Vorschau: Finalspieltag Gruppe A

In Gruppe A haben noch alle Mannschaften realistische Chancen auf das Viertelfinale. Deutschlands mögliche Viertelfinalgegner tragen (auch taktisch) sehr spannende „Finalspiele“ aus.

Was bisher geschah

Am ersten Spieltag zeigten die Polen eine starke erste Halbzeit, gerieten dann noch in Überzahl und in dieser gaben sie das Spiel aus der Hand. Danach überrollten die russischen Konter eine ungeduldige tschechische Mannschaft, die übermotiviert versuchte, das Spiel zu beherrschen.

Polen – Griechenland 1:1
Russland – Tschechien 4:1

Spieltag zwei zeigte zuerst eine verbesserte tschechische Mannschaft, die ihre Ruhe wiederfand und die griechische Defensive früh mit zwei schnellen Angriffen aus den Angeln hob, bevor das Spiel langweilig ausplätscherte, da Griechenland die spielerischen Mittel fehlten. Russland scheiterte im Anschluss an tiefstehenden Polen, die keine Konter zuließen und sich zu einem verdienten Unentschieden kämpften.

Tschechien – Griechenland 2:1
Polen – Russland 1:1

Ausgangslage

Die aktuellen Tabellenführer Russland und Tschechien wären bei einem Sieg natürlich beide weiter, für Russland reicht auch ein Unentschieden sicher aus. In den anderen Fällen wird es für die beiden aber komplizierter. Für den Gastgeber Polen ist die Ausgangslage hingegen völlig klar: Ein Sieg gegen das Nachbarland bedeutet das Viertelfinale, alles andere das Ausscheiden. Gleiches gilt für Griechenland, die durch den Sieg mit Russland punktgleich wären und das das direkte Duell gegen die Russen gewonnen hätten und durch Tschechiens hohe Auftaktniederlage auch bei einem Dreiecksvergleich mindestens Zweiter wären.

Jener Dreiecksvergleich könnte die Tabellensituation arg verkomplizieren. Sollte Griechenland nämlich gewinnen, dann ist Russland vom Ergebnis des Parallelspiels abhängig. Ein Unentschieden der Tschechen würde nämlich bedeuten, dass Russland die Gruppe sogar trotzdem gewinnt (außer Griechenland siegt mit mindestens vier Toren Vorsprung). Jedes andere Ergebnis bedeutete aber das Ausscheiden. So kann es passieren, dass Russland das gesamte Spiel lang an der Tabellenspitze steht und dann durch einen Last-Minute-Treffer in einem anderen Stadion direkt rausfliegt. Griechenland würde in dem Fall an Russland vorbeiziehen, ohne etwas getan zu haben.

Grund für diese etwas absurde Möglichkeit ist die Regelung der „internen Tabelle“. Wenn drei Mannschaften punktgleich sind, wird der Dreiecksvergleich dieser drei Teams gewertet, den Russland wegen des hohen Auftaktsieges wahrscheinlich gewinnen würde, womit sie vor Griechenland wären. Sollte Tschechien aber nicht punktgleich sein, dann zählt schlicht der direkte Vergleich zwischen den zwei punktgleichen Teams – bei einem griechischen Sieg wäre Griechenland natürlich vorn.

Zusammengefasst: Polen und Griechenland müssen gewinnen, Russland reicht ein Unentschieden und vielleicht auch eine knappe Niederlage, während Tschechien bei einer Niederlage sicher draußen ist und bei einem Unentschieden nur vielleicht weiter.

Russland – Griechenland

Beginnen wir mit dem vermeintlich klareren Spiel der Gruppe. Tabellenführer trifft auf Tabellenletzten, Russland ist individuell und spielerisch deutlich überlegen. Dass beide aber das gleiche Ergebnis gegen Polen erzielten, deutet an, dass die Situation womöglich weniger deutlich ist, als sie erscheint. Russland erzielte gegen Tschechien ein deutlich besseres Ergebnis, weil sie eine überaus starke Kontermannschaft sind und Tschechien an diesem Tag zu Kontern einlud; gegen die geduldigeren Polen taten sie sich deutlich schwerer. Auch Griechenland wird geduldig verteidigen und im eigenen Aufbauspiel keine Räume öffnen, da sie sich auf unriskantes Flügelspiel beschränken. Somit wird dieses Spiel möglicherweise sehr viel knapper als man vermuten könnte.

