen sollten.
Lobanovskiy und Dynamo Kyiv unter seiner Ägide hingegen fristen bis heute eine Mischung aus Schattendasein und Anerkennung in der Fußballwelt. Erst 1974 war Lobanovskiy zu Kyiv gekommen und hatte zuvor ohne groß aufzufallen bei Dnipro Dnipropetrovsk gearbeitet. Siebzehn Titel sollte er in den nächsten 19 Jahren holen, unter anderem acht sowjetische Meisterschaften, dem Weltpokalsieg gegen die Münchner Bayern sowie zwei Siegen im Pokal der Pokalsieger (1975 und 1986, jeweils mit Oleg Blokhin).
Viermal war er Trainer der sowjetischen Nationalmannschaft, welche er 1988 ins EM-Finale führte. Gegen Ende seiner Laufbahn war er wieder bei Dynamo unterwegs, wo er 1999 die Bayern in der Champions League abermals ärgern sollte. In seiner letzten Amtsperiode, die sich immerhin über fünf Jahre erstreckte, hatte Dynamo Kyiv eine Siegquote von annährend 80%. Ein beeindruckender Wert für einen Mann, der den modernen Fußball nicht nur vorwegnahm, sondern auch nach über 30 Jahren im Trainergeschäft (1975 wäre er der jüngste Bundesligatrainer gewesen, als er die Bayern herausforderte) war er auf dem laufenden Stand der Dinge. Bis heute ist Lobanovskiy von Mythen umgeben und seine Erfolge nicht klar einzuordnen. Seine Mannschaften und Zitate zeigen aber, wie viel Ahnung der Mann gehabt haben musste:
„Modern football is the game of speed and imagination. The essence of football is numerical superiority in different areas of the pitch. The first requirement for the player is to quickly switch from defense to offense and vice versa.” – Valeriy Lobanovskiy
Dettmar Cramer andererseits sollte nicht ganz in solchen hohen Ehren gehalten werden. Der „Fußballprofessor“ hatte einige Parallelen zu Lobanovskiy, ohne aber ein solch pragmatischer Visionär zu sein. Bereits mit 23 Jahren war Cramer Cheftrainer des Westdeutschen Fußballverbandes. Diesen Posten hatte er 15 Jahre inne bevor er zum DFB ging, um dort als Assistenztrainer der Nationalmannschaft zu arbeiten. Er tingelte daraufhin durch die Welt, hospitierte und wurde schließlich Trainer beim US-Verband. Letztlich erlag er dem Ruf der Bundesliga erst, als der FC Bayern anklopfte.
Als Nachfolger von Udo Lattek hatte er anfangs einige Probleme, doch seine Erfolge (zwei Meisterpokalerfolge und der Weltpokal 1976) brachten die Kritiker zum Verstummen. 1977 wurde er trotzdem mit Gyula Lorant von der Eintracht getauscht. Beide Trainer sollten bereits nach einer Saison den jeweiligen Verein wieder verlassen. Der Weltenbummler Cramer ging nach Japan und wird dort heute noch als Begründer des modernen Fußballs gefeiert; eine Ehre, die ihm in Deutschland verwehrt wird. Womöglich zu Unrecht. Eines der Zitate Cramers kann man sogar bis heute problemlos für den Fußball in allen Leistungsebenen nutzen:
„Um Tore zu schießen oder zu verhindern, braucht man den Ball. Wo der Ball ist, muss man mehr Spieler haben als der Gegner. Es gilt, die Spieler für die Kleingefechte um den Ball zu schulen.“ – Dettmar Cramer, 1986
9 Kommentare Alle anzeigen
Wolfgang 30. Januar 2015 um 11:03
An die Autoren der Retro-Kolumnen: ganz großes Lob von mir, denn diese Spielanalysen historisch bedeutsamer Spiele sind absolut einzigartig im deutschsprachigen Raum und immer hochinteressant und extrem lesenswert! Bitte immer so weiter! Ich freue mich auf jede neue Retroanalyse! Eine Anregung: vielleicht wäre das Spiel Niederland v Argentinien von der WM 1974 eine interessante Analyse. Taktisch-historisch sehr reizvoll, da man das aggressive Pressing der Niederländer in diesem Spiel sehr eindrucksvoll studieren kann und es zudem meines Wissens bis zum 7:1 der Deutschen in Brasilien kein anderes WM-Spiel zweier „großer“ Fussballnationen gab, das derartig einseitig war.
