Trainerporträt: Sir Alex Ferguson
Nur wenige Trainer hatten eine so illustre Karriere wie Sir Alex Ferguson. Zahlreiche, fast schon klischeehafte Aspekte finden sich in seinem Leben wieder, welche ihn zu dem machten, was er letztlich ist. Dieses Trainerporträt soll kurz sein Leben Revue passieren lassen, einen Einblick in seine Persönlichkeit und seine Karriere geben.
Die morgige „In-depth-Traineranalyse“ (und somit unsere erste Traineranalyse) befasst sich dann mit dem, was Ferguson so besonders und genial gemacht hat, bevor wir in mehreren Retroanalysen seine Mannschaften betrachten.
Bescheidene Verhältnisse und Fußball, Fußball, Fußball
Während des zweiten Weltkriegs kam Alexander Ferguson auf die Welt. Einer der größten Trainer aller Zeiten wurde zu Silvester 1941 geboren und stammt aus simplen Verhältnissen. Sein Vater war ein Werftarbeiter in der Industriestadt Govan, gemeinsam mit seinem Bruder Martin wuchs er in überaus bescheidenden Verhältnissen auf. Die Eltern waren in der damals noch sehr auf die Religion fixierten Gegend eine „Mischehe“; der Vater Katholik, die Mutter Protestantin, ebenso wie die zwei Söhne. Unbeeinflusst davon hatte Ferguson nur ein Ziel: Spieler bei seinem Lieblingsteam Glasgow Rangers zu werden.
„Nicht obwohl, sondern weil ich aus dem Werftenviertel Govans von Glasgow stamme, habe ich so viel erreicht.“ – Sir Alex Ferguson
Über Umwege sollte es ihm gelingen. Mit 16 Jahren debütierte er im Amateurfußball für Queen’s Park, wechselte aber nach drei Jahren ohne Stammplatz zu St. Johnston. Auch dort hatte er lange Zeit Probleme von Beginn an Einsätze zu erhalten, erst durch eine Verletzung rückte er in die Startelf. Es folgte der nächste Wechsel im Alter von 23 Jahren, als er für Dunfermline unterschrieb. Nun war Ferguson ein Profi in der ersten schottischen Liga – und was für einer. Nämlich ein falsch eingebundener, potenziell sehr starker und alles in allem unüblicher Mittelstürmer.
Der schottische Gerd Müller
In der Saison 1965/66 erzielte Ferguson gleich 45 Tore in nur 51 Spielen und wurde auch Torschützenkönig in der Liga (31 Treffer). Bei Dunfermline zeigte Ferguson seine Stärken, was ihm einen Rekordtransfer zu seinem Lieblingsverein Glasgow Rangers einbrachte. Dort sollte Ferguson aber wider Erwartens nicht glücklich werden. Nach einem Manndeckungsfehler(!) im Derby und einem folgenden Streit verlor Ferguson seinen Platz im team und ließ seine Karriere in den folgenden fünf Jahren bei Falkirk und Ayr United ausklingen.
Das Problem für Ferguson bei Rangers, aber auch zu Beginn und zum Ende seiner Spielerkarriere, war die mangelnde Einbindung seiner Fähigkeiten und die Ermangelung eines passenden Umfelds. Ferguson wurde wie auch Gerd Müller rein auf seine Fähigkeiten im Strafraum reduziert, insbesondere auf den Abschluss selbst und die Präsenz bei Abstaubern. Doch im Gegensatz zu Müller hatte Ferguson nicht das Glück mit Spielern wie Beckenbauer unter Trainern wie Schön oder Zebec zusammenzuspielen, wo seine besonderen Fähigkeiten erkannt und eingebunden werden konnten. Kollege Martin Rafelt beschrieb den immer falsch eingeschätzten Gerd Müller wie folgt:
Müller dribbelte nicht, forderte die Bälle ganz anders und verteilte sie weit weniger kreativ und weiträumig. Er war kein spielmachender, sondern ein kombinierender Stürmer.
