(Fehl-)Urteile in der Fußballanalyse (1/3) – MH
Daniel Kahneman war einer der führenden Wissenschaftler der Psychologie unserer Zeit. Mit seinem Buch „Thinking, Fast and Slow“ veröffentlichte er umfangreiche Hintergründe aus seiner langjährigen Forschung. In diesem Artikel wird untersucht, wie sich Kahnemans und weitere verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse auf die (strategisch-taktische) Fußballanalyse anwenden lassen.
Kahneman wurde auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie bekannt. Er schaffte es gemeinsam mit seinem Kollegen, Amos Tversky, Erkenntnisse aus der Psychologie mit denen der Wirtschaftswissenschaften zu verbinden. Im Jahr 2002 erhielt er als erster Psychologe den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Seine Forschung stellt Grundannahmen in Frage, wonach der Mensch rationale Entscheidungen trifft und Verzerrungen im Denken hauptsächlich auf Emotionen zurückzuführen sind. Stattdessen vertrat er die Auffassung, dass systematische Denkfehler unsere Urteils- und Entscheidungsfindung maßgeblich beeinflussen. Diese systematischen Fehler, auch „Verzerrungen“ (Bias) genannt, treten in vorhersehbarer Weise unter bestimmten Umständen auf.
Dabei findet Kahnemans Arbeit auch Anwendung in medizinischen Diagnosen, der Rechtsprechung, der Auswertung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, der Philosophie, der Statistik sowie der Militärstrategie. Folglich liegt es nahe, Kahnemans Forschung auf die Analyse im Sport anzuwenden, da auch hier strategische Entscheidungen getroffen werden müssen.
„Jedem Autor, vermute ich mal, schwebt eine Situation vor, in der Leser seines Werks von der Lektüre desselben profitieren könnten. Ich denke dabei an den Kaffeeautomaten im Büro, vor dem Mitarbeiter Ansichten und Tratsch miteinander austauschen. Meine Hoffnung ist, dass ich den Wortschatz bereichere, den Menschen benutzen, wenn sie sich über Urteile und Entscheidungen anderer (…) unterhalten.“ – Daniel Kahneman; Thinking, Fast and Slow
Die reine Auflistung der systematischen Denkfehler reicht nicht aus, um Verzerrungen in eigenen oder fremden Entscheidungen erkennen und vermeiden zu können. Nur durch ein tieferes Verständnis der Entstehung und Wirkungsweisen kann der Wortschatz über Urteile und Entscheidungen im Sinne von Kahneman bereichert werden. Somit werden in diesem Artikel die Hintergründe und Mechanismen der Urteils- und Entscheidungsfehler beleuchtet.
Zu Beginn werden wir uns dem in der Wissenschaft anerkannten „Dual-Processing-Model“ widmen. Anschließend werden die Mechanismen von „WYSIATI“, „Substitution“ und „Priming“ im Fußballkontext vorgestellt. Zudem werden die wichtigsten Heuristiken und kognitiven Verzerrungen auf die Fußballanalyse angewendet. Am Ende werden individuelle Faktoren der Analyse vorgestellt, die Verzerrungen begünstigen. Dieser Artikel ist lediglich Teil 1 einer Artikelreihe, die sich über mindestens drei Aufsätze erstrecken wird. Die Serie wird sich mit fehlerhaften Urteilen bei der Analyse des Fußballspiels sowie deren Ursachen in einem wissenschaftlichen Rahmen der Verhaltensforschung beschäftigen.
Eine Sache möchte ich an dieser Stelle vorwegnehmen: Bias (und Noise) gibt es überall, wo Entscheidungen getroffen werden und betrifft somit auch Urteile von Experten auf ihrem Fachgebiet.
System 1 und System 2
Zum Verständnis menschlichen Denkens stellt Kahneman die beiden fiktiven Agenten System 1 und System 2 vor. Anhand dieser Theorie können Denkprozesse nachvollzogen werden. System 1 ist für das „schnelle Denken“ verantwortlich. Es arbeitet automatisch, intuitiv und weitgehend mühelos. System 2 wiederum ist für das „langsame Denken“ verantwortlich. Es arbeitet analytisch, bewusst und erfordert Anstrengung.
Diese beiden Systeme interagieren dauerhaft miteinander, wenn wir wach sind. System 1 läuft kontinuierlich und automatisch, während System 2 in einem energiesparsamen Modus läuft. System 2 übernimmt dadurch nur selten die Kontrolle. Normalerweise macht sich System 2 die Eindrücke und Intuitionen von System 1 zu eigen und akzeptiert die intuitive Antwort.
Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Systemen ist sehr effizient. Evolutiv gesehen lässt sie sich dadurch erklären, dass wir auf Gefahren schnell reagieren, allerdings auch planvolle, langfristige Überlegungen anstellen mussten. Somit entwickelte sich das automatische System 1 unter anderem zur Gefahrenabwehr sowie das energieintensive, aber seltener vollumfänglich genutzte System 2.
Allerdings wird besonders System 1 durch kognitive Verzerrungen beeinflusst. Aufgrund seiner Energiesparsamkeit ist es beschränkt in der Logik und Statistik. Teilweise neigt es dazu, komplexe Fragen durch einfachere Fragen zu ersetzen. System 2 wiederum neigt dazu, diese Fehler zu übernehmen, da es nicht immer die Ergebnisse von System 1 überprüft.
Die folgende einfache und intuitive Denkaufgabe verdeutlicht das Zusammenspiel von System 1 und System 2:
Team A hat 62 % Ballbesitz und gewinnt ein Spiel 1:0. Team B hat 38 % Ballbesitz und verliert. Welches Team war dominanter?
Natürlich war Team A dominanter. So wird es jedenfalls intuitiv den meisten Personen von System 1 nahegelegt. Es vernachlässigt allerdings die Fakten, dass Ballbesitz nicht unbedingt ein Gradmesser für Dominanz ist und Ergebnisse sehr ungenaue Leistungsmesser sind. Trotz fehlender Daten fügt System 1 die Frage zu einem kohärenten Bild zusammen. System 2 unterstützt eine falsche Lösung von System 1, die es mit geringfügiger Anstrengung hätte richtig lösen können. Es wird allerdings nicht bewusst aktiviert.