Tabu1111 7. Januar 2015 um 11:37
Vieles was Pep macht hat schon Lobanowski gemacht. Die Spielverlagerung, mehrere taktische Modell, Tempo- und Taktikänderungen während des Spiels, verschiedene taktisch bedingten Aufstellung des Teams.
Der Vorteil von Pep ist dass er jetzt einen großen und breiteren Kader hat als Lobanowki damals hatte. Man hat verstanden, dass dies einfach notwendig ist. Lobanowski hat eine große Mannschaft aufgebaut und wurde damals gleichzeitig Trainer der UdSSR-Nationalmannschaft. Und seine Spieler spielten komplett in der NM. Dies blieb nicht ohne Folgen, da die Ersatzbank nicht sehr groß war und
die Spieler aus den anderen Teams der sowjetischen Liga die Ideen von Lobanowski nicht umsetzen
konnten. Darum spielten die Dynamo-Spieler gleichzeitig in den Quali-Spielen der NM, was zur Übermündung führte, so schied Dynamo Kiew gegen Saint-Ettienne in 1/4 Finale des Vorgängerturniers des CL.
HW 19. Januar 2015 um 11:11
Die Zeiten lassen sich kaum vergleichen. Der Bayern Kader von damals war z. B. im Mittelfeld nicht so gut wie heute (fast schon erschreckend). Das war auch noch eine Zeit mit Ausländerbegrenzung und anderen finanziellen Mitteln. Selbst wenn es damals mal ein Super-Team, wie Real in den 50ern gab, so haben heute doch viel mehr Vereine hochklassige Kader.
Dass die Kader heute in der Tiefe (oder Breite?) besser sind, liegt nicht an den 70ern, sondern daran, dass die Konkurrenz heute auch ähnliche Kader hat. Für damalige Verhältnisse waren beide Teams gut aufgestellt. Mit heute kann man das aber nicht vergleichen.
Teams aus der Sowjetunion noch schwerer als „West-Vereine“. Wo sollten die Spieler denn hin? Gab es Transfermöglichkeiten und Spielerberater wie heute oder wurden da auch mal Spieler „versetzt“? Ein Wechsel raus aus dem Ostblock kam einer Flucht oder einem Systemverrat gleich. Ist also auch nicht vergleichbar mit heute. Aber vielleicht kommwn die Zeiten ja wieder 😉
Schorsch 2. Januar 2015 um 00:54
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Ich habe das Spiel als Jungspund damals im Stadion gesehen. Auch wenn ich selbst als Spieler aktiv war zugegebenermaßen eher weniger unter den Aspekten, die im Artikel im Vordergrund stehen 😉 . Dennoch kann ich mich sehr gut an Diskussionen um das Thema Raumdeckung erinnern, die damals aufkamen, aber von vielen (kein Witz) als mit der deutschen (Fußball-)Mentalität unvereinbar abgelehnt wurde. Dabei gab es in der Bundesliga durchaus Teams, die zu dieser Zeit Raumdeckung spielten bzw. darauf umstellten. Eintracht Braunschweig unter Branko Zebec sei hier genannt.
Lobanowski (aus Gewohnheit benutze ich die früher üblichen Schreibweisen; pc juckt mich nicht) gehörte gewiss zu den wichtigen Weiterentwicklern des Fußballs. Ihm gebührt nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Herangehensweise an Fußball Aufmerksamkeit und Respekt. Dennoch möchte ich hier einen Kritikpunkt anbringen. Der Fußball war schon gut 100 Jahre alt, als Lobanowski seine Trainerlaufbahn begann. Und es gab in dieser Zeitspanne viele große Trainer, welche die Entwicklung des Fußballs entscheidend beeinflusst haben; jeweils zu ihrer Zeit. Bei aller Wertschätzung seiner Verdienste, ihn als einen der „Pioniere des Fußballs“ zu bezeichnen halte ich daher für nicht richtig.
Zu Cramer: Ich halte seinen Einfluss in taktischen Fragen auf den deutschen Fußball für eher zu hoch bewertet. Nach meiner Einschätzung (die keinerlei Anspruch auf Richtigkeit erhebt) war er letztlich doch zu sehr Theoretiker, der es nicht verstand, ein Team mit seinem Verständnis von Fußball zu prägen. Da gibt es andere Trainer, deren Einfluss mMn eher zu gering eingestuft bzw. vielleicht gar nicht realisiert wird. Der oben bereits erwähnte Branko Zebec gehört da mMn unbedingt dazu. Tschick Cajkovski war für die Bayern Gold wert, seine Erfolge sprechen für sich. Aber erst Zebec machte aus ihnen die taktisch disziplinierte Mannschaft, die später so dominieren konnte. Bei Eintracht Braunschweig führte er wie erwähnt die Raumdeckung ein und konnte damit 4 Spielzeiten lang z.T beachtliche Erfolge erzielen. Beim HSV schuf er (auch hinsichtlich des Pressing) die Grundlagen, auf denen Happel mehr als aufbauen konnte. Auch den BVB führte er wieder in den europäischen Wettbewerb.