Mögliche Formationen – bei Griechenland gibt es mehr Fragezeichen als auf russischer Seite.

Insbesondere Griechenlands Offensivkraft in diesem Spiel lässt sich äußerst schwer beurteilen. Sie wechselten bisher personell und taktisch viel durch, weshalb es schon nicht leicht vorherzusagen ist, in welcher Konstellation sie überhaupt antreten. Unabhängig davon werden sie aber vermutlich versuchen, zu Flanken zu kommen. Da Arshavin und Dzagoev zu recht zentraler Stellung neigen, ist es eine passende Schwäche des russischen Systems, dass sie recht viele Flanken zulassen. Gleichermaßen sind sie aber durch die äußerst luftstarken Innenverteidiger sehr gut darin, Flanken zu verteidigen. Von daher ist es überaus schwierig vorherzusagen, ob Griechenland zu Chancen kommt. Zumindest wird es aber Strafraumsituationen geben und dann kann mit etwas Glück immer irgendwie ein Tor entstehen – siehe Cechs Patzer am zweiten Spieltag, den Gekas verwerten konnte.

Eine umgekehrte Situation gibt es für Russlands Offensive. Diese benötigt Räume zwischen den Linien um die schnellen und rochierenden Angriffsspieler in Szene zu setzen, einmal in Fahrt sind diese aber kaum noch aufzuhalten. Griechenland wird es in abwartender Stellung vermutlich gut gelingen, die wichtigen Mittelfeldräume zu schließen, aber in den Situationen, wo dies misslingt, könnte es sehr schnell zu russischen Großchancen kommen. Die griechische Viererkette zeigte sich bisher anfällig für Vertikalläufe und Schnittstellenpässe. Somit wird es vermutlich nicht viele kleine Chancen geben wie auf der anderen Seite, sondern Russland wird seltener in den Strafraum kommen, dann aber gleich richtig.

Zentrale Fragen:

  • Wie aggressiv verteidigt Russland die Flügel? Versuchen sie früh zu stören um Griechenland aus den Flankenräumen fernzuhalten? Falls ja, kann Griechenland die resultierenden Räume nutzen?
  • Kommt Russland zwischen Griechenlands Linien? Wie formiert sich Griechenland im Pressing? Kann die zuletzt anpassungsfähige Zentrale aus Karagounis und Fotakis (der vermutlich wieder von Maniatis ersetzt wird) verhindern, dass die russischen Zentralen sich freirochieren?
  • Wie kommt Karagounis mit Shirokov zurecht? Der Russe zeigt gerne Vorstöße, Karagounis verteidigt lieber nach vorne als nach hinten. Welche Dynamik ergibt sich zwischen den beiden? (Welche Rolle kann Dzagoev in Karagounis‘ Rücken dabei spielen?)
  • Wie kommt Arshavin ins Spiel? Durch den nach rechts hängenden Zehner bzw. Achter Maniatis, der Außenverteidiger-Erfahrung hat, wird er es möglicherweise sehr schwer haben Bälle zu bekommen und auch, mit denen zu arbeiten.
  • Wie diszipliniert und voraussichtig sind die offensiven Flügelspieler beider Seiten bei Vorstößen der gegnerischen Außenverteidiger? Auf beiden Seiten gab es damit schon Probleme, da die Flügel eher zentral agieren. (Zudem träumte einer unserer Lektoren, dass Zhirkov ein Tor per Heber erzielen wird!)
  • Wie stellt sich Griechenland offensiv auf? Die Personalwahl kann ebenso entscheidend werden wie eine taktische Finesse.
  • Gelingt es der griechischen Viererkette die Rochaden von Kerzhakov in den Griff zu bekommen? Die resultierenden Lücken und Räume sind Russlands vielleicht wichtigste Waffe. Kann Griechenland diese verhindern?

Polen – Tschechien

Dieses Spiel ist wohl noch schwerer zu prognostizieren als das erstere. Beide Mannschaften zeigten bisher mehrere Gesichter, schwankten zwischen Naivität und Genialität. Außerdem einte beide zuletzt, dass sie einen starken Fokus auf ihre rechten Seiten hatten. Der Punkt, welcher klar sein dürfte, ist der, dass Tschechien vermutlich dominieren wird. Im Mittelfeldzentrum sind sie bedeutend stärker besetzt und ihr Spiel ist weit weniger auf Konter ausgerichtet als das der Polen.