Die Bereiche, in denen er die Kombinationen mit den Mitspielern suchte, waren dabei ungewöhnlich variabel und – eine wertvolle Fähigkeit – sehr anpassungsfähig. Recht oft ging er kurze Wege in die hohen Halbräume um seine direkten Nebenleute zu unterstützen, in manchen Spielen ließ er sich sogar fast bis ins defensive Mittelfeld zurückfallen. Bis auf die Flügel ging er kaum, da die fehlende Dynamik entlang der Seitenlinie eine effektive Einbindung seiner Ablagen erschwerte. Seine Entscheidungen bezüglich des Zurückfallens war stets sehr funktional: Er suchte die Kombinationen nicht aus individueller Verspieltheit heraus, sondern orientierte sich sehr strategisch und rein unterstützend. Wenn er sich für Doppelpässe anbot, dann weil seine Mannschaft andernfalls in bestimmten Zonen keine Anspielstation hatte oder in Unterzahl kommen konnte.
Ferguson war ein ähnlicher Spielertyp wie Müller; durchaus ähnlich defensiv mitarbeitend, aber nicht ganz so erfolgsstabil in den Kombinationen und so intelligent im Bewegungsspiel außerhalb des Strafraums. Insgesamt war Ferguson also die schwächere Version Müllers im gleichen Zeitalter, konnte diese Stärken aber kaum einbinden. Neben dem Mangel an passenden Mitspielern und Trainern gab es ein weiteres Problem für Ferguson: Er war ein 1,80m groß.
Heute noch ist die Durchschnittsgröße in Schottland bei ungefähr 1,78, zu Fergusons Zeit war der Schnitt je nach Schätzungen zwischen 4 und 8 Zentimeter kleiner. Soll heißen: Ferguson war groß genug, um als Zielspieler im Sturmzentrum mit langen Bällen der eigenen Abwehrspieler torpediert zu werden. Obwohl Ferguson durchaus kopfballstark war und einige Tore dadurch erzielte, beschränkten die Flanken und langen Bälle ihn, weil er sich partout nicht fallen lassen konnte und durfte. Er musste Tiefe geben und wenn er zurückfiel, fehlte er schlichtweg für die ohnehin kommenden langen Bälle. Kombinationen waren Mangelware, während der originale Gerd Müller in einigen kombinationsorientierten und –starken Mannschaften auflaufen durfte.
Gerd Müller war außerdem einige Zentimeter kleiner und keiner wäre auf die Idee gekommen ihn durchgehend mit hohen Hereingaben zu belästigen. Wenn Gerd Müller sich im Luftzweikampf bei einer Flanke durchsetzte und per Kopf traf, hieß es wohl mit einer Mischung aus Schmunzeln und Kopfschütteln:
„Ach, dieser Müller schon wieder!“
Wenn sich aber Ferguson nicht per in der Luft durchsetzte oder einen Kopfball neben das Tor saß, kann man sich die wutschnaubenden Gesichter vorstellen, welche schrien:
„Ach, dieser Ferguson schon wieder!“
Interessanterweise hatte Ferguson seine mit Abstand beste Saison 1965/66 mit einer Torquote nahe an einem Tor pro Spiel mit Dunfermline in jener Mannschaft, in der Stein Anfang der 60er die Strukturen setzte. Stein gilt bis heute neben Ferguson, Sir Matt Busby und Bill Shankly als einer der vier größten schottischen Trainer aller Zeiten.
Steins Nachfolger Willie Cunningham hielt die offensive Organisation aufrecht. Sie spielten zwar ebenfalls auf Flanken und lange Bälle, waren hierbei aber organisierter und nutzten auch (längere) Flachpässe. Dies fehlte Ferguson bei seinen vorherigen und späteren Stationen nur allzu häufig, einzig Willie Ormond bei St. Johnstone könnte man hier noch nennen.
