Australien – Niederlande 2:3
In einem torreichen Spiel mit wechselnden Führungen besiegt der Favorit aus den Niederlanden die ambitioniert und gruppentaktisch ansehnlich spielenden Australier. Am Ende geben die Unterschiede in der Krafteinteilung und der individuellen Qualität den Ausschlag.
Grundformationen
Louis van Gaal setzte erneut auf die Elf, welche die Spanier im ersten Spiel eindrucksvoll schlug. Diese Entscheidung bedeutete auch ein Festhalten am 5-3-2/3-5-2. Das potentiell offensivere 4-3-3, was Einige gegen den Außenseiter aus Australien erwarteten, ließ erst einmal auf sich warten.
Australiens Trainer Ange Postecoglou musste auf seinen kreativen Rechtsverteidiger und SV-Hipstar Ivan Franjić wegen einer Muskelverletzung verzichten. Für ihn kam der gelernte Innenverteidiger Ryan McGowan in die Mannschaft. Er bildete als Rechtsverteidiger zusammen mit Linksverteidiger Jason Davidson und den Innenverteidigern Matthew Špiranović und Alex Wilkonson die Viererkette. Auch im zentralen Mittelfeld musste Mark Milligan wegen Muskelproblemen durch Matt McKay ersetzt werden. Mit diesen Wechseln ging auch eine Feinanpassung des Systems einher. Während gegen Chile noch auf ein 4-4-2/4-4-1-1/4-2-3-1 gesetzt wurde, gab es in diesem Spiel zunächst ein 4-2-1-3/4-1-4-1/4-3-3 zu sehen. Mark Bresciano orientierte sich nah an Matt McKay und Mile Jedinak, die eine leicht verschobene Doppelsechs bildeten. Dafür rückten die Außenspieler Matthew Leckie und Tommy Oar weit vor und flankierten somit Mittelstürmer Tim Cahill.
Australiens Aufbauspiel…
Gegen einen favorisierten Gegner, der durchaus für ein aggressives Pressing bekannt ist, war zu vermuten, dass ein Außenseiter viel auf lange Bälle und Schnellangriffe über die Flügel setzt. Wer allerdings unsere WM-Vorschau gelesen hat, der weiß, dass Australien hier eine sehenswerte Ausnahme darstellt. Sie zelebrieren ein ruhiges Aufbauspiel mit vielen gut abgestimmten Bewegungen.
In der ersten Halbzeit gab es herauskippende Bewegungen beider Sechser, in die sich auch noch der tiefe Zehner Bresciano einreihte. Dabei war der generelle Ablauf so, dass einer der Sechser, meist McKay, den Innenverteidigern entgegenkam, den Pass empfing, ablegte und steil ging. Genau synchronisiert mit dieser ausweichenden Bewegung kam der zweite Sechser in den geöffneten Raum entgegen und agierte ähnlich, wich allerdings leicht seitlich aus, so dass nun Bresciano zentral zurückfallen konnte. Das Ziel war es wohl, Unordnung in die mannorientierte Spielweise des niederländischen Zentrums zu bringen, um so einem der Passempfänger ein Aufdrehen und somit die Möglichkeit für den Spielaufbau aus der Zentrale zu geben. Als Nebeneffekt sollten durch das Zusammenziehen des Gegners im Zentrum, die Wege zu den Außenverteidigern oder gar Außenstürmern geöffnet werden. Konnte über Außen aufgerückt werden, fungierten McKay und Bresciano als Verbindungen ins Mittelfeld, so dass eine 4-1-2-3 bzw. 4-1-4-1-artige Formation entstand.
…und die Antwort der Niederlande
Die Niederlande ließen sich von diesen Spielchen jedoch nur selten locken. Wesley Sneijder agierte als nomineller Zehner nah am Mittelfeld, so dass es klare Mannorientierungen geben konnte, ohne Räume im Rücken anzubieten. Die Rückfallbewegungen wurden jeweils nur im zweiten Drittel verfolgt, danach wurde der jeweilige Spieler laufen gelassen, um die Kompaktheit nicht zu gefährden. Auch die Flügelverteidiger agierten eher konservativ und blieben nah an der Dreierkette, um keine Gleichzahl in der letzten Linie zu erzeugen. Sie rückten erst bei einem weiten Aufrücken der Außenverteidiger oder nach hohen Seitenwechseln ballnah heraus, um Druck aufzubauen. So standen die Niederlande sehr sicher, und konnten die Australier ohne große Bedenken ihre Ballzirkulation im ersten Drittel zelebrieren lassen.