Daraus folgt, dass Menschen Denkabkürzungen – sogenannte Heuristiken – nutzen, um komplexe Probleme schnell zu lösen. Heuristiken sind aufgrund ihrer Effizienz meistens äußerst hilfreich, führen allerdings teilweise zu Fehlurteilen – sogenannte Biases. Hier entsteht auch die Relevanz für die Fußballanalyse, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird.
„Eine Heuristik ist, technisch definiert, ein einfaches Verhalten, das uns hilft, adäquate, wenn auch oftmals unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen zu finden.“ – Thinking, Fast and Slow
WYSIATI
Zunächst habe ich ein YouTube Video verlinkt, welches Sie sich anschauen sollten.
Auch wenn Sie das Video vielleicht bereits kennen, sind die Erkenntnisse daraus bemerkenswert. Zum einen lässt sich schlussfolgern, dass die Konzentration auf eine Aufgabe uns blind für andere Prozesse machen kann. Um zu sehen und sich zu orientieren benötigen wir ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Die eigentliche Erkenntnis des Videos liegt allerdings darin, dass wir nicht glauben können, etwas so offensichtliches übersehen zu haben. Für diejenigen, die den Gorilla bzw. den herausgehenden Spieler oder den die Farben wechselnden Vorhang nicht gesehen haben, ist es nicht vorstellbar, solche offensichtliche Ereignisse nicht erkannt zu haben.
„Wir können gegenüber dem Offensichtlichen blind sein, und wir sind darüber hinaus blind für unsere Blindheit.“ – Thinking, Fast and Slow
Projiziert auf unsere Fußballanalyse zeigt es einmal mehr, wie anfällig wir für Fehler sind. Wie sollen wir die Aufmerksamkeit auf sämtliche Ebenen der Fußballtaktik anwenden, wenn wir bei geringfügiger „Ablenkung“ nicht einmal einen Gorilla sehen? Wir entdecken gerade erst viele weitere Spieldimensionen als Orientierungspunkte zusätzlich zu der des Raums im Positionsspiel. Es werden nicht nur einzelne Situationen aufgrund fehlender „Aufmerksamkeit“ übergangen, sondern womöglich ganze Dimensionen und dessen sind wir uns nicht einmal bewusst.
Wir fallen erst auf die Nase, wenn wir ein Team mit unseren vorhandenen Werkzeugen nicht mehr analysieren können. Wir folgen unseren eigenen, subjektiven Überzeugungen in der Analyse und übersehen dabei andere logische Schlussfolgerungen, die sich ebenso auf Grundlage der vorhandenen Datenbasis hätten finden lassen können. Besonders interessant wird dieses Problem in unserer Beurteilung von „taktischem Risiko“.
Erinnern Sie sich an die oben gestellte Frage, in der Sie die Dominanz eines Teams anhand von Ballbesitzzahlen und dem Ergebnis beurteilen sollten. System 1 hat aus viel Ballbesitz und einem Sieg die beste Geschichte konstruiert, die es mit den vorhandenen Daten anfangen konnte. Was wurde allerdings nicht getan: Wahrscheinlich haben Sie sich nicht gefragt, was notwendig ist, um die Dominanz eines Teams authentisch beurteilen zu können. Wir sind blind für das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit nicht richten.
Voreilige Schlussfolgerungen auf beschränkter Datenbasis sind Grundlage für viele Heuristiken. Kahneman benennt diese Schlussfolgerungen als „What you see is all there is” (kurz: WYSIATI).
„Es ist leichter, alles, was man weiß, in ein kohärentes Muster einzupassen, wenn man wenig weiß.“ – Thinking, Fast and Slow
Dieser zentrale Mechanismus erklärt für uns, warum die Konsistenz der Informationen und nicht ihre Vollständigkeit das ist, was für unsere Überzeugungen maßgeblich ist. Leider interpretieren wir Informationen dementsprechend auch im Sinne unseres nach Kohärenz strebenden System 1. Kahneman erklärt, dass System 1 völlig unempfindlich ist für die Qualität und Quantität der Informationen, aus denen Eindrücke und Intuitionen hervorgehen. System 1 sucht nach kohärenten Informationen, während ein faules System 2 diese nicht überprüft.
„Sie wollten nicht mehr Informationen, die ihnen vielleicht ihre Geschichte verderben würde. WYSIATI.“ – Thinking, Fast and slow
Substitution
Zum Einstieg habe ich eine Frage vorbereitet, die zunächst beantwortet werden sollte:
Wie erfolgreich ist der Relationismus im Vergleich zum Positionsspiel in zehn Jahren in den Top 5 Ligen?
Die Antwort folgt am Ende des Abschnitts…
Um Aktionen und Abläufe interpretieren zu können, ist ein komplexes, mehrdimensionales Verständnis des Spiels nötig. In der Analyse stellen wir uns schwierigen Fragen, die wir auf mehreren Ebenen beantworten können. Häufig gibt es nicht die eine richtige Analyse, sondern mehrere Möglichkeiten, die zusammengenommen ein korrektes Bild zeichnen.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (vgl. Platon, Apologie 22d: „Denn von mir selbst wusste ich, dass ich gar nichts weiß.“)
Durch die Reflexion und die ständige Hinterfragung unserer Beobachtungen und Schlussfolgerungen kommen wir dem Ziel näher, das Spiel besser zu verstehen. Die Fähigkeit, zu akzeptieren, dass es immer wieder neue Perspektiven und Interpretationen gibt, fördert ein tieferes, vielschichtigeres Verständnis. Leider neigen wir Menschen bei komplexen Sachverhalten intuitiv zu anderen Denkmustern.
Kahneman erklärt, dass wir auch bei komplexen Fragen fast nie überfragt scheinen. Dabei können wir Antworten auf Fragen geben, die wir nicht einmal in Ihrer Vollständigkeit verstehen. Woran liegt das aber?