Die große Karriere blieb Ferguson letztlich trotz 7 Einsätzen für die schottische Nationalmannschaft bei einer Tour durch Asien und Ozeanien 1967 (9 Tore) und einem Wechsel mit Rekordablöse zu den Rangers verwehrt. Nach seinem Zwist bei Rangers ließ er seine Karriere bei Falkirk und Ayr United ausklingen. Darum hatte Ferguson damals andere Pläne – und arbeitete versehentlich schon an seiner Trainerkarriere.
Vom Pub-Besitzer zum Diego Simeone der 70er und 80er
Schon in jungen Jahren eröffnete Sir Alex Ferguson von seinem Gehalt als Fußballer und Werkzeugmacher einen Pub. Als Arbeiter und Geschäftsführer des Pubs – gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder – hatte Ferguson neben dem Einschenken und Verkaufen von Getränken auch mit dem Schlichten von Streitereien, dem Zuhören bei Problemen, dem Geben von Ratschlägen und dem Organisieren des Geschäftsbetriebes zu tun. Das klingt wie ein banaler Job, doch sollte langfristig enorm hilfreich für Ferguson sein.
„In den Pubs lernte ich sehr viel über Menschen, ihre Träume, ihre Wünsche und ihre Frustrationen, und das half mir später, die Welt des Fußballs besser zu verstehen, auch wenn ich das damals noch nicht wissen konnte.“ – Sir Alex Ferguson
Diese Mischung aus dem Leben als professioneller Fußballer, Pub-Besitzer und die Balance mit dem Privatleben dank seiner Frau Cathy Holding sorgten für das perfekte Training für seinen späteren Trainerberuf. Dazu suchte Ferguson immer wieder den Austausch und Ratschläge mit Jock Stein, den er als Mentor und später als den besten britischen Trainer aller Zeiten bezeichnen würde.
„I am proud to say that I knew Jock Stein as a manager, as a colleague and as a friend… he was the greatest manager in British football… men like Jock will live forever in the memory. “ – Sir Alex Ferguson
Noch während seiner aktiven Zeit als Fußballer erhielt Ferguson schon einen Posten als Assistenztrainer bei Falkirk, den er nach einem Trainerwechsel aber aufgab, den Verein wechselte und bei Ayr eine letzte Saison als Spieler anhing. Schon mit 32 wurde er daraufhin zum Trainer bei East Stirlingshire in der dritten Liga, wechselte aber alsbald zu Ligakonkurrent St. Mirren.
Sein ehemaliger Trainer Willie Cunningham hatte nach seinem Rücktritt bei St. Mirren Ferguson als Nachfolger empfohlen. Innerhalb von nur vier Jahren transformierte er St. Mirren von einem Mittelklasseverein in der dritten Liga zu einem Verein in der ersten schottischen Liga.
Den Meistertitel in der zweiten Liga holte man durch aggressives Pressing, intensiven Vertikalfußball mit einigen talentierten Technikern, deren Durchschnittsalter bei 19(!) Jahren lag. 91:38 Tordifferenz, 87 Punkte wurden in 39 Partien mit dieser extrem jungen Mannschaft ergattert. Mit acht Punkten Vorsprung auf die Abstiegsränge hielt man die Klasse. Mit 52 Toren in 36 Partien erzielte man auch die viertmeisten Tore in der Liga.
Der Vergleich mit Simeone ist in gewisser Weise durchaus passend: Aberdeen mischte damals eine (für jene Zeit) hohe Kompaktheit mit Raumdeckung und aggressivem Pressing, welches in puncto Formation, Höhe und Rhythmus variieren konnte. Dazu gab es aber auch organisierte Strukturen im Aufbauspiel, welche insbesondere auf Ablagen, zweite Bälle, Flanken, schnelle, weiträumige Kombinationen und letztlich auch auf Standards fokussiert waren. Diese Spielweise führte zu Fergusons raschem Aufschwung. Nach der Saison St. Mirrens in der ersten Liga wanderte Ferguson zum FC Aberdeen ab; wieder auf Empfehlung eines vorherigen Trainers, dieses Mal war es Jock Stein persönlich.
