AC Milan – Inter 0:1
Spielerisch war es über weite Strecken alles andere als aufregend, doch taktisch konnte man dem Spiel durchaus einiges abgewinnen – Inter gewinnt das Mailänder Derby verdient, wenn auch knapp, mit 0:1.
Die rot-schwarzen Gastgeber von AC hätten mit einem Sieg die Tabellenführung übernehmen können und boten für dieses Unterfangen im obligatorischen 4-4-2-Raute bzw. 4-3-1-2 mit Pato neben Ibrahimovic große nominelle Offensivpower auf. Auf den Halbpositionen agierten Boateng und Nocerino, was Emanuelson den Platz als zentral-offensiver Bestandteil der Raute einbrachte – eine etwas überraschende Aufstellung.
Auf der anderen Seite hatte Inter-Trainer Claudio Ranieri vor der Partie verkündet, dass seine Mannen mit einem Sieg wieder voll im Titelrennen wären. Wie auch sein Gegenüber schickte er im Großen und Ganzen die seit Wochen gewohnte und gewohnt erfolgreiche Mannschaft auf das Feld (im Vergleich zum 5:0 über Siena ganz ohne Änderung), die sich in einem leicht asymmetrischen 4-4-2 aufreihte.
Diese Asymmetrie bestand darin, dass Ricardo Alvarez auf der linken Seite schematisch höher positioniert war als Javier Zanetti auf der anderen Seite, so dass es teilweise so aussah, als würden Zanetti, Motta und Cambiasso eine Dreier-Kette vor der Abwehr bilden, die je nach Situation von Alvarez entweder ergänzt, indem er sich links mit einreihte, oder quasi geschützt wurde, indem er davor agierte.
Inters Defensivorganisation
So kam es, dass Inter eine relativ mannorientierte Raumdeckung spielte, in der grundsätzlich jeder der drei genannten tiefer stehenden Mitglieder der Mittelfeldkette einen bestimmten Gegenspieler verfolgten – Zanetti vs. Nocerino, Motta vs. Emanuelson, Cambiasso vs. Boateng – und abdeckten. Dabei war man eben etwas disziplinierter als gewohnt, wenn eine Mannschaft derart abwartend und tief agiert wie die Gäste, was beispielsweise dazu führte, dass Motta Emanuelson auch dann verfolgte, wenn dieser sich zu seinen Innenverteidigern fallen ließ.
Alvarez hielt in dieser Aufgabenverteilung entweder ein Auge auf Abate oder half gegen die drei offensiveren Spieler der Milan-Raute mit, wodurch sich Motta oder Cambiasso mehr auf absichernde Aufgaben konzentrieren konnten. Dem eigenen Gegner wurde in den meisten Fällen nachgefolgt, allerdings wurde er bei geringem Abstand zum Teamkollegen übergeben.
In der Verschiebebewegung konnte man die Seitenwechsel der Rossonieri auf diese Weise ebenfalls gut neutralisieren, sofern sie denn konsequent von jenen gespielt wurden. In einer typischen Situation eines Spielzuges, der beispielsweise von rechts nach links auf den dortigen Außenverteidiger (Zambrotta) verlagert wurde, würde Zanetti ihn stellen und so anlaufen, dass Nocerino sich nach vorne-außen anbieten und freilaufen würde, damit aber von Maicon gedeckt werden könnte, während Motta und Cambiasso den Raum für Emanuelson und Boateng begrenzen und Alvarez immer noch als Absicherung auf der ballfernen Seite bereit wäre, wenn er auch defensiv mit der Zeit auch etwas nachlässiger und folglich für Chivu ausgetauscht wurde.
Milans Versuche und die Auswirkungen Mark van Bommels auf das Spiel
Im Raum zwischen den Mittelfeldspielern Inters und den beiden Spitzen Pazzini und Milito entstand durch diese Art der Verteidigung allerdings theoretisch ein großer Raum für Milans Sechser Mark van Bommel, welcher sehr stark ins Spiel eingebunden war und Zeit zum Aufbau hatte. Dies wurde von Inter allerdings toleriert, da die beiden Stürmer schon einmal durch ihr Stellungsspiel den Angriff und das Zuspiel auf van Bommel aus der Abwehr verlangsamten und zusammen mit der Mittelfeldkette ihn in diesem Raum praktisch isolierten und von vertikalen Anspielmöglichkeiten abschnitten.
Durch diese Maßnahme nahm man van Bommel nicht nur seine Optionen, sondern erzeugte in den gefährlichen Bereichen des Mittelfelds auch noch eine eigene Überzahl, die für die eigene Defensivstärke sorgte.
Auf diese Situation reagierte Milan mit einigen Rochaden, welche besonders die beiden Stürmer sowie Emanuelson betrafen, die oftmals auf die außen rochierten, während manchmal einer der beiden Halbspieler ins offensive Mittelfeld vorstieß, um das Spiel zu öffnen und die spezielle Deckung Inters auszuhebeln.
In einigen Fällen gelang dies auch und man kam zu Räumen zwischen den Linien oder hinter den gegnerischen Außenverteidigern im Raum zwischen ihnen und ihrem Innenverteidiger, doch diese Freiheiten konnten zwar auch einige nicht ungefährliche Chancen produzieren, allerdings kaum durch schnelle und sehenswerte Spielzüge, sondern eher durch individuelle Aktionen, Zufälle oder reine Gewalt.
Weiterhin ließ sich Ibrahimovic mehr und mehr in die Tiefe fallen und fungierte hier sowohl als Raumöffner als auch als Strippenzieher von Spielzügen, doch gerade Letzteres war trotz vorhandener Bemühungen zu wenig inspiriert und wurde in seiner taktischen Bedeutung für das Spiel von zwei anderen Komponenten in den Hintergrund gedrängt.