Heuristiken lassen sich, wie bereits oben erklärt, als Denkabkürzungen definieren. Leider müssen dementsprechend auch komplexe Fragen energiesparend beantwortet werden können. Wir neigen somit dazu, komplexe Fragen durch einfachere Fragen zu ersetzen. Dieses Konzept, welches hinter vielen Heuristiken steckt, ist die Substitution. Dabei bemerken wir häufig nicht, dass wir gerade eine komplizierte Frage ersetzt haben. Die Antwort auf die einfache Frage nutzen wir dann allerdings zur Beantwortung der komplexen Frage. System 1 strebt nach einer möglichst einfachen Beantwortung einer Frage, während System 2 aufgrund seiner Trägheit die Beantwortung nicht überprüft.
„Sie sind nicht überfragt, Sie müssen sich nicht sehr stark anstrengen, und Sie bemerken vielleicht nicht einmal, dass Sie nicht die Frage beantwortet haben, die Ihnen gestellt wurde.“ – Thinking, Fast and Slow
Besonders ausgeprägt ist das Konzept der Substitution, wenn Emotionen an der eigentlichen Zielfrage beteiligt sind. Die emotionalen Einstellungen verstärken den Effekt. Bei der sogenannten Affektheuristik (Urteile nach Emotionen) ist das Zusammenspiel von System 1 und System 2 besonders störanfällig. Im Kontext von Emotionen und Einstellungen dient System 2 nicht als Selbstkritiker, sondern als Befürworter der von System 1 vorgeschlagenen Beantwortung. Es sucht nach Argumenten, die die eigenen Überzeugungen unterstützen.
Kommen wir zurück auf die zu Beginn des Abschnitts gestellte Frage. Sehr wahrscheinlich haben Sie eine Antwort auf die Frage gefunden, wie erfolgreich der Relationismus in Zukunft sein wird. Anstatt allerdings die Zielfrage systematisch zu durchdenken, ist Ihnen intuitiv eine Antwort eingefallen, die Ihren Überzeugungen entspricht. Die Heuristische Frage, die Sie unbewusst beantwortet haben, könnte beispielsweise gelautet haben: Wie sehr mag ich Guardiolas Positionsspiel?
Anstatt nach Gegenargumenten gegen die intuitive Antwort zu suchen, haben Sie im Anschluss nach Argumenten gesucht, die Ihre Überzeugungen unterstützen. Um eine seriöse Zukunftsprognose geben zu können, wäre es eigentlich nötig, sich von Vorurteilen zu lösen und das Problem in seine Einzelteile zu zerlegen, um systematisch zu hinterfragen, in welchen Situationen das Relationsspiel dem Positionsspiel überlegen ist und in welchen Situationen es umgekehrt ist. Schließlich lassen sich die beiden Philosophien auch miteinander verbinden.
Es lässt sich festhalten, dass die Substitution zusammen mit WYSIATI zwei der wichtigsten Mechanismen des Zusammenspiels von System 1 und System 2 bilden, die hinter vielen systematischen Denkfehlern stecken. Im Folgenden Abschnitt wird ein weiterer Mechanismus vorgestellt, das Priming.
Priming
Priming ist ein grundlegender Mechanismus, der erklärt, wie wir beim Denken Informationen verarbeiten. Dabei spielt unser Gedächtnis eine zentrale Rolle – genauer gesagt: die Art und Weise, wie es Informationen miteinander verknüpft. Dieses Prinzip nennt man Assoziation.
Kahneman nutzt zur Erklärung der Assoziation eine Metapher: „Wie Kräuselwellen auf der Oberfläche eines Teichs breitet sich die Aktivierung durch einen kleinen Teil des riesigen Netzwerks assoziierter Vorstellungen aus.“ Bereits ein einzelner Reiz kann also ausreichen, um angrenzende Konzepte oder Erinnerungen unbewusst zu aktivieren.
Ein Priming-Effekt entsteht, wenn ein bestimmter Reiz – ein Wort, ein Bild, eine Situation, etc. – unbewusst bestimmte Inhalte im Gedächtnis aktiviert. Diese automatische Aktivierungskette beeinflusst, wie wir denken, fühlen oder handeln, ohne dass wir es merken. Das Gehirn legt dabei gewissermaßen Gedankenpfade im assoziativen Netzwerk an und erleichtert so das unbewusste Abrufen von Informationen.
Zur Verdeutlichung folgt hier ein einfaches Beispiel: „Wenn Sie vor kurzem das Wort eat (Essen) gesehen oder gehört haben, werden Sie vorübergehend das Wortfragment so_p eher als soup (Suppe) denn als soap (Seife) vervollständigen. Das Umgekehrte wäre der Fall, wenn Sie gerade wash (Waschen) gesehen hätten.“ – Thinking, Fast and Slow
Das Priming wird im Fußballkontext bereits gewinnbringend angewendet. Beispielsweise ist das Taktiktraining durch die Videoanalyse und der Anwendung einer entsprechenden Trainingsform eine Art des Primings. Durch die Darstellung von (Taktik)Videos in Mannschaftssitzungen bzw. der Nachstellung spielnaher Muster im Training können Spieler vorhandene Trainingsreize als bekannte Situationen im Spiel wiedererkennen und somit schneller und besser handeln. Das Trainieren von Entscheidungsverhalten unter Drucksituationen und Handlungsschnelligkeit lässt sich damit auf das Training durch den Priming-Effekt zurückführen. Die Form des Primings, in der eine Handlung durch eine Vorstellung beeinflusst wird, nennt sich ideomotorischer Effekt.
Ein weiteres Beispiel für diesen Effekt ist der „Florida-Effekt“. Zur weiteren Vertiefung habe ich hier die Studie von John A. Bargh, Mark Chen und Lara Burrows aus dem Jahr 1996 verlinkt sowie einen kurzen erklärenden Artikel.