Aberdeen zerstört die Old Firm und Europas Giganten
Als 36jähriger übernahm Ferguson eine der größeren Mannschaften Schottlands. Aberdeen hatte allerdings die Liga nur einmal gewonnen und zwar 1955; über zwanzig Jahre vor Fergusons Ankunft. Nach zwei Jahren gewann Ferguson, der um den Respekt seiner Spieler ringen musste, in typischer Fergie-Manier den Meistertitel – durch eine spektakuläre Aufholjagd in der zweiten Saisonhälfte. Erstmals seit 15 Jahren hatte keine der Glasgower Mannschaften die Liga gewonnen.
In den folgenden Jahren holte sich Ferguson noch einen Pokalgewinn und zwei weitere Ligatitel ab, sein größter Erfolg sollte auf europäischer Bühne kommen. In einem spektakulären Lauf schlugen die Schotten nicht nur Bayern und Real Madrid 1983 im Pokal der Pokalsieger, sondern gewannen im Dezember desselben Jahres auch noch den Europäischen Superpokal gegen Happels HSV.
Durch Fergusons und Jim McLeans Erfolge in den 80ern wurde gar von einer „New Firm“ gesprochen, welche Celtic und Rangers ablösen sollte. Es sollte aber nur ein kurzes Wunschdenken vieler sein. Von 1965 bis heute gab es nur vier Titel von Mannschaften, die nicht Rangers oder Celtic heißen. Drei waren von Fergusons Aberdeen, einer von McLeans Dundee United, darunter von 1983 bis 1985 gleich drei Titel hintereinander.
McLean war übrigens Fergusons Bruder im Geiste, der eine ähnliche Spielphilosophie mit organisierten langen Bällen und Ablagen sowie intensiverem, raumorientierterem Pressing verfolgte. Desweiteren sollte sich McLean bei Dundee United ganze 22 Jahre halten und es war sogar der einzige Verein in seiner gesamten Trainerkarriere.
Die Erfolge der „New Firm“ fielen natürlich auch in England auf. 1985 zeigte Manchester Uniteds Rivale Liverpool Interesse an Ferguson, doch erst nach der Weltmeisterschaft 1986 sollte Ferguson im November das Land verlassen. Nach dem Tod Jock Steins übernahm Ferguson die schottische Nationalmannschaft und schied mit zwei knappen Niederlagen und einem Unentschieden in einer schwierigen Gruppe (Uruguay, BRD, Dänemark) aus.
Als Atkinson bei Manchester United entlassen wurde, wurde Ferguson als amtierender Cupsieger Schottlands mitten im Herbst verpflichtet und sollte noch den Karren aus dem Dreck reißen. Eine lange und schwierige Aufgabe.
Die Ära United beginnt…düster
Es mag aktuell merkwürdig klingen, doch Manchester United war Mitte der 80er in einem ähnlichen Zustand wie heute der HSV. Eine traditionsreiche Geschichte war genau das – Geschichte. Vielfach mangelte es an passenden Strukturen, es fehlte schlichtweg an den nötigen Abläufen und internen Kompetenzen für einen geordneten und erfolgreichen Aufbau eines Vereins. Deswegen hatte Ferguson auch lange Probleme im Verein: Als Manager war es nicht nur seine Aufgabe das Team erfolgreich spielen zu lassen, sondern sich um allerlei Belange außerhalb des Platzes zu kümmern.
Deswegen dürfte United zu jener Zeit auch so inkonstant gewesen sein. Zu Beginn der Ära Ferguson lag das Team auf dem vorletzten Rang und galt als Abstiegskandidat; nach einigen Wochen unter Ferguson besserten sich aber Ergebnisse und Leistungen. Man konnte die Saison noch auf einem akzeptablen elften Platz beenden. In der folgenden Saison 1987/88 gab es einige sehr gute Verpflichtungen Fergusons, unter anderem dem später eminent wichtigen Steve Bruce und dem ehemaligem Aberdeentorhüter Jim Leighton.