Sie setzten dabei viel mehr auf kleinere technische Fehler der Australier. Arjen Robben und Robin van Persie warteten bedächtig in den Passwegen zwischen den Innenverteidigern und den zentralen Mittelfeldspielern Australiens. Da Australien in Drucksituationen, die durch die Mannorientierungen im zweiten Drittel häufig entstanden, meist versuchten, durch Rückpässe Zeit und Optionen zu gewinnen, war dieses Zocken recht erfolgreich. Bereits in der 5. Minute konnte Robben so einen Rückpass McKays, der vorher von de Guzman und Sneijder unter Druck gesetzt wurde, abfangen. Nachdem er Wilkinson bereits stehen gelassen hatte, verstolperte er den Ball jedoch, so dass diese Situation aus Sicht der Australier so grad noch einmal gut ging.
Australiens Pressing
Auch im Pressing gegen den Aufbau der Niederlande konnten die Australier durch gute gruppentaktische Abläufe überzeugen. Die Flügelstürmer agierten etwas höher als die Achter und recht eng. Sie hielten jedoch noch gut 5-10 m Abstand zu Hollands Dreierkette. Sie blockierten somit die direkten Passwege oder ein Aufrücken der Halbverteidiger ins Zentrum. Da Cahill das Zentrum der Dreierkette besetzte, somit Vlaar aus dem Spiel nahm und die Halbverteidiger voneinander abschnitt, wurden auf diese Weise Pässe zu den Flügelverteidigern provoziert. Obwohl die Niederlande dies teilweise durch die Einbindung Cillessens kontern konnten, spielten sie über die gesamte Spielzeit nur 24 % der Angriffe durch die Mitte. Durch die etwas tiefere Stellung konnten Oar bzw. Leckie schnell nach Außen nachrücken und zusammen mit den Außenverteidigern doppeln.
Im Zentrum gab es auch bei Australien die Mannorientierungen. Die Sechser und Bresciano verhinderten so die Pässe ins Zentrum, während Cahill weit einrückte, um den einfach Rückpass zuzustellen. Durch die abwartende, balancierende und laufintensive Arbeit der Flügelspieler gab es neben dem 4-2-1-3 auch 4-1-4-1- und 4-4-2-artige Formationen zu sehen.
Kleinere Anpassungen und Tore
Die Niederländer reagierten auf die Mannorientierungen im Zentrum mit ausweichenden Bewegungen von de Guzman und Sneijder, welches gut mit einem Zurückfallen von Robben synchronisiert war. So konnte der dieser van Persies Ablagen nach Vertikalpässen aus der Abwehr verarbeiten und direkt in offener Stellung Tempo aufnehmen. Insbesondere Wilkinson schien in diesen Momenten, große Probleme mit dem Tempo des Bayernstars zu haben. Das Tor für die Niederlande fiel entsprechend in Folge von Abstimmungsproblem in Australiens Innenverteidigung als Robben nach einem Kopfduell im Mittelfeld mit Tempo aus einer zurückgezogenen Position kam. Wilkinson rückte weit nach rechts raus, während Špiranović bei van Persie blieb, der im linken defensiven Halbraum Australiens die Tiefe besetzte. So konnte Robben nach einem gewonnen Zweikampf bis zum Tor durchlaufen und vollenden. Australien ist jedoch zu Gute zu halten, dass diese Chance mehr zufällig als aus einem geordneten Spielzug heraus entstand.
Der Ausgleich fiel jedoch quasi im Gegenzug. Daley Blind ließ sich einmal durch die Zirkulation von Australien von seiner Flügelposition ins Zentrum ziehen, so dass McGowan rechts freigespielt werden konnte. Seine Flanke verwandelte Cahill, der sich vorher intelligent zwischen dem Zentrums- und dem rechten Halbverteidiger der Niederländer positioniert hatte, sehenswert.
In der Folge der Treffer agierte Australien nun eher im 4-1-4-1 mit Jedinak als tiefem Mittelfeldlibero. Dieser sollte das Zurückfallen Robbens auffangen. Bresciano orientierte sich näher zu Sneijder. Nigel de Jong wurde freigelassen und nur situativ attackiert. Auf diese Weise konnten die Australier das Spiel beruhigen und sogar über ihr Aufbauspiel wieder selbst etwas Dominanz aufbauen. Zur Halbzeit hatte Australien mehr Ballbesitz und es stand nach Expected Goals 0,7 zu 0,4.
Die Rückkehr zur Viererkette
Diese (Schein)Dominanz der Australier konnte sich Louis van Gaal natürlich nicht gefallen lassen. Schon kurz vor der Halbzeit wurde er durch die Gehirnerschütterung von Martins Indi gezwungen, zu wechseln. Anstatt jedoch einen Verteidiger zu bringen, entschied er sich für den quirligen Linksaußen Memphis Depay, was in der Folge eine Systemumstellung auf beiden Seiten bedeuten sollte.