Auch in vielen anderen Bereichen des Fußballs spielt Priming eine Rolle. Es kann sowohl absichtlich positiv genutzt werden, als auch unabsichtlich negative Effekte haben. Je nach Anwendungsbereich wird unterschieden zwischen verschiedenen Formen des Primings, wie dem semantischen Priming, Affektivem Priming, Goal-Priming und vielen mehr. Priming kommt im Fußball beispielsweise zur Verletzungsprophylaxe und Verletzungsrehabilitation zum Einsatz.
Es kann auch zur kognitiven Vorbereitung eines Spiels genutzt werden. Bei den sogenannten „Moments of Excellence“ rufen sich Spieler ihre besten Aktionen der Vergangenheit unmittelbar vor einem Spiel bewusst in Erinnerung. Besonders interessant finde ich die Anwendung des „Erfolgs-Primings“ des Trainers durch die Nutzung bestimmter Begriffe in der Ansprache unmittelbar vor einem Spiel. Anbei habe ich eine Studie aus 2006 von Stajkovic, Locke und Blair zu diesem Thema – der unbewussten Leistungssteigerung durch Zielaktivierung – als PDF verlinkt.
Auch Analysten unterliegen unbewusstem Priming. Ein Blick auf das Spielergebnis vor der Analyse primt die Erwartungen und verändert eine mögliche Herangehensweise hin zu dem Ziel, das Ergebnis in der Analyse erklären zu wollen, auch wenn dieses aufgrund seiner Ungenauigkeit als Leistungsindikator kaum Aussagekraft über die Dominanz eines Teams hat. Über das Priming im Fußball ließe sich aufgrund der Größe des Themas wohl auch ein eigener Artikel schreiben. In diesem Artikel werden die Grundlagen genutzt, um das Priming als Mechanismus hinter kognitiven Verzerrungen zu verstehen, die die Fußballanalyse betreffen.
„Sie wurden geprimt, Fehler zu finden und genau das fanden sie.“ – Thinking, Fast and Slow
Heuristiken und Kognitive Verzerrungen (Bias)
Zu Beginn der Einleitung erklärte ich bereits, dass Verzerrungen unseres Denkens und unserer Entscheidungen in vorhersehbarer Weise unter bestimmten Umständen auftreten. Sie sollten nun ein grundlegendes Verständnis dafür entwickelt haben, wie unser Denken durch die Zusammenarbeit von System 1 und System 2 gesteuert wird, wie dabei intuitive Urteile in der Analyse entstehen und wie Mechanismen wie WYSIATI, Substitution und Priming systematische Verzerrungen konkret in der Fußball Analyse begünstigen können. Im Folgenden werden die wichtigsten Heuristiken und kognitiven Verzerrungen für die Fußballanalyse untersucht.
Es wurden bereits ca. 200 kognitive Verzerrungen entdeckt. Statt jedoch, wie in vielen anderen Artikeln, lediglich eine lange Auflistung mit kurzer Beschreibung der Biases aufzuführen, verzichte ich bewusst hierauf. Eine reine Aufzählung hilft aus meiner Sicht kaum, diese Verzerrungen tatsächlich zu erkennen oder zu vermeiden. Daher konzentriere ich mich auf wenige, aber zentrale Biases, die besonders relevant für die Fußballanalyse sind. In Teil 2 dieser Reihe widmen wir uns weiteren Verzerrungen im Kontext der Selbstüberschätzung.
Assoziative Kohärenz und Confirmation Bias
„Kohärenz bedeutet, dass man im Allgemeinen eine bestimmte Interpretation übernimmt. Mehrdeutigkeit wird dabei tendenziell unterdrückt. Das ist Teil des Mechanismus, den wir hier beobachten: Ideen aktivieren andere Ideen – und je kohärenter sie zueinander passen, desto eher aktivieren sie sich gegenseitig. Dinge, die nicht dazu passen, werden beiseitegeschoben. Wir erzwingen eine kohärente Interpretation. Dadurch erscheint uns die Welt viel stimmiger, als sie tatsächlich ist.“ – Daniel Kahneman, Edge
Was Kahneman hier beschreibt ist die sogenannte assoziative Kohärenz. Die Verarbeitung subjektiv passender Informationen wird durch das assoziative Gedächtnis erleichtert, während die Verarbeitung unpassender Informationen erschwert wird. System 1 erzeugt somit ein zusammenhängendes (kohärentes) Muster aktivierter Vorstellungen im assoziativen Gedächtnis.
Dieses Phänomen führt bei der Analyse zwangsläufig zu Fehlurteilen. Uns sollte bewusst sein, dass unsere Analyse alleine niemals die Gesamtheit des Analyseobjekts erfassen wird. Die Analyse ist immer Ausdruck der Überzeugungen des Analysten und seiner aktivierten Vorstellungen im assoziativen Gedächtnis. Auch wenn System 2 bei Aktivierung gegensteuern kann, so wird es dennoch von System 1 beeinflusst. Das Konzept der assoziativen Kohärenz ist folglich eng verwandt mit WYSIATI und Priming.
Als Teil des Ausflusses von assoziativer Kohärenz lässt sich der Confirmation Bias sehen. Er beschreibt, dass wir dazu neigen, unsere Überzeugungen bestätigen zu wollen.
„Die Kohärenz der assoziativen Aktivierung induziert eine bestätigende Verzerrung, wenn Menschen eine Hypothese untersuchen, indem sie die Zugänglichkeit hypothesenkonsistenter Informationen erhöht. Zum Beispiel aktiviert die Absicht, die Aussage, dass ‚Sam freundlich ist‘, bevorzugt Beweise für Sams Freundlichkeit zu testen, während das Testen der Aussage, dass ‚Sam nicht freundlich ist‘, bevorzugt Fälle von feindseligem Verhalten hervorruft.“ – aus Associative Processes in Intuitive Judgement
Bei der Analyse neigen wir dazu, Informationen zu suchen, auszuwählen und zu interpretieren, sodass unsere Erwartungen bestätigt werden. Das trifft natürlich auf sämtliche Bereiche der Fußballanalyse zu. Es muss aktiv entgegen gesteuert werden, um mögliche Daten, die entgegen der eigenen Hypothese sprechen, nicht zu übergehen.