Anmerkung: Der Text geht im Folgenden davon aus, dass Rosicky spielen wird, da dies momentan als wahrscheinlichere Variante gilt. Sollte er wider Erwarten doch fehlen, wird er voraussichtlich eins-zu-eins durch Kolar ersetzt. Dies wäre zwar eine große Schwächung für Tschechien, es würde sich aber wohl nichts grundlegend taktisch ändern.

Mögliche Formationen – doch auf beiden Seiten ist auch ein 4-2-3-1 denkbar.

Die Frage ist, welche Ballgewinne Polen erzielen kann. Dies ist in erster Linie von Tschechiens Spiel und in zweiter Linie von Polens Pressing und Formation abhängig. Im 4-2-3-1, das Smuda im ersten Spiel spielen ließ, dürften wertvolle Ballgewinne im Mittelfeld mit Spielern vor dem Ball deutlich wahrscheinlicher sein. Das 4-5-1 (oder 4-1-4-1) des zweiten Spiels bietet aber eine bessere Absicherung, die sehr wichtig sein könnte, wenn Tschechien ein gutes Spiel macht.

Für Tschechien ergibt sich ebenfalls die Frage, ob sie zum 4-2-3-1 zurückkehren und Plasil wieder auf die tiefste Mittelfeldposition zurückkehrt, oder ob Hübschman weiterhin im 4-1-4-1 den Abräumer und Verteiler vor der Viererkette gibt. Theoretisch wäre es für Tschechien vermutlich das beste, wenn sie die gleiche Formation spielen wie Polen. Falls bei Polen Obraniak wieder als ausweichender Zehner spielt, sind die Halbräume neben Hübschman anfällig und ein zweiter Sechser wäre wichtig; auch im Spielaufbau könnte er dann entscheidend sein. Sollte Polen den Zehnerraum aber offen lassen, wäre eine höhere Stellung des zentralen Mittelfelds vermutlich sinnvoller, damit man die drei polnischen Sechser besser pressen kann; genug Spielstärke wäre gegen den dann alleinigen Lewandwoski auch mit drei Spielern hinten garantiert.

Da Tschechien im zweiten Spiel deutlich besser aussah, ist aber anzunehmen, dass Bílek dem 4-1-4-1 treu bleibt. Smuda wird vermutlich stärker hin- und hergerissen sein. Eventuell gibt Gebre Selassie den Ausschlag: Rybus zeigte sich im ersten Spiel als zu langsam in der Rückwärtsbewegung, was gegen Tschechiens sehr schnell vorstoßenden Rechtsverteidiger schlimm enden könnte. Auf der anderen Seite muss Polen dringend gewinnen. Gut möglich, dass man mehrere taktische Konstellation in diesem Spiel zu sehen bekommt.

Zentrale Fragen:

  • Kann eine Mannschaft im Pressing nachhaltigen Zugriff auf die gegnerische erste Kette bekommen? Beide Mannschaften fächern vermutlich in eine Dreierkette auf, wobei der rechte Außenverteidiger aufrückt. Rücken Pressingspieler nach um diese breite Kette ernsthaft zu attackieren?
  • Wie kommen Obraniak (oder Rybus) und Pilar gegen Gebre Selassie und Piszczek zurecht? Wird es möglicherweise einen Umstellung oder einen personellen Wechsel geben, um die Außenverteidiger zu blocken? (Jiracek gegen Piszczek?)
  • Welche Räume ergeben sich auf beiden Seiten halblinks vor der Abwehr (welche Formationen?)? Beide Teams versuchen in ihrem halbrechten Zehnerraum zu überladen, wie reagieren die entsprechenden Defensivspieler?
  • Wie geduldig und gestaffelt gestalten die Tschechen ihr Aufbauspieler? Sind sie gut abgesichert, funktioniert das Gegenpressing oder öffnen sich Räume für polnische Konter? Wie hochwertig sind Polens Ballgewinne?
  • Welche Individualkünstler können sich in Szene setzen? Glänzt Rosicky gegen Polens mittelmäßige Zentralspieler? Entwickelt Kuba Durchschlagskraft gegen den weniger überzeugenden Limbersky? (Wird deswegen eventuell doch wieder Kadlec aus der Innenverteidigung „geopfert“ und nach links gestellt?)
  • Kann Lewandowski die langen Bälle lang genug halten? Insbesondere im 4-5-1 wird dies ein ausschlaggebender Faktor bei den polnischen Kontern sein, damit die tiefstehenden Mittelfeldspieler nachrücken können. Wie kommen die beweglichen, aber nicht besonders robusten Kadlec und Sivok mit ihm zurecht? Kann Tschechien wirkungsvoll rückwärts pressen?
  • Setzt sich Durchschlagskraft oder Spielkultur durch? Die Polen werden in den Strafraum hinein mehr Druck entwickeln, die Tschechen sind im kontrollierten Mittelfeldspiel überlegen. Welche Qualität setzt sich durch?