Offensichtlich war direkt nach dem Anpfiff die Umstellung der Niederländer auf eine Viererkette. Im Mittelfeld wurde durch Sneijders weiträumige Spielweise zwischen 4-2-1-3/4-3-3- und 4-2-3-1-artigen Formationen gewechselt. Das 4-2-1-3 der Australier passte auf diese Spielweise nicht mehr. Die Innenverteidiger standen zu eng, um von den Flügelspielern ohne eine komplette Aufgabe der Flügelkontrolle blockiert zu werden. Bresciano war gegen die Doppelsechs der Niederländer in Unterzahl, während McKay und Jedinak Zuordnungsprobleme aufgrund der Bewegungen Sneijders hatten. Dessen gefährlicher Abschluss in der 50. Minute dient hier als gutes Beispiel.
Auch im Pressing konnten die Niederländer den Druck so erhöhen. Sie agierten nun im 4-3-3 und etwas höher. Der Dreiersturm setzte Australiens Abwehr früh unter Druck, während die Rückfallbewegungen von McKay, Jedinak und Bresciano von de Guzman, Sneijder und de Jong mannorientiert verfolgt wurden. Dabei machten sie nicht wie bisher an der Grenze zum letzten Drittel Halt, sondern verfolgten ihre Gegenspieler konsequent, so dass breite Rauten in der vordersten Linie entstanden. Die Australier konnten ihr Aufbauspiel nicht mehr durchziehen und waren nach der gelungenen Anstoßvariante in den ersten Minuten der zweiten Halbzeit klar unterlegen.
Australien reagiert und trifft
In der 51. Minute reagierte Postecoglou und brachte mit Oliver Bozanic einen abschlussorientierteren Akteur für den eher kombinationsorientierten Achter Marc Bresciano. Australien gab das ruhige rotierende Aufbauspiel im Zentrum zu Gunsten von mehr Offensivpräsenz und einem stärkeren Flankenfokus auf. Der Wechsel wurde direkt beim ersten Angriff mit einem Elfmeter nach einem mit der Hand geblockten Abschluss Bozanics belohnt. Diese Aktion war jedoch eher ein Zufallsprodukt als ein direktes Ergebnis der taktischen Umstellung.
In der Folge presste Australien in einem 4-2-3-1. Bozanic füllte das Loch im Zentrum, das durch die etwas breitere Stellung von Leckie und Oar entstand. Diese hatten in ihrer etwas zurückgezogenen Stellung nun wieder Zugriff auf die Halbräume und auf die Außenverteidiger. Die Sechser McKay und Jedinak spielten mannorientiert gegen die Sechser der Niederländer. Sneijder wurde an die Innenverteidigung übergeben und bei seinem Zurückfallen weit von Wilkinson verfolgt. Dieses Pressing war im Angesicht der Führung ziemlich riskant, wurde aber direkt nach dem Tor mit einem hohen Ballgewinn belohnt, der nur aufgrund eines schlampigen Passes von Cahill nicht zu einer großen Torchance führte.
…und kassiert
Die Risiken dieser Spielweise zeigten sich im direkten Gegenzug. Depay, Blind und Sneijder ballten sich auf ihrer linken Angriffsseite. Depay ging ins Dribbling gegen Jedinak und McGowan, so dass Sneijders Gegenspieler Wilkinson im Rückraum absicherte. Dieser nutzte den Platz, um mit Depay zu kombinieren und diesem im Zehnerraum freizuspielen. Zugleich wurde durch das Herausrücken des Innenverteidigers Raum im Zentrum geöffnet, den van Persie gedankenschnell nutzte. Depay bediente ihn durch die von Wilkinson geöffnete Lücke zwischen den Innenverteidigern – Tor!
In der Folge agierte Australien im höheren Pressing wieder eher im 4-1-4-1 mit der altbekannten Mannzuordnung im Zentrum, wobei Bozanic den Part von Bresciano übernahm. Sobald die Niederländer in die australische Hälfte eindrangen, zogen sie sich schnell in ein 4-2-3-1 zurück. Dabei war insbesondere die extreme horizontale Kompaktheit der Australier bemerkenswert. In einigen Situationen stand die komplette Mannschaft auf der ballnahen Seite.
Im eigenen Ballbesitz waren die Australier nach wie vor risikofreudig. Oar und insbesondere Leckie rückten früh sehr weit ein, so dass die Außenverteidiger ebenfalls weit aufrückten, um die so entstehenden Räume zu nutzen. Somit war das australische Spiel mit und ohne Ball extrem laufintensiv. Am Ende kam McKay auf 12,7 km, Bresciano und Bozanic zusammen auf 12,2 km, auch Jedinak, Leckie und Davidson liefen über 11 km, während bei den Niederlanden nur Sneijder und Janmaat über 11 km erreichten.