Anker
Zur vereinfachten Veranschaulichung der Ankerung beantworten Sie die folgenden beiden Fragen hintereinander.
Hat Christiano Ronaldo mehr oder weniger als 1200 Länderspiele in der A-Nationalmannschaft absolviert?
Wie viele Länderspiele für die A-Nationalmannschaft hat Christiano Ronaldo absolviert?
Sehr wahrscheinlich sind Sie zu der Einschätzung gelangt, dass Ronaldo weniger als 1200 Länderspiele absolviert hat. Vermutlich hat dieser Wert dennoch Ihre Einschätzung der zweiten Frage hin zu einer zu hohen Zahl gelenkt. Ronaldo hat (Stand März 2025) 219 Länderspiele absolviert.
Urteile orientieren sich oft an der zuerst gegebenen Information – dem Anker. Dieser verzerrt die Einschätzung in seine Richtung. Daniel Kahneman unterscheidet zwei psychologische Mechanismen, die diese Wirkung erklären.
- Ankerung als willentlicher Anpassungsprozess:
Dies ist eine bewusste, systematische Denkweise (System 2). Eine Studie von Tversky und Kahneman aus dem Jahr 1974 zeigte, dass Personen, die zuvor eine zufällig generierte Zahl (z. B. 65) gesehen hatten, anschließend höhere Schätzwerte für den Anteil afrikanischer Staaten in der UNO angaben als Personen, die eine niedrigere Zahl (z. B. 10) sahen. „Man geht von einer Ankerzahl aus, schätzt ein, ob sie zu hoch oder zu niedrig ist, und passt seine Schätzung dann nach und nach an, indem man sich mental vom Anker ‚wegbewegt‘. Die Anpassung endet in der Regel verfrüht, weil Menschen innehalten, wenn sie sich nicht mehr sicher sind, ob sie sich weiterbewegen sollen.“ – Kahneman - Ankerung als Priming-Effekt:
Hier wirkt der Anker unbewusst über Assoziationen im Gedächtnis (System 1). Mussweiler und Strack veröffentlichten im Jahr 2001 eine Studie, in der sie bezweifelten, dass Ankerung lediglich aufgrund unzureichender Anpassungseffekte entsteht. Der Anker als Priming-Effekt aktiviert einen bestimmten Vorstellungskomplex im Gedächtnis. Dadurch sind die Denkinhalte, die zum Anker passen, präsenter, und die Auswahlmöglichkeiten einer folgenden Antwort werden unbewusst in Richtung dieses Ankers verschoben. Beispielsweise werden bei der Vorstellung einer hohen Geldsumme und der anschließenden Bitte um Nennung von Automarken häufiger Luxusmarken erwähnt.
Der Ankereffekt wird in den meisten psychologischen Studien anhand numerischer Schätzungen gemessen und nachgewiesen, beispielsweise durch das Einschätzen von Preisen oder Wahrscheinlichkeiten. Solche quantitativen Urteile sind jedoch in der Videoanalyse im Fußball nicht direkt vorhanden. Um den Ankereffekt dennoch auf diesen Kontext zu übertragen, bietet sich ein Perspektivwechsel an: Richards J. Heuer Jr., unter anderem ehemaliger Analyst der CIA, untersuchte den Einfluss kognitiver Verzerrungen, einschließlich des Ankereffekts, auf qualitative Urteilsprozesse innerhalb der Intelligence Community. Heuer spricht in seinem Buch „Psychology of Intelligence Analysis“ bewusst nicht nur von bloßen Zahlenschätzungen, sondern von allen Arten fortlaufender Urteile oder Einschätzungen, die ein Analyst von Vorgängern übernimmt oder die er selbst sukzessive überarbeitet. Ein empirischer Nachweis über die Wirksamkeit von Ankereffekten in der Videoanalyse im Sport steht noch aus, allerdings ist eine Analogie über die Intelligence Community naheliegend.
Wie bereits oben beschrieben, sorgt das Spielergebnis für den Analysten als erste verfügbare Information für eine Art Anker. Ein 4:0 oder auch ein 2:1 sorgt dafür, dass wir der siegreichen Mannschaft eine taktische Überlegenheit attestieren und auf Grundlage dessen unsere taktischen Einschätzungen zu stark am Ergebnis orientieren.
„Wir sollten jedenfalls davon ausgehen, dass jede Zahl, die uns dargeboten wird, einen Ankereffekt auf uns hat (…).“ – Thinking, Fast and Slow
Ein weiteres Beispiel für einen Ankereffekt in der Videoanalyse lässt sich bei der Analyse mehrerer Spiele eines Teams finden. Das erste Spiel, das analysiert wird, legt eine Einschätzung der taktischen Herangehensweise des Teams fest. Im Laufe der Analyse muss der Analyst gegebenenfalls von seinen Einschätzungen abweichen, korrigiert allerdings nicht stark genug und orientiert sich hauptsächlich an den Erkenntnissen des Ankers. Es entsteht eine verzerrte Analyse hin zu dem Ankerspiel.
„Even when analysts make their own initial judgment, and then attempt to revise this judgment on the basis of new information or further analysis, there is much evidence to suggest that they usually do not change the judgment enough.” – Psychology of Intelligence Analysis
Es ist nicht überraschend, dass Menschen bei komplexen Sachverhalten nach Anhaltspunkten suchen – der Anker liefert genau diese Orientierung. Leider verzerrt er unsere Entscheidung in bestimmten Fällen. Mussweiler und Strack untersuchten in ihrer Studie „Overcoming the Inevitable Anchoring Effect: Considering the Opposite Compensates for Selective Accessibility” wie sich der Ankereffekt überwinden lässt. Das bloße Kennen des Ankers und des Effekts reicht leider nicht zur Vermeidung der Verzerrung aus. Stattdessen ist eine Strategie des bewussten Denkens des Gegenteils effektiv zur Verhinderung. Stellen Sie sich anstelle eines 4:0 Sieges eine 0:4 Niederlage vor und überlegen, wie Ihre Analyse stattdessen aussehen würde.