Damals blitzten die ersten Vorzeichen für Fergusons spätere Erfolge auf: Man wurde Vizemeister und zeigte guten Fußball, auch wenn die kommenden zwei Jahre trotz starker Verpflichtungen enorm problematisch sein sollten. Ein Mangel an passendem Ballbesitzspiel gegen verstärkt mauernde Gegner in der Spielzeit 1988/89 und 89/90 sowie zahlreiche Verletzungen wichtiger Spieler (war Ferguson doch der Klopp der 80er?) in letzterer Saison führten zu zahlreichen Gerüchten und Forderungen seiner Entlassung. Der FA-Cup-Sieg 1990 brachte ihm aber wieder mediale Ruhe und das Vertrauen der Fans; es sollte ein Erfolgslauf historischen Ausmaßes folgen.
Uniteds Weg zum Rekordmeister und europäischen Macht
Drei Jahre nach dem FA-Cup-Sieg sollte United unter Ferguson erstmals Meister werden. Die zahlreichen neuen Verpflichtungen schlugen langfristig ein: In jenen Jahren kamen u.a. Gary Pallister, Peter Schmeichel, Lee Sharpe, Andrei Kanchelskis und Paul Ince zu den Red Devils. 1991 gewann man sogar den Pokal der Pokalsieger gegen Cruijffs FC Barcelona, woraufhin die schärfsten Kritiker Fergusons trotz inkonstanter Leistungen in der Liga zumindest weitestgehend verstummen sollten.
Zum endgültigen Gewinn des Liga-Titels fehlte es United in dieser Zeit an einem durchschlagskräftigen und kombinationsstarken Stürmers. Alan Shearer – bei dem die Betonung auf „durchschlagskräftig“ liegt – entschied sich gegen Ferguson und wechselte zu Blackburn. Sein Ersatz Eric Cantona zu Beginn der Saison 1992/93 und die vielen Investitionen in den Trainerstab, das Scouting, die Jugendabteilung und die Infrastruktur sollten sich auszahlen.
Doch um den ersten Meistertitel zu ermöglichen, war auch noch ein anderer großer Brocken aus dem Weg zu räumen – an ihm hatte Ferguson jahrelang gearbeitet. Hierzulande ist es vielleicht nicht allen bekannt, doch bis in die späten 90er litt der britische Fußball im Profibereich unter einem chronischen Alkoholproblem. Ferguson führte dagegen einen erbitterten Krieg und sollte zumindest innerhalb seiner Mannschaft siegreich bleiben. So soll er im Frühling 1992 in das Haus seines Flügelstürmers Lee Sharpe gestürmt sein, weil dort eine Party stattfand. Sharpe und der ebenfalls anwesende Ryan Giggs wurden vor versammelter Partygesellschaft zusammengestaucht.
Die erhöhte Disziplin und Professionalität gepaart mit den Umbauarbeiten auf und neben dem Platz sollten sich auszahlen. In den folgenden zwanzig Jahren von 1993 bis 2013 sollte Manchester United gleich dreizehn Ligatitel holen. Insgesamt holte Ferguson mit United zusätzlich noch neunzehn nationale und sechs internationale Pokalsieg. Eine passable Ausbeute pro Jahr.
Diese Titel lagen an vielen Faktoren und Spielern – doch sie alle können auf Ferguson als Ursprung zurückgeführt werden.
Meta-System-Deuter
Ob die Elf um Cantona Mitte der 90er, die große 99er-Mannschaft um die mit Keane, einzelnen Verteidigern, dem Sturmduo Yorke und Cole sowie vielen Rollenspielern auf der Bank wie Solskjaer ergänzte „Class of 92“ (Scholes, Butt, Giggs, Phil Neville, Gary Neville, Beckham aus einem gemeinsamen Jugendteam von 1992) oder die zahlreichen folgenden Mannschaften – allesamt hatten eine unterschiedliche Struktur, ein weitestgehend verändertes Personal und sogar variable Spielsysteme.