Fast wären die Australier für ihre Mühen belohnt worden. Nach einem guten Nachsetzen McKays verpassten Oar und Leckie jedoch die Riesenchance zur Führung. Im direkten Gegenzug gab es das 3:2 für die Niederländer. Während Jedinak und Leckie auf der rechten Defensivseite doppelten, konnte sich Depay durch ein diagonales Zurückfallen aus der Manndeckung von Rechtsverteidiger McGowan lösen. Über einen Rückpass wurde sein nächster Gegenspieler Jedinak weggezogen, so dass er im Rücken der Deckung im Zehnerraum freigespielt werden konnte. Er hatte alle Zeit der Welt, sich in Ruhe zu drehen und glücklich mit einem Fernschuss die Führung zu erzielen.
Abschließendes Schaulaufen
Mit der erneuten Führung der Niederländer war bei den Australiern die Luft raus. Sie mussten nach und nach der enormen Laufleistung Tribut zollen. Postecoglou reagierte zwar schnell, brachte mit Halloran für Cahill (Rechtsaußen, dafür Leckie ins Sturmzentrum) und Taggert für Oar (Sturm, dafür Leckie auf links) frische Leute für die Offensive und erhöhte durch höhere Positionen von Bozanic (erst 4-2-3-1, dann 4-4-2) das Risiko – Ausrichten konnte er damit jedoch wenig. Nur Leckie versuchte mit seinen Dribblings ein paar Fouls provozieren. Diese wurden jedoch entweder nicht als solche erkannt oder die Freistöße brachten nichts ein.
Louis van Gaal wechselte mit Georginio Wijnaldum für Jonathan de Guzman sowie Jeremain Lens für den von Krämpfen geplagten Robin van Persie positionstreu. Die Niederländer brachten die knappe Führung ohne größere Probleme über die Zeit.
Fazit
In einem von Feinjustierungen der Mannorientierungen im Zentrum geprägten Spiel konnten die Niederlande sich gegen den Außenseiter aus Australien durchsetzen. Letztere beeindruckten jedoch mit einer fast frechen Ruhe im Aufbauspiel und einem guten, kollektiven und kompakten Pressing – insbesondere der Außenstürmer Leckie und Oar. Die Umstellung von einer Dreier- auf eine Viererkette erlaubte den Niederländern mit dem Dreiersturm mehr Druck im Pressing. Die defensiven Vorteile der Dreierkette, wie beispielsweise die Kontrolle des Zwischenlinienraums durch situatives Herausrücken, waren gegen das nur im ersten und zweiten Drittel präsente Zentrumsspiel der Australier nicht so entscheidend. Die Optionen im Aufbauspiel wurden von den Australiern durch ein gut angepasstes Pressing neutralisiert. Am Ende mussten die Australier jedoch auch ihrer kraftraubenden Spielweise Tribut zollen.
2 Kommentare Alle anzeigen
mh 21. Juni 2014 um 14:09
Die erste Halbzeit war m.E. durchaus ein Unikat des bisherigen Turniers, nämlich die Rückkehr der 1:1-Duelle und fast flächendeckenden Manndeckung auf die grosse WM-Bühne 🙂
Dass dabei in beiden Teams die sehr schnellen und explosiven Stürmer und als Team in Gänze die laufstarken Australier im Vorteil sein würden, war keine Überraschung. Ebenso die vielen Chancen und Tore…
Somit war es richtig von van Gaal, das Spiel durch Umstellung auf 4-3-3 wieder auf eine eher strategische Ebene zu ziehen, in der die Niederländer ihre höhere individuelle Klasse (auch in der Ballbehauptung) besser zeigen konnten…
Gatling 21. Juni 2014 um 08:45
Na also, jetzt dürften die „Top-Favoriten Ausrufer“ auch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden sein.
Die Holländer haben in diesem Spiel wie eh und je gespielt – extrem gut und ziemlich schlecht liegen bei ihnen wie so oft in der Vergangenheit nahe zusammen. Das geht in der Gruppenphase gegen einen „Hammergegner“ wie Australien gut, in der KO-Phase ist das reines Glücksspiel.
Aktuell sind sie somit „WM-Teilnehmer“ aber sicher kein Top-Favorit.
Australien hätte gerade mal über einen besseren Torwart und eine weitere ideenreiche Offensivkraft verfügen müssen und sie wären wohl mindestens mit einem Unentschieden wenn nicht sogar mit dem Sieg vom Platz gegangen.