Outcome Bias
Der Outcome Bias beschreibt, dass Leistungen anhand ihrer Ergebnisse beurteilt werden. Er hängt dabei stark mit dem Prinzip der Ankerung zusammen. Das Ergebnis dient als Anker, der das Urteil in seine Richtung verschiebt.
Im Gegensatz zum oben genannten Beispiel der Verzerrung durch das Spielergebnis lässt sich der Outcome Bias auf sämtliche Formen von Ergebnissen anwenden. Das bedeutet: Einzelne Aktionen und Sequenzen der Spieler werden auf Basis ihres Erfolgs oder Misserfolgs bewertet – unabhängig von der tatsächlichen Qualität der Ausführung.
Ein Beispiel dafür ist eine erfolgreiche Pressingsequenz, die zu einem Ballgewinn führt. Aufgrund des positiven Ergebnisses wird das Pressing insgesamt als gut bewertet. Dabei werden weitere relevante Faktoren – wie etwa die Intensität, das Timing, die Gegnerreaktion, etc. – entweder gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.
Wird dieselbe Pressingsequenz in einer anderen Spielsituation erneut ausgeführt, bleibt der Ballgewinn jedoch aus. In diesem Fall wird das Pressing plötzlich als schlecht bewertet – obwohl die Ausführung identisch war. Diese Verzerrung zeigt, wie stark die Bewertung durch das Ergebnis beeinflusst wird, anstatt durch die Qualität der Handlung selbst. Sämtliche Aktionen des Spiels können in der Analyse dem Outcome Bias unterliegen.
Zur Verhinderung des Outcome Bias sollte der Bewertungsmaßstab angepasst werden. Anstatt das Ergebnis einer Leistung zu bewerten, sollte die Prozessqualität bewertet werden. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit zukünftig erfolgreicher Aktionen erhöht.
Verfügbarkeit
Die Verfügbarkeitsheuristik beschreibt eine kognitive Abkürzung, bei der Menschen Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen danach bewerten, wie leicht ihnen Beispiele dazu einfallen. Dabei wird die ursprüngliche Frage – Wie häufig tritt ein Ereignis auf? – durch eine einfachere ersetzt: Wie leicht kann ich mich an passende Beispiele erinnern? Dies ist ein typisches Beispiel für den Mechanismus der Substitution.
Für die Verfügbarkeit einer Aktion wichtiger ist nicht die Anzahl erinnerbarer Beispiele, sondern wie leicht uns diese einfallen – die sogenannte Abrufleichtigkeit. Ein paradoxes Beispiel zur Verdeutlichung der Wirkungsweise der Verfügbarkeitsheuristik zeigten Schwarz et. Al im Jahr 1991: Menschen sind weniger von einer Entscheidung überzeugt, wenn sie möglichst viele Pro-Argumente dafür nennen sollen. Dieser Ansatz spielt die beiden Faktoren Anzahl und Abrufleichtigkeit gegeneinander aus: Je mehr Argumente gefunden werden müssen, desto schwieriger wird der Abruf.
Im Kontext der Fußballanalyse kann diese Heuristik dazu führen, dass bestimmte Spielaktionen oder Muster insbesondere während des Spiels überbewertet werden. Prägnante, auffällige oder emotionale Szenen bleiben leichter im Gedächtnis und beeinflussen damit unsere Gesamtbewertung des Spiels – unabhängig davon, wie häufig oder relevant sie tatsächlich waren. Besonders großen Einfluss hat die Verfügbarkeitsheuristik auf unsere Wahrnehmung von Risiko (Teil 2).
Die für den Analysten leicht abrufbaren Spielszenen hängen zudem stark von seinen subjektiven Erfahrungen ab. Eine Vielzahl unterschiedlicher Eindrücke – etwa aus früheren Tätigkeiten, Spielen oder bevorzugten Spielphilosophien – prägt, welche Faktoren und somit Spielszenen bei der Analyse im Fokus stehen: Ein starker Bezug zu bestimmten Strategien, wie Überladungen im Ballbesitz, kann die Analyse verzerren, indem andere entscheidende Elemente, wie das Timing, vernachlässigt werden. Das liegt schlicht und ergreifend an der Komplexität und Vielfältigkeit, die der Fußball mitbringt. So begünstigen die persönlichen Erfahrungen subjektive Schlussfolgerungen aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik in Kombination mit WYSIATI.
Repräsentativität
Die Repräsentativitätsheuristik beschreibt Beurteilungen über Wahrscheinlichkeiten anhand der Repräsentativität als Maßstab. Die Repräsentativität steht dabei für Stereotype und Ähnlichkeiten. Eine Frage nach der Wahrscheinlichkeit erzeugt eine Substitution durch die nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern die Plausibilität beurteilt wird. Zur Verdeutlichung folgt ein Beispiel von Kahneman:
„Sie sehen in der New Yorker U-Bahn eine Person, die die New York Times liest. Welche der folgenden Aussagen ist eine bessere Wette über die lesende Unbekannte?
Sie hat einen Doktortitel.
Sie hat keinen College-Abschluss.“
Während die plausibelste Geschichte eine Wette auf den Doktortitel nahelegt, sollten Sie die Basisraten berücksichtigen. Aufgrund der Tatsache, dass mehr Nichtakademiker als Doktoren die New Yorker U-Bahn nutzen, sollten Sie auf den fehlenden College-Abschluss wetten. In diesem Beispiel werden Basisraten und Repräsentativität gegeneinander ausgespielt.
„Die Repräsentativitätsheuristik ist irreführend, wenn sie Menschen dazu veranlasst, Informationen über Basisraten zu vernachlässigen, die in eine andere Richtung weisen.“ – Thinking, Fast and Slow
Kahneman rät dementsprechend dazu, die Aussagekraft von Informationen zu hinterfragen und Urteile über Wahrscheinlichkeiten anhand der plausiblen Basisrate zu verankern. Zur weiteren Verdeutlichung der Relevanz im Fußball-Kontext folgt ein weiteres aktuelles Beispiel.