Durch die tiefe Stellung Zanettis konnte Linksverteidiger Zambrotta weiter aufrücken, was nach etwa 20 Minuten auch geschah und für konstante Breite (allerdings nicht in Form von Produktivität mit Ball) im letzten Drittel sorgte sowie insbesondere Nocerino und dem abdriftenden Emanuelson Raum im linken Halbfeld gewährte, welches immerhin zu einer kleinen Kreativquelle der Hausherren, in jedem Fall aber zu einem Aktivposten wurde – 42 % der Angriffe kamen über diese Zone.
Die zweite Komponente hieß nun Mark van Bommel, welcher den Spieß umdrehte – zunächst war er der taktischen Maßnahme Inters ausgeliefert, dann wurde er allerdings zur gefährlichsten Waffe, indem er seine Freiheiten nutzte und aus der Tiefe immer wieder mit nach vorne marschierte. Weil Inter sich weit hinten postierte, ergaben sich zwangsläufig mehr Räume für Distanzschüsse, welche von den unbewachten Vorstößen van Bommels exzellent ausgenutzt werden konnten – bei seinem Lattentreffer kurz vor der Pause hätte sich dieser Schlüsselaspekt fast gravierend ausgewirkt.
Inters Fokus auf die rechte Seite
Kehrseite des vorstoßenden Sechsers (bzw. wenn er außen für den Außenverteidiger sichern musste) waren natürlich immense Lücken im Mittelfeld bei möglichen Gegenangriffen, welche Inter mit einem Fokus auf die rechte Seite kombinierte. Einer der beiden Stürmer bewegte sich auf halbrechts in den vom aufrückenden Zambrotta frei gelassenen Raum und zog einen Innenverteidiger mit auf die Seite, der andere Stürmer blieb im Zentrum.
Bei Ballgewinn hatte man auf außen einen sofortigen Anspielpartner, welcher den Ball als Stürmer sehr gut halten und dann verteilen konnte – entweder auf Nachrücker oder in das verwaiste Zentrum auf seinen Sturmpartner oder einen anderen Kollegen. Von dort könnte man das Spiel mit vielen Optionen aufziehen und entweder auf die linke Seite spielen (wie beim Tor) oder wieder die rechte Seite mit dem nach vorne marschierenden offensiven Maicon.
Im geregelten Aufbauspiel wurde diese Dominanz der rechten Seite – über die 48 % der Inter-Angriffe liefen – noch deutlicher, da nicht nur Maicon offensiver spielte als Nagatomo, sondern auch Alvarez sich mehr zentral und rechts herumtrieb als auf halblinks. So bot er eine zusätzliche Anspielstation und man konnte einige nette Spielzüge kreieren, doch fehlte es an Alternativen in der Mitte oder halblinks und jemanden, der den letzten kreativen Impuls hätte geben können. Dies lag auch daran, dass Cambiasso dann nicht auf halblinks den Raum füllte, sondern zusammen mit Rollenverteilung mit Motta die Doppel-Sechs beibehielt, so dass sie sich die Seiten aufteilten und sich im Vorwärtsgang gleichrangig zeigten – doch Cambiasso hätte mehr Raum gehabt.
Milans Probleme im Angriff
Dass die Hausherren über weite Strecken harmlos blieben, muss natürlich der guten Leistung des Gegners (wenn dieser auch einige unsichere und wacklige Phasen im Spiel hatte) zugeschrieben werden, doch die langfristig andauernden Probleme Milans dürfen dabei nicht übersehen werden – besonders, weil sie bereits wiederholt zu erkennen waren.
Vor allem zu Beginn des Spiels war eine schlechte Staffelung in vorderster Front vorhanden, als die fünf Offensivspieler meist gar zu viert auf einer Höhe direkt bei der gegnerischen Abwehr standen und auf längere Bälle warteten.
Später spielte man dann immer deutlicher ein klein-klein im Zentrum, welches in manchen Szenen schön anzusehen, aber großteils ineffektiv war, da sich die isolierten und deshalb verstärkt fallen lassenden Stürmer zwar als Initiator von Spielzügen versuchten, aber somit zu weniger Gefahr im Strafraum beitrugen.
Gerade bei Pato und Ibrahimovic, später auch beim eingewechselten Robinho (mit dessen Einwechslung Allegri in der Theorie richtig lag, doch weder der Brasilianer noch Emanuelson als Linksverteidiger konnten wie erhofft wirken) war außerdem zu sehen, dass sie mit dem Ball am Fuß im Stand verharrten und dann eine entscheidende Aktion starten wollten – sinnbildlich für die Leistung Milans, denn so konnte aufgrund fehlender Verbindungen kaum ein richtiges Kombinationsspiel zustande kommen, sondern man vertraute vielmehr auf individuelle Klasse, 1-gegen1-Duelle, Tricks und Zauberei.
Fazit
Es sind diese Aspekte, die schon seit geraumer Zeit neben der fehlenden Dynamik die große Schwäche der Mannschaft sind und dann zu Spielen wie diesen hier führen. In solchen Fällen können individuelle Klasse, Physis und eine spielstarke Innenverteidigung diese Makel nicht mehr kaschieren.
Inter muss man für die eigene Leistung, welche gut, wenn auch bei weitem nicht fehlerfrei oder besonders ausgezeichnet war, ein solides Kompliment machen, da die richtigen Maßnahmen auch dank etwas Glück reichten, um drei Punkte von fremdem Platz aus dem eigenen Stadion zu entführen.
Damit ist das Titelrennen in Italien wieder offener denn je – Inter ist dabei, aber Milan und Juventus bleiben vorerst die beiden heißesten Anwärter.
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