Extrem dynamischer Konter, diagonale Flügelstürmer, sogar intelligenter Ballbesitzfußball (insbesondere um 2000 herum), ein immer variierendes Pressing und unterschiedliche Formationen gab es unter Ferguson zu sehen. Zwar war es immer eine Viererkette und ein gewisser Fokus auf überfallartigen Vertikalfußball (bzw. häufig eigentlich Diagonalfußball) sowie meist auch zwei Angreifer und fokussierte Außenstürmer, dennoch gab es unter Ferguson fast schon extreme Unterschiede zwischen den einzelnen Mannschaften.
Die Ursache lag auf der Hand: Ferguson war fast zur Gänze ein Pragmatiker. Schon als Spieler hatte er gelernt, wie wichtig eine passende Organisation im Ballbesitz ist. Dies wurde in den folgenden Jahren immer verfeinert und verstärkt in Richtung kurze Flachpässe ausgerichtet. Viele Trends in der heimischen Liga nutzte Ferguson ebenfalls aus. Vereinzelt nutzte er wie bei Aberdeen leicht asymmetrische Varianten des vorherrschenden Systems (bspw. das 4-3-3) oder war schlichtweg sofort da, wenn sich in der Liga ein neuer Trend andeuten sollte. Wirklich veraltet war Manchester United nur ein paar Mal in Europa, in der heimischen Liga mischte man hohe individuelle Qualität mit mindestens kollektiver Ebenbürtigkeit. Desweiteren hatte Ferguson ein beeindruckendes Gespür für seine Spieler, taktisch wie psychologisch.
Psychologisches Genie, Führungsperson, Vaterfigur, Scoutinggenie
Obgleich Ferguson (zurecht) als autoritär und disziplinfordernd gilt, so konnte er auch anders. Seine Spieler wurden regelrecht zu einem United-Spieler erzogen. Beispielsweise sprachen einige englische Nationalspieler davon, dass Fergusons Spieler sich nach Länderspielen zurückzogen und das Spiel abseits der eigentlichen Mitspieler untereinander analysierten und besprachen.
Dies deutet neben zahlreichen anderen Anekdoten darauf hin, dass Ferguson aus der Zugehörigkeit zu United einen Mythos entfachte und den Spielern mithilfe dessen bestimmte Werte und Prinzipien beibrachte. Innerhalb dieses Rahmens wurden die Spieler aber individuell anders behandelt und ihre Individualität betont.
Gleiches wurde bei der taktischen Einbindung ins Mannschaftsgefüge gemacht. Ähnlich wie heutzutage Carlo Ancelotti (oder gar Udo Lattek als deutsches Beispiel viele Jahre zuvor) konnte Ferguson rein über die Zuteilungen und Verantwortungen für die einzelnen Spieler bestimmte, variable und auf die individuellen Eigenschaften passende Rollen auf gleichbleibenden Positionen bauen.
So blieb zum Beispiel das 4-4-1-1/4-2-3-1 als Formation gleich, doch innerhalb dessen wurden die Muster variiert. Beckham hatte beispielsweise eine Zeit unter Ferguson, wo er als rechter Flügelstürmer Breite gab und sehr weit entlang der Linie und diagonal in die offensive Halbräume vorschob, während er zuvor eine spielmachendere Rolle aus dem rechten defensiven Halbraum übernommen hatte.
Ohne formative Veränderung waren der Rhythmus und die taktischen Bewegungen innerhalb der Mannschaft dadurch komplett anders strukturiert. Ähnliches gab es auch bei vielen anderen Spielern im Laufe der Jahre, besonders Wayne Rooney und Cristiano Ronaldo fielen in den letzten Ferguson-Saisons dadurch auf.