Zu Beginn der Saison 2024/25 setzte Bayern München auf ein aggressives, manndeckendes Angriffspressing. Diese Spielweise wurde stark kritisiert, vor allem aufgrund potentieller Konter-Gegentoren. Obwohl im internationalen Vergleich bereits einige Vereine (u.a. Atalanta Bergamo) seit mehreren Jahren erfolgreich mit Manndeckungen im Angriffspressing spielten, galt der Ansatz als untypisch in Deutschland. Die Manndeckung wurde in der Bundesliga seit den 1990ern durch die Raumdeckung bzw. Mischformen größtenteils verdrängt. Die Beurteilung der Münchner Manndeckung orientierte sich an historischen Prototypen der Manndeckung, insbesondere an Varianten mit Libero und somit struktureller Unterzahl. Obwohl die Manndeckung in einer völlig anderen taktischen Art und Weise umgesetzt wurde, erschien der Vergleich aufgrund der Ähnlichkeit plausibel und beeinflusste das Urteil über die Erfolgsaussichten.
Tatsächlich zeigten die Basisraten ein anderes Bild: Bayern dominierte die ersten Spiele in der Bundesliga, ließ den Gegner kaum zur Entfaltung kommen und konnte so die Torgefährlichkeit der Gegner stark reduzieren. Der Ansatz war statistisch äußerst erfolgreich: Aus den ersten 11 Spielen kamen 7 Gegner nicht über einen xG-Wert von 0,5, der Vorjahresmeister Leverkusen erreichte einen xG-Wert von 0,17 und lediglich 27% Ballbesitz.
Die Einschätzung des manndeckenden Angriffspressings wurde dennoch von der Repräsentativitätsheuristik verzerrt: Statt die tatsächliche Wahrscheinlichkeit des Erfolgs anhand objektiver Daten zu bewerten, wurde auf die Plausibilität des Erfolgs einer veralteten Spielweise zurückgegriffen. Dies zeigt, wie stereotype Vorstellungen zu Fehleinschätzungen führen können und wie entscheidend die Hinterfragung von Informationen in der Fußballanalyse ist.
Im Sinne der Vollständigkeit sollte ich noch erwähnen, dass einzelne Statistiken (Basisraten im Fußball) für sich noch nicht wirklich aussagekräftig sind. Allerdings kann die Kombination mehrerer Statistiken bzw. Daten ein aussagekräftiges Bild vermitteln, an dem man sich orientieren kann. Auch wenn beispielsweise die xG-Werte (als Kombination aus mehreren Daten) noch immer fehleranfällig sind und in den entsprechenden Kontext gesetzt werden müssen, geben sie über einen längeren Zeitraum durchaus Aufschluss über die tatsächliche Leistung.
Der Konjunktionsfehlschluss und „Weniger-ist-mehr“
Der Konjunktionsfehlschluss ist einer der kognitiven Fehler die sich aus der Repräsentativitätsheuristik ergeben. Er besagt, dass Menschen die Verknüpfung zweier Ereignisse als wahrscheinlicher beurteilen, als eines davon, sogar im direkten Vergleich. Die Voraussetzung ist, dass die Verknüpfung eine kohärentere und plausiblere Geschichte kreiert, als das einzelne Ereignis. Als eines der kontroversesten und bekanntesten Beispiele gilt das „Linda W. Problem“ von Kahneman und Tversky:
„Linda ist 31 Jahre alt, Single, freimütig und sehr intelligent. Sie hat Philosophie im Hauptfach studiert. Als Studentin interessierte sie sich sehr für Themen wie Diskriminierung und soziale Gerechtigkeit, und sie nahm auch an Anti-Atomkraft-Protesten teil.
Welche Alternative ist wahrscheinlicher?
Linda ist eine Bankkassiererin?
Linda ist eine Bankkassiererin und in der feministischen Bewegung aktiv?“
Entgegen der intuitiven Plausibilität, dass Lindas Eigenschaften besser zur feministischen Bewegung passen, ist die erste Option wahrscheinlicher. Schließlich ist die Verknüpfung zweier Ereignisse (Linda ist Bankkassiererin und in der feministischen Bewegung aktiv) unwahrscheinlicher als eines der Ereignisse (Linda ist Bankkassiererin).
„Die repräsentativsten Ergebnisse führen in Verbindung mit der Persönlichkeitsbeschreibung zu den kohärentesten Geschichten. Die kohärentesten Geschichten sind nicht unbedingt die wahrscheinlichsten, aber sie sind plausibel, und die Konzepte der Kohärenz, Plausibilität und Wahrscheinlichkeit werden von den Unbesonnenen leicht durcheinander gebracht.“ – Thinking, Fast and Slow
Das „weniger-ist-mehr-Muster“ von Christopher Hsee knüpft an diese Problematik an. Wer sich weiter einlesen möchte, dem habe ich hier die entsprechende Studie verlinkt. Es besagt, dass die Wahrscheinlichkeit des umfassenderen Ereignisses (bspw. Linda ist Bankkassiererin) höher sein muss, als die des Ereignisses, das in ihm enthalten ist (bspw. Linda ist Bankkassiererin und in der feministischen Bewegung aktiv). Das plausiblere Ereignis (weniger umfassend) wird allerdings als mehr wahrscheinlich beurteilt, als das unplausiblere, umfassendere Ereignis. Es entsteht das „weniger-ist-mehr“ Muster. Die Wahrscheinlichkeitseinschätzung für das detailliertere Szenario ist folglich höher, obwohl das der Logik widerspricht.
„Das ist die Falle für Prognostiker und ihre Kunden: Je detailreicher Szenarien sind, umso überzeugender sind sie, aber desto geringer ist ihre Wahrscheinlichkeit.“ – Thinking, Fast and Slow
Im Kontext der gegnerischen Teamanalyse für ein bevorstehendes Spiel muss dem Analysten bewusst sein, dass er der Prognostiker ist und Schätzungen der Wahrscheinlichkeit über die zukünftige Spielweise des Gegners abgibt. Somit sollte er nicht die Plausibilität von Ereignissen, sondern die Wahrscheinlichkeit bewerten.
