Lazio – AC Milan 3:2
Das „kleinere“ der beiden Serie-A-Topspiele vom Samstagabend konnte durchaus mit Spektakel aufwarten, obwohl es auch einige Leerlauf-Phasen gab. Nach der 3:0-Führung für die bessere Mannschaft hätte Milans Umstellung auf breites Flankenspiel fast für Kloses „schwedisches“ Déjà-vu gesorgt.
Wechselwirkung der Formationen
Die Hausherren begannen in der unter Neu-Trainer Vladimir Petkovic üblichen 4-1-4-1-Formation und ohne größere Überraschungen, wobei Stammtorhüter Marchetti sich beim Aufwärmen verletzte und von Bizarri ersetzt werden musste. Vor der aktuell – in Anbetracht der Verletzung Radus und der Streitigkeiten Diakites mit dem Vereinspräsidenten – gesetzten Viererkette mit den offensiven Außenverteidiger begann Ledesma auf der Sechs, während Hernanes als Spielmacher und Alvaro Gonzalez als beweglicher und defensivstarker Balancespieler die Achterpositionen besetzten. Ebenso wie die beiden nominellen Außenspieler Candreva und Mauri spielten die beiden Achter in Lazios 4-1-4-1-Mittelfeldpressing sehr mannorientiert gegen die Mailänder Außenverteidiger bzw. Halbspieler (Hernanes gegen Nocerino, González gegen Montolivo), während Klose Milans einzigen Sechser de Jong in seinem Deckungsschatten verschwinden ließ.
Dadurch kamen die Gäste, deren übliche 4-3-1-2-Rautenformation sich durch die Zwischenpositionen von Boateng und El Shaarawy zu einer 4-3-3-Anordnung verschieben konnte, im Spielaufbau aus der wenig spielstarken Innenverteidigung kaum ins Mittelfeld hinein, da alle Optionen zugestellt waren oder zu hoch standen. Diese fehlenden Verbindungen sorgten für viel Querschiebe in der hintersten Reihe und oftmals auch für lange Bälle.
Solche gab es zu Spielbeginn allerdings auch von Lazio – nicht aus Ratlosigkeit, sondern durch den Druck, den die meist in einem 4-3-3-artigen Schema und mit starker Mannorientierung auf den Außenbahnen pressenden Gäste etwas überraschend ausübten. Im Verlauf der ersten Halbzeit erkannte Lazio dann jedoch mehr und mehr, dass zwar die Strukturen des Mailänder Pressings für enge und knifflige Situationen sorgen konnten, diese aufgrund der etwas halbherzigen Ausführung der Mailänder Offensivspieler aber durch riskante Pässe oder beherzte Dribblings leicht zerplatzten.
Milans defensive Probleme im Mittelfeldbereich offensichtlich gegen Lazios Kollektiv
Folglich gelang den Hausherren der Spielaufbau mit zunehmender Dauer immer besser. Nach dem Überspielen der ersten Pressing-Welle konnte Lazio dann gegen die sehr enge Mailänder Stellung in die geöffneten ballfernen Halbräume oder auf den ballfernen Flügel verlagern, wo insbesondere Lulic auf links viel Dampf machte. Weil außerdem die überspielten Offensivspieler Milans anschließend nicht mit zurückarbeiteten, sondern das Verteidigen weitgehend ihren sieben Teamkollegen überließen, gab es desweiteren Räume im Mittelfeld für Lazio. Exemplarische Beispiele dafür waren der Führungstreffer durch Hernanes, auch wenn die Situation ein Konter nach einer Standardsituation für Milan war, und vor allem das zweite Tor durch Candreva. Schon beim ursprünglichen Angriff über halblinks sah man die offenen Räume im Mittelfeld, welche auf halbrechts Candreva erneut viel zu große Freiheiten bescherten, nachdem Lazio mit besserem Gegenpressing das Leder nach einem Fehlpass zurückerobert hatte.
In Sachen Raumsicherung und vor allem Raumnutzung im Mittelfeld war Lazio also Milan überlegen, weshalb auch die angesprochenen und eigentlich wenig ansehnlichen langen Bälle, die beide Mannschaften gerade zu Spielbeginn aufgrund ihrer Schwierigkeiten im Aufbauspiel schlugen, bei den Hausherren zumindest etwas effektiver (gewesen) waren. Verglichen mit der laschen Abwehrarbeit der Milan-Offensive einerseits und dem zögerlichen Aufrücken der defensiveren Mailänder Spieler andererseits agierten die Biancocelesti kollektiver und konnten daher effektiver auf die zweiten Bälle pressen. Über den Raum hatte Lazio mehr Kontrolle über das Mittelfeld.
Milans Fehler im Offensivspiel
Milan hingegen schaffte es viel zu selten, mit ihrer Offensive die Räume neben Lazios einzigem Sechser Ledesma, also die nominellen Schwachstellen einer 4-1-4-1-Formation, zu überladen, da sie kaum einmal in diese hohen Bereiche hineinkamen. Selbst wenn dies gelang, scheiterten sie bei ihren Überladungsversuchen an der zu geringen Präsenz, den fehlenden Verbindungen und der schwachen Staffelung der Offensivspieler. Verstärkt wurde dieses Problem durch die unpassende Reaktion auf das mannorientierte Vorgehen Lazios in der Mittelfeldzentrale, welches kaum mit Raum schaffenden off-the-ball-runs versucht wurde aufzubrechen. Eine der ganz wenigen Ausnahmen war die Szene unmittelbar nach dem 1:0, als André Dias kurz vor der Linie mit starkem Einsatz rettete – Montolivo, der ansonsten recht tief blieb und daher kaum unterstützend in Kombinationen eingebunden werden konnte, öffnete mit seinem Ausweichen auf rechts den Passweg in den halblinken Halbraum, wo immerhin zu dritt kombiniert wurde.
Statt überladenden Kombinationen lief es bei Milan dann – sobald sie einmal aufgerückt und in das Angriffsdrittel gekommen waren – wie schon bei der Derby-Niederlage gegen Inter aufgrund der schwachen Verbindungen und der zu flachen Stellung in Strafraumnähe, die Dreiecksbildung erschwerte, oftmals auf simple Flanken hinaus, die allerdings erneut kaum zu Torgelegenheiten führten. Das geringe Aufrücken zeigte sich auch hier als schwerwiegendes Problem, während die Ineffektivität der Außenverteidiger ihren Teil beitrug – gerade Antonini wusste wenig Gewinnbringendes zu produzieren.
Zweite Halbzeit
Mit der Einwechslung von Emmanuelson für Kevin-Prince Boateng stellte Allegri zur zweiten Halbzeit endgültig auf ein 4-3-3 und ein konsequenteres Flügel- und Flankenspiel um, was nur wenige Minuten später mit einem zweiten Stürmer, nämlich Pato, anstelle von Nocerino zementiert wurde.
Auf dem gerade bespielten Flügel sollte der jeweilige Offensivspieler zusammen mit seinem unterstützenden Außenverteidiger für Flanken in die Mitte sorgen, wo die beiden Stürmer von den jeweils ballfernen Außenspielern unterstützt wurden. Auch wenn diese Strategie wenig kreativ, sondern vorhersehbar war, bedeutete sie zumindest eine klare Marschrichtung, die angesichts der enttäuschenden spielerischen Leistung vor der Halbzeit und eines 0:2-Rückstands durchaus ihren Sinn als Tore-Erzwingung hatte und auch dank der schieren Präsenz in der Box zu einigen ordentlichen Aktionen führte.
Auf der anderen Seite öffnete die sehr offensive Ausrichtung der Außenverteidiger allerdings große Räume für Gegenstöße, was sich bereits rächte, ehe die geplante „Gewalt-Aufholjagd“ überhaupt richtig begonnen hatte. Wie allerdings Klose förmlich zum 3:0 spazieren konnte, weil die Milan-Innenverteidiger nicht aufpassten oder Abate abschaltete, und wie einfach es dem deutschen „Fast-Rekordtorschützen“ gemacht wurde, grenzte schon an Arbeitsverweigerung der Gäste.
Als nach einem gewitzten Freistoß von Emmanuelson auf seinen Landsmann Nigel de Jong dann allerdings der 3:1-Anschlusstreffer fiel, bekam die Partie noch einmal Spannung, denn Milans Vorgehen sorgte weiterhin für Druck, wenn auch nicht immer Konkretes dabei herauskam. Dank El Shaarawys Tor zum 3:2 und dem schlechten Ausspielen von Konterszenen seitens Lazio kam es doch noch zur nicht mehr für möglich gehaltenen Zitter-Endphase, in der Allegri mit der Einwechslung Bojans noch einmal volles Risiko ging. Letztlich brachte Lazios weitgehend gute Endverteidigung (Biava und Dias, die viele Bälle klärten und mit gutem Timing antizipativ aus der Kette hinausrückten) den Sieg aber über die Zeit.
Fazit
Dieser Sieg war in der Gesamtbetrachtung auch verdient, da Lazio in der ersten Halbzeit in mehreren Punkten überlegen war – nicht haushoch, aber zu einem gewissen Grad überlegen. Gerade die offensive Harmlosigkeit der Gäste war enttäuschend und machte es Lazio möglich, sogar in manchen Phasen auf ein riskanteres 4-4-2-Pressing zu wechseln. Mit Gewalt über die Flügel konnte Milan dann im zweiten Durchgang die etwas zu hohe Führung für die Hausherren verkürzen, sich mit diesem Risikospiel über die Außen aber nicht mehr das Remis verdienen.
Beim Meister von 2011 geht die Krise damit weiter und Trainer Allegri steht immer mehr in der Schusslinie – angesichts von 5 Niederlagen in den bisherigen 8 Liga-Spielen sowie eminenten Problemen mit dem Toreschießen dürften es unruhige Tage werden. Man muss natürlich den Verlust an mehreren wichtigen Spielern in die Bewertung mit einfließen lassen und man kann Allegri für sinnvolle taktische Reaktionen während der Spiele loben, doch das grundsätzliche und normale Spiel von Anpfiff an weist derzeit zu große Defizite, insbesondere die fehlende Durchschlagskraft, auf. Auch wenn die aktuelle Milan-Mannschaft personell nicht die Möglichkeiten für einen ernsthaften Meisterkampf hat, so sollte dennoch ein solides Abschneiden möglich sein, was derzeit nicht der Fall ist. In der Offensive haben die fehlenden Verbindungen, das schwache Nachrücken und die unpassende Staffelung nicht ausschließlich etwas mit personellen Aspekten zu tun.
Während Milan sich nun erst einmal stabilisieren muss, kämpft Lazio an der Spitze mit und hat zumindest sehr gute Aussichten auf einen CL-Platz. Ohne wirkliche Neuzugänge (Ederson wurde früh verpflichtet und hatte mit einigen Verletzungen zu tun, Ciani hingegen kam spät) hat es Vladimir Petkovic geschafft, seine Mannschaft auf eine sehr stabile Erfolgsspur zu bringen. Das Team scheint deutlich konstanter zu sein als vergangene Saison (auch durch eine kohärente und eher selten wechselnde Formation) und in der Offensive werden bereits Ansätze von längeren Kombinationsangriffen deutlich. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die offensivere Aufstellung – unter Reja fehlten aufgrund von teilweise vorsichtigen Außenverteidigern, vor allem aber aufgrund des geringen Aufrückens aus dem Mittelfeld die Präsenz und die Verbindungen in der Offensive, was eine Interaktion erschwerte. Aktuell spielt Lazio noch keinen Gegner mit Kurzpassstafetten an die Wand, doch erzeugen sie offensiv mehr Druck und haben bereits einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht.
Hinweis an die Fans der Serie A, von Juventus und Napoli: Die Analyse des großen Duells war taktisch nicht die große Offenbarung und wird daher „nur“ in der Napoli-Teamanalyse enthalten sei, welche am Montag im Rahmen von „Blick über den Tellerrand“ erscheint.
1 Kommentar Alle anzeigen
JayM 23. Oktober 2012 um 14:35
danke für die spielanalyse!
wollte nur anmerken, dass es zwar stimmt, dass lazio’s „standardformation“ unter petkovic derzeit ein 4-1-4-1 ist, er aber immer wieder mit anderen systemen experimentiert und anfangs der saison dreimal 4-3-3- und einmal 4-4-2 gespielt hat.
auch im training werden immer wieder neue formationen probiert, auch mit seiner geliebten 3er-abwehr. er selbst sagt, dass er grundsätzlich mit mehreren verschiedenen systemen spielen möchte, ja nach gegner und notwendigkeit. in den freundschaftsspielen vor saisonbeginn hat er einige male sogar die formationen mitten während der halbzeit gewechselt.
ich bin also voll gespannt was petkovic taktisch noch so alles zeigen wird, die saison ist ja noch jung! würde mich freuen, wenn ihr darauf in zukunft ein auge haben könntet 🙂