Zebec war oft nicht sehr beliebt (friendly speaking), er galt als ‚Diktator‘ und ‚Schleifer‘ (was so pauschal mMn nicht stimmt). Beckenbauer und Co. passte er daher nicht unbedingt; man wollte ihn loswerden und hat dies auch geschafft. Sein Alkoholproblem machte ihm auch zunehmend das Leben schwer und führte zu Trennungen. Aber in der Bundesliga hat seine Tätigkeit schon prägenden Einfluss gehabt. Vielleicht ist er ja spielverlagerung.de einmal einen Artikel wert. Verdient hätte er es mMn.
RM 2. Januar 2015 um 01:36
Danke für den tollen Einblick. =)
Zebec ist sowohl als Spieler als auch Trainer ein SV-Liebling. Wieso findest du für Lobanovskiy „Pionier“ unpassend? Heißt ja nicht, dass andere vor ihm das nicht sein konnten. =)
Schorsch 2. Januar 2015 um 11:55
Ist vielleicht ein wenig Wortklauberei bei mir; sage ich durchaus selbstkritisch und ganz ohne Grinsen… Ohne Flachs, womit ich nicht d’accord bin ist nicht der Begriff ‚Pionier‘, sondern mit dem Terminus ‚Pionier des Fußballs‘. Weil Pioniere des Fußballs nach meinem Verständnis diejenigen sind, die den Sport als solchen (auch in den einzelnen Ländern) eingeführt und etabliert haben. Und da sind wir meistens in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Insofern würde ich Lobanowski als Pionier hinsichtlich seiner Herangehensweise an den Fußball betrachten oder auch als Pionier bezüglich bestimmter taktischer Aspekte, die den Fußball geprägt und in eine bestimmte Richtung entwickelt haben. Aber alles nicht so entscheidend.
Dass Zebec sowohl als Spieler (!), als auch als Trainer ein SV-Liebling ist, freut mich zu hören. Wobei mich das andererseits überhaupt nicht überrascht… 😉 . Wobei selbst ich nicht das Alter besitze, ihn als Spieler bewusst erlebt haben zu können. Da ist man schon auf die Literatur angewiesen; aussagekräftige Film- oder gar TV-Sequenzen dürften eher rar sein. Seine Trainerlaufbahn habe ich hingegen sehr wohl sehr bewusst verfolgen können. Würde mich wirklich freuen, wenn Ihr ihm ein größeres Porträt widmen könntet.
RM 2. Januar 2015 um 12:59
Okay, verstehe die Wortklauberei. Ich nannte ihn eben Pionier, weil er einige neue Aspekte in den Fußball einführte (oder diese in innovativer Form einbrachte), von Scoutingarchiven über Statistiken oder taktische und trainingsmethodologische Punkte. Visionär wiederum finde ich nicht ganz so passend und klingt so anbetend. Jaja, die Sprache…
Trainerporträt wird geplant. Fand sowohl das, was man von seinen Bayern sah, als auch z.B. den HSV vor Happel extrem sehenswert. Ich dürfte Zebec in meiner Allzeit-Trainerliste wohl sogar unter den Top10-Top15 haben.
Schorsch 2. Januar 2015 um 16:55
Ich glaube, wir sind im Prinzip einer Meinung und daher bitte ich meine Wortklauberei nicht zu wichtig zu nehmen. Der Artikel ist klasse und er hat Klasse, das ist entscheidend!
Super, dass Ihr ein Trainerportrait über Zebec in Planung habt!!!!! Er gehört auch zu meinen all-time favourites unter den Trainern! Volle Zustimmung zu den Bayern und dem HSV unter ihm! Vielleicht ist seine Braunschweiger Zeit sogar noch bemerkenswerter, wenn man die Voraussetzungen sieht.
Ich freue mich jedenfalls auf das Portrait!
Lenn 31. Dezember 2014 um 02:39
Sehr schöne Analyse, vielen Dank.
Kommt es mir nur so vor oder hat sich euer Output in den letzten 2 Monaten deutlich erhöht? Vor allem die allgemeinen Artikel (Positionsspiel!)und die zur Trainingslehre sind wirklich klasse.
https://www.youtube.com/watch?v=_R0XS1zR06Y