Besonders beeindruckend war seine Hingabe an die Jugendarbeit und das Scouting. „Fergie’s Fledglings“ sind bis heute ein Schlagwort für die Masse an bei United ausgebildeten Jugendspielern. Uniteds Akademie gilt bis heute als eine der, wenn nicht die beste in ganz England und Ferguson war immer stolz darauf sämtliche Karrieren seiner Schützlinge auswendig zu kennen – verewigt in einem privaten und selbstverfassten Archiv. Die korrekte Einschätzung junger Talente und das konsequente Einbauen dieser Spieler dürften womöglich Fergusons Vermächtnis bei United und in seiner Karriere gewesen sein.
Fazit
Fergusons Geheimnis waren neben genialen Einzelaspekten in puncto fachlicher Kompetenz – Strategie und -psychologie, Taktikpsychologie, korrekte Analyse von Einzelpunkten und Spielern, die Einbindung von Spielern selbst und Rollenflexibilität – auch die enorme Kompetenz von nur indirekt mit dem Geschehen auf dem Platz verbundenen Aspekten.
Der Aufbau eines funktionierenden Scoutings, der interne Umbau des Vereins zu einem erfolgsorientierteren, in Bezug auf die Disziplin extrem konsequenten und gleichzeitig trotzdem familiären Umfelds in allen Aspekten und natürlich seine genialen (intuitiven) Psychologiekenntnisse waren seine Markenzeichen. Ferguson hatte außerdem ein einzigartiges Gespür sich Assistenztrainer zu holen, welche einander und auch ihn selbst passend ergänzen, was den langfristigen Erfolg, garniert mit passender System-, Spieler- und Personalfluktuation erst möglich machte.
Einmalig – bis heute.
7 Kommentare Alle anzeigen
Thorben 2. Januar 2015 um 02:03
Sehr schön auch mal etwas über seine Spielerkarriere zu lesen. Etwas das ich so bisher in keiner deutschsprachigen SAF-Retroperspektive gelesen habe. Er war in seiner Zeit als Spieler ein richtig guter Goalgetter, mit einer ganz guten Torquote. Schade das es für ihn nie zu der ganz großen Spielerkarriere gereicht hat, aber andererseits auch gut so, denn sonst wäre er vielleicht nicht der große Trainer geworden der für viele von uns das Nonplusultra der Fußballtrainer darstellt.
HW 1. Januar 2015 um 10:55
Liest sich als hätte RM diesmal mit einer heißen Feder geschrieben. Ein kurzes Review hätte sicher nicht geschadet.
Beim Inhalt fehlt mir leider etwas die Tiefe. Gerade die Phase als er bei United fast vor dem Aus stand ist sicher sehr wichtig, wird aber nur im Schnellflug behandelt. Und Fergies Verhältnis zu den Medien bleibt ganz außen vor? Dabei sagt das einiges darüber wie er seinen Verein führt und beschützt. Er hat immerhin einigen Medienvertretern Jahre die kalte Schulter gezeigt.
Dagegen wird mir der Gerd Müller – SAF Vergleich etwas zu sehr vertieft. Liest sich fast, als müsse unbedingt mal Müllers Spielweise erläutert werden.
Credo 30. Dezember 2014 um 13:52
Guter Überblick. Thanks!
flo 30. Dezember 2014 um 09:38
Danke.. stark!
Im Abschnitt vor
„Aberdeen zerstört die Old Firm und Europas Giganten“
wurde glaube ich einmal St. Mirren mit Aberdeen vertauscht. Oder ich bin beim lesen rausgefallen und habs nich vestanden 🙁 – (sorry if..)
sappydharma 30. Dezember 2014 um 08:17
liverpool- swansea? a chance, maybe?
Isco 29. Dezember 2014 um 18:35
Wider erwarten statt wieder erwarten 😉
BG 29. Dezember 2014 um 17:32
Im Einleitungssatz ist doch sicherlich illustre, statt illustrierte Karriere gemeint oder?
Ansonsten schon mal meinen Respekt, dass ihr das Foto von Sir Alex gefunden habt mit dem vermutlich hässlichsten Pullover der Welt! 😀 Und jetzt mach ich mich erst mal an den Artikel!