Die Übertragung des „weniger-ist-mehr-Prinzips“ nach Hsee hat für den Analysten in diesem Kontext die Folge, dass detaillierte, plausible Spielszenarien zwar beeindruckend klingen, aber statistisch in der Vorhersage oft weniger zuverlässig sind als allgemeinere Beschreibungen. Jede zusätzliche Annahme in einer Prognose multipliziert die Einzelwahrscheinlichkeiten miteinander und verringert somit die Gesamtwahrscheinlichkeit einer zutreffenden Vorhersage.
Diese Annahme ist allerdings keine Aufforderung zu fehlender Detaildichte bei der Analyse des Gegners. Im Gegenteil, je detaillierter, genauer und allumfassender die Analyse ist, desto besser lassen sich daraus allgemeine Spielprinzipien, Abläufe und Verhaltensweisen des Gegners vorhersagen. Insofern gilt es für den Analysten, den Gegner möglichst nahe an seiner Gesamtheit zu analysieren, bevor daraus zur Wahrscheinlichkeitssteigerung der Vorhersage allgemeinere Aussagen getroffen werden können.
Individuelle Bedingungen verschiedener Analysen
Während ich in Teil 2 auf strukturelle Bedingungen des Fußballs eingehe, die die Intuition von Analysten-/ und Trainerexperten beeinträchtigen, werde ich in diesem Abschnitt auf individuelle Bedingungen verschiedener Arten der Analyse eingehen. Auch wenn ich in diesem Artikel von der Fußballanalyse im Allgemeinen spreche, sollte ich klarstellen, dass es verschiedenste Formen der Analyse im Fußball gibt (siehe Tabelle). Unterschiedliche Analysen haben auch unterschiedliche individuelle Ausprägungen der Fehleranfälligkeit für Verzerrungen.
Kategorie | Ausprägungen |
Zielstellung | Vorhersage (der gegnerischen Abläufe), Bewertung (Stärken-/ Schwächen Analyse), Optimierung (eigener Abläufe) |
Objekt | Spieler, Mannschaft, Spielszene, Matches |
Bedingung | Live, Pre-Match, Post-Match, langfristig |
Betrachtungsebene | Mikro/ Atomic Tactics, Individualtaktik, Gruppentaktik, Makro-/ Mannschaftstaktik, Strategie/ Spielphilosophie/ Spielprinzipien |
Datenbasis | Video, Trackingdaten, Statistiken |
Zielgruppe | Trainer, Spieler, Medien |
Gewisse Verzerrungen werden von bestimmten Arten der Analyse zusätzlich getriggert. Die Vorhersage ist beispielsweise besonders betroffen von der Repräsentativitätsheuristik, da es hier um die Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten geht. Eine Mannschaftsanalyse über mehrere Spiele sorgt für eine erhöhte Fehleranfälligkeit durch die Ankerheuristik und die Post-Match Analyse ist anfällig für den Hindsight Bias. Dieser besagt, dass wir im Nachhinein eines Ereignisses die Vorhersehbarkeit dieses Ereignisses überschätzen.
Ebenso sorgt der Fokus auf eine Betrachtungsebene für eine erhöhte Anfälligkeit durch WYSIATI. Die hier genannten kognitiven Fehler sollten Sie inzwischen kennen, weshalb Sie davon nicht überrascht sein dürften. Ein in diesem Artikel noch nicht behandelter Faktor, der nachweislich die Anfälligkeit für sämtliche Verzerrungen steigert, ist Zeitdruck. Nicht ausschließlich, allerdings in besonders ausgeprägter Art und Weise, spielt Zeitdruck bei der Live-Analyse eine große Rolle.
Der Zeitdruck zwingt Analysten zu schnelleren Entscheidungen. Die Forschung zeigt, dass unter solchen Bedingungen häufiger auf Heuristiken zurückgegriffen wird und sich die Fehleranfälligkeit erhöht. Unter anderem untersuchten Finucane et al. im Jahr 2000 den Einfluss der Affektheuristik auf die Bewertung von Nutzen und Risiko. Dabei bewiesen sie unter anderem eine Verstärkung bei der Bewertung unter Zeitdruck.
Analysten müssen sich somit insbesondere bei der Live-Analyse vermehrt auf ihre Intuition verlassen. Damit komme ich zu Teil 2, in welchem ich unter anderem Bedingungen, die zu einer erhöhten Anfälligkeit der Expertenintuition führen, identifizieren werden.
Fazit
Es sollte inzwischen klar sein, warum wir so tief in die Mechanismen der Heuristiken einsteigen. Ohne ein grundlegendes Verständnis der Funktionsweisen lassen sich Heuristiken und kognitive Verzerrungen kaum erkennen.
In der Sportanalyse lassen sich viele verhaltenspsychologische Erkenntnisse gewinnbringend anwenden. Das umfasst nicht nur Heuristiken und kognitive Verzerrungen, sondern lässt sich auch auf andere Gebiete der Fußballanalyse ausweiten. Um allerdings die Anwendungsgebiete hinreichend ausführlich behandeln zu können, wird es noch einen Teil 2, Teil 3 sowie falls nötig Teil 4 geben.
In Teil 2 werde ich auf das Thema der Selbstüberschätzung eingehen. Es werden unter anderem die Anfälligkeit von Expertenintuition sowie Risikostrategien bzw. Risikoeinschätzungen im Fußball untersucht. Außerdem werden Strategien zur Vermeidung von Verzerrungen in der Fußballanalyse vorgestellt.
In Teil 3 (und ggf. Teil 4) wird es um „Noise“ in der Fußballanalyse gehen. Im Gegensatz zu Bias bezeichnet Noise nicht die Verzerrung von Urteilen in eine bestimmte Richtung, sondern die unbewusste Streuung von mehreren Urteilen innerhalb identischer Entscheidungsbedingungen.
Fortsetzung folgt…
Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl. Auf X ist er unter Mh_sv5 zu finden.
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