Ausblick

Die Gruppe A wurde in den meisten Teilen der Öffentlichkeit leider wenig wahrgenommen. Dabei ist sie in verschiedener Hinsicht die taktisch spannendste des Turniers. Die überaus ungleichmäßig besetzten Polen und Tschechen standen vor der Aufgabe, ihre unrunden Kader in ein stringentes Spielkonzept zu überführen. Russland und Griechenland sind personell ausgewogener, haben aber taktisch ungewöhnlich klar definierte Ansätze.

Somit wird insbesondere dieser entscheidende dritte Spieltag noch ein Leckerbissen, sowohl was Spannung angeht, als auch aus der Taktik-Brille heraus. Alle Teams haben hier klare Vor- und Nachteile gegenüber ihrer Gegner, wie sich diese aber im Zusammenspiel auswirken und durchsetzen ist kaum abzusehen. Die psychologische Komponente der K.o.-Drucksituation wird die beiden Duelle noch verschärfen.

Jx 16. Juni 2012 um 22:41

Jetzt sind beide Spiele vorbei und Tschechichen und Griechenland sind weiter… Ich gehe stark davon aus, dass Deutschland im Halbfinale dann wieder auf ihren Gruppengegner treffen wird, denn keine der beiden Mannschaften hat mMn die Qualität, wirklich weiter im Turnier zu kommen.

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Luers 16. Juni 2012 um 22:57

Wie auch immer Deutschland in die Finalrunden einzieht (als Gruppenerster oder -zweiter) wird es frühestens im Finale wieder auf den zweiten Gruppenvertreter in derFinalrunde treffen. Der Halbfinalgegner kommt auf jeden Fall aus Gruppe C oder D.

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Tx 16. Juni 2012 um 23:20

Deutschland könnte frühestens im Finale erneut auf einen Gruppengegner treffen..

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Roberto78 16. Juni 2012 um 11:11

Anmerkung zu den obigen Spielständen: Die Tschechen haben Griechenland 2:1 geschlagen; nicht andersherum.

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Stoney 16. Juni 2012 um 09:52

Ok schön, ihr wollt nicht in die einzelnen Personaldebatten einsteigen, aber die Rosicky-Verletzung bestimmt nicht umsonst die Berichterstattung, auch taktisch würde sein Fehlen alles komplett umwerfen. Finde es schade, dass ihr bei so einer aktuellen Taktikvorschau die Aktualität vernachlässigt.

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MR 16. Juni 2012 um 10:51

„Ich gehe weiter davon aus, dass sie spielen können. Eine endgültige Entscheidung ist aber noch nicht gefallen“

Das ist wohl der neuste Stand. Von daher hab ich da jetzt mal nicht rumgerätselt.

Du hast aber natürlich recht, dass es ein wichtiger Faktor sein kann. Ich habe den Text daher mal um eine Anmerkung zu dem Thema ergänzt, danke.

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Wettinho 16. Juni 2012 um 09:10

Möchte nur zu Griechenland an merken, dass Sokratis aus Bremen seine Sperre abgesessen hat und wieder spielt. Dafür rückt Katsouranis wieder ins Mittelfeld, Fotakis muss raus.

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MR 16. Juni 2012 um 09:20

Oh, danke, hab ich ganz vergessen. Wurde das schon öffentlich bekanngegeben, dass Katsouranis (und entsprechend Maniatis?) im Mittelfeld spielen?

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Wettinho 16. Juni 2012 um 18:31

Öffentlich wurde es nicht bekannt gegeben, aber Katsouranis draussen zu lassen ist ungefähr so als würde Löw Schweinsteiger draussen lassen.
Bei Maniatis, bin ich mir zu 99%, dass er den Vorzug erhält.
Vor allem wird erwartet, dass heute mit 2 Sechsern vor der Abwehr gespielt wird (Maniatis und Katsouranis) dafür Karagunis etwas offensiver agiert als bis jetzt und weiter vorne